Die neue Kollegin

Kapitel 1

Ich habe sie in einem kleinen Fahrstuhl kennengelernt. Personenaufzug Nummer zwei, Postamt 1, unmittelbar nach dem Frühdienst. Es ist kurz vor neun Uhr. Direkt neben dem Aufzug steht der beste Kaffeeautomat des Planeten. Ohne jeden Zweifel. Mit einem Becher Espresso in der Hand, drücke ich den Anmeldeknopf. Es summt, die Meldeglocke bimmelt, Schiebetür öffnet und ich kann die äußere Tür aufziehen. Doppelte Sicherheit. So ist das bei der Bundespost. Mehr als drei Menschen passen nicht hinein. Kollegen oder Kolleginnen mit Klaustrophobie nutzen diesen Fahrstuhl nicht. Die Außentür schließt, wird aber im letzten Moment wieder aufgerissen. Sie tritt in mein Leben, also in die Kabine.
»Kann ich mit?«
»Klar. Ich fahre in den dritten Stock. Personalbüro.«
»Muss ich auch hin. Vertrag unterschreiben.« Ihr Gesicht ist zur Steuertafel gedreht. Ich trete bis an die Rückwand, lehne mich an. Es ist warm. Draußen wie in der Kabine. Die Luft wird schnell stickig und nichts geschieht. Sie ist einen halben Kopf kleiner als ich, schlank, drahtig, braun gebrannt. Kurze, mittelblonde Haare. Ein bisschen zerzaust vielleicht.
»Ich drücke mal, oder?«, sagt sie und wählt den dritten Stock.
»Okay, hab ich ganz vergessen.«
»Wie ist der Kaffee?«
»Der Kaffee ist saumäßig gut. Allerdings habe ich Espresso. Der ist um Klassen besser.« Im Postamt habe ich sie noch nie gesehen. Weder im Briefabgang noch Briefeingang, noch sonst wo im Haus. Vielleicht eine Aushilfe.
»Dann sollte ich den mal probieren«, meint sie und dreht sich mir zu. Große, tiefblaue Augen sehen mich an. Schwer zu sagen, ob Augen wirklich lächeln können oder nicht, diese aber tun es. Und nicht nur das. Sogar verschmitzt grinsen, mich untersuchen, mein Gesicht abtasten, alles erfassen, sie öffnen sich geradezu, um mich in dieser engen Kabine einzufangen. Unwillkürlich schlucke ich zweimal. Oder dreimal, schlürfe Espresso und starre ebenso unverwandt zurück. Alles in ihrem Gesicht ist scharf geschnitten. Nase, Augenbrauen und ich wette, einen ähnlich sinnlichen Mund hat dieser Fahrstuhl noch nie transportiert. Dreimal Bimmeln, dritter Stock. Die Schiebetür ruckelt und quietscht sich in die Versenkung. An ihr vorbei drücke ich die Außentür auf. Stille auf dem Gang.
»Ich heiße Silvia, ohne ein Ypsilon.« Sie hebt die Hand, ich traue mich kaum, danach zu greifen. Tue es aber doch. Ein kräftiger Händedruck für so schmale Finger.
»Heinrich.«
Silvia lässt mich nicht los, zieht mich hinaus, dann erst löst sie den Griff. Ich entdecke an mir eine seltene Sprachlosigkeit. Keine Worte im Kopf.
»Also, Heinrich, ich muss zu einem Herrn Eberlein. Kennst du den?«
»Muss ich auch hin. Komm mit.«
Eberlein hat Briefe und Pakete unter sich, gibt Dienstpläne aus und kümmert sich um interne Versetzung, Entlassung oder Neuanstellung. Das Alltagsgeschäft erledigen Abteilungsleiter und Hauptdienste. Silvia hält Schritt, ich schlürfe wieder Espresso.
»Hässlicher Flur«, merkt sie an.
»Das stimmt. Alle Flure sind hässlich in diesem Gebäude. Die Büros sind hässlich, die Kantine ist hässlich, alles quietscht, rattert, knarrt und ist alt. Aber sie zahlen gut und die meisten Kolleginnen und Kollegen sind ganz okay.«
»Bist du Postler?«
»Nein. Ich habe als Aushilfe angefangen vor einem Jahr, dann Festvertrag und inzwischen überlege ich es mir.«
»Was?«
»Sie haben mir angeboten, nach drei Jahren Festanstellung in den Mittleren Dienst einzutreten. Schulische Voraussetzungen habe ich ja. Paar Prüfungen machen, dann Postler werden.«
»Was macht man denn im Mittleren Dienst?«
»Zum Beispiel Schalter, Postfächer oder Aufsicht, etwas in der Art.«
»Du überlegst … heißt so viel wie, du zögerst noch?«
»Ja, ich zögere noch.«
Wir erreichen Eberleins Büro, die Tür steht offen, das Telefon klingelt, dann ein zweites. Er flucht, nimmt das eine Gespräch an und hebt vom anderen Apparat den Hörer ab, legt aber gleich wieder auf.
»So kann man’s auch machen«, sagt Silvia.
»Eberlein ist speziell«, merke ich an.


»Immer rein!«, ruft er und winkt uns. Ungeachtet seines Telefongesprächs. »Alle beide!« Ich lasse Silvia den Vortritt und schließe die Tür hinter mir.
»Nein! Sie habe ich nicht gemeint! Wie auch? Wir telefonieren doch, oder? Sie stehen nicht vor meiner Tür! Nein! Hab ich nicht bekommen! Geben Sie den Krankenschein immer persönlich ab! Das ist Teil Ihres Vertrags. Schon gelesen?« Eberlein runzelt die Stirn. »Natürlich kann ein Verwandter das Ding auch bringen, wenn das Bein eingegipst ist … was soll die dämliche Frage?« Eberlein legt auf. Kein Wiederhören oder sonst was. Er schnauft durch, zündet eine Ernte 23 an und schaut auf die Seite, an die Wand. Aber da ist nichts, außer einem Kalender des Jahres 1981, ab Juni nicht mehr umgeblättert. Nach zwei oder drei Zügen drückt er die Kippe im Blumenkübel auf der Fensterbank aus. »Man hat es jeden Tag mit einer variablen Zahl an Idioten zu tun, stimmt’s, Heinrich?«
»In der Tat«, bestätige ich. Mit zwei Fingern klopft er einen Takt auf den Schreibtisch. Der zweite Apparat klingelt wieder. Er hebt ab und legt auf. Dann zieht er ein A3-Blatt unter einem der zahlreichen Stapel auf dem Tisch hervor, hebt es in meine Richtung und wedelt.
»Hier! Dein neuer Dienstplan. Aldinger hat jede Menge Ausfälle. Du musst für einige Zeit in die Päckchenstelle. Kann man nix tun.«
»Okay. Kein Problem.«
»Ja, ich weiß. Das ist ja das Problem.« Sein Blick fällt auf Silvia. »Und wer sind Sie? Gehören Sie zu ihm?«
»Nein. Ich soll mich heute bei Ihnen melden. Silvia Ketterer ist mein Name.«
Eberlein zündet eine neue Zigarette an, zieht ein paar Mal und legt sie dann in den Blumentopf. Aus einer Ledermappe nimmt er einen Stapel Papiere und liest, dann erhellt sich das Gesicht. »Ketterer … ja, hier haben wir Sie ja, Silvia. Noch nie bei uns gewesen. Hm …« Er nimmt den Hörer vom Apparat, wählt drei Zahlen, zieht an der Kippe und drückt sie aus. »Walter! Der Hans hier … du brauchst doch noch Leute, gell? Also ich schicke dir Heinrich, wie versprochen, ja … ja, heute. Und dann hätte ich noch ne junge Frau. Fängt heute an. Sie kann mit Heinrich in den Plan. Lass sie ein paar Tage mitlaufen, dann sehen wir, ob es passt. Wie? Klar, Walter, immer gerne. Adé.«
Eberlein öffnet die Ernte 23-Packung. Nur noch eine drin. Er fischt sie heraus, zerknüllt die Schachtel, wirft und trifft den Papierkorb. Ich schaue auf den Plan. Er hat mich in Tag eins eingetragen. Das bedeutet Nachtdienst, 21:00 Uhr bis 6:30 Uhr und morgen Abend ebenso. Umsonst aufgestanden heute Morgen.
»Ja, ich weiß«, sagt Eberlein und seufzt. »Zwei Tage Nachtdienst. Fahr nach Hause und hau dich aufs Ohr. Oder geh was trinken und hau dich dann aufs Ohr.« Er drückt mir einen Schlüssel in die Hand. »Hier! Geh zum Kopierer und mach einen Abzug für das Fräulein Ketterer.«
»Frau«, verbessert sie ihn.
»Na, mir egal, Fräulein, Frau, was auch immer. Jedenfalls müsst Ihr beide rüber zum Paketeingang. Sind ein paar Kollegen im Urlaub krank geworden.« Er verdreht die Augen und begutachtet Silvia von oben bis unten. »Sind Sie sicher, dass Sie hier bei uns arbeiten können?«
»Sind Sie sicher, dass Sie das anzweifeln wollen?«, haut Silvia raus und starrt ihn an. Eberlein schweigt, zieht die rechte Augenbraue hoch. Ich räuspere mich, mein Grinsen verstecke ich hinter dem Plan. Entweder er explodiert oder wird lachen. Eberlein lacht, setzt sich und legt die Papiere auf den Tisch.
»Na, Sie sind mir ja eine! Immer frei von der Leber weg, was? Gefällt mir. Unterschreiben Sie. Lesen Sie die Dienstvorschriften genau durch. Krankenschein persönlich abgeben. Heinrich zeigt Ihnen, wo es Sicherheitsschuhe gibt.« Er beugt sich nach links und sieht mich an. »Lass Sie diese Woche mit dir die Dienste machen, dann weiß Sie, um was es geht. Vielleicht kommen die Schnarchnasen bald mal aus Spanien zurück, dann schauen wir, wohin wir Sie stecken, Frau Ketterer.«
»Danke, Herr Eberlein.« Silvia hält ihm die Hand vor die Nase, er schaut drauf und greift zu.
»So! Jetzt aber raus. Ich muss arbeiten! Vergiss das Kopieren und meinen Schlüssel nicht!«
Draußen strecke ich mich ausgiebig, dann gehen wir in den Kopierraum, nehmen das Schloss ab. Ich mache zwei Exemplare, gebe Silvia eins, schließe wieder ab. »Geh schon mal zum Fahrstuhl. Ich bringe nur den Schlüssel zurück. Dann holen wir Schuhe.« Sie nickt, ist aber im 8-Tage-Plan der Päckchengruppe vertieft.
»Besonders hübsch sind die nicht«, stellt sie fest und dreht beide Exemplare nach allen Seiten. Wir stehen vor der Hauptpforte, ich hole eine Lucky Strike aus der Schachtel. Silvia sieht mich an. Offenbar raucht sie.
»Auch eine?«
»Gerne. Danke.« Ein schneller Griff und die Lucky ist zwischen ihren Lippen.
»Die Schuhe müssen ja nicht hübsch sein. Wichtig sind nur die Stahlkappen. Wenn dir eine Ameise über den Fuß fährt, wirst du dich bedanken.«
»Was ist eine Ameise?«
»Ein mechanisches Hebewerkzeug auf Rollen für Paletten.« Sie hebt die Augenbrauen und zündet die Zigarette an.
»Sinnvoller Name«, sagt sie und grinst.
»Ich gehe jetzt einen Kaffee trinken. Du kannst mitgehen, dann werde ich dir den Plan erklären.«
»Ich muss sparen. Dauert ja ein bisschen, bis der erste Lohn kommt.«
»Vergiss es. Ich lade dich ein.«
»Na gut. Wo gehen wir hin?« Das kam spontan. Jemand hupt. Ich ziehe Silvia an der Schulter neben das Pförtnergebäude, die Schranke wird geöffnet, drei Siebeneinhalbtonner verlassen den Hof und ein großer LKW fährt hinein. »Viel los hier«, merkt Silvia an.
»Jo, die drei kleinen Laster fahren zu den Landpostämtern. Pakete und Briefe hinten drin. Der Große kommt vom Paketeingang drüben am Bahnhof.« Sie zieht die Glut bis kurz vor den Filter und tritt die Kippe aus.
»Also gehen wir. Ich lasse mich überraschen.«


Wir sitzen an der Theke im Musikkeller, Kippen zwischen den Fingern. Walter stellt zwei Milchkaffee aufs Holz.
»Neue Freundin, Heinrich?«
»Neue Kollegin«, verbessere ich.
»So, neue Kollegin, na dann …«
Ein feistes Grinsen unterm Schnurrbart lässt Silvia lachen. »Sieht es nach mehr aus?«
Er zuckt mit den Schultern und trocknet weiter Cognacgläser. Bis auf einen Stammgast, sind wir die Ersten im Raum. Es riecht noch kräftig nach gestern Abend. Walter hat noch einiges an Arbeit vor sich. Kühlschränke auffüllen, jede Menge Packungen mit Scheibenkäse nach hinten räumen. Ich nehme den Zuckerspender und lasse einen Kaffeelöffel vom süßen Weiß in den Milchschaum rieseln. Silvia deutet auf den Käse. »Habt Ihr auch so was wie Frühstück?«
»Wir ham Baguette, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Kann man auch frühstücken.«
»Mit was drauf?«
Er seufzt. Bisher habe ich noch niemand um diese Zeit ein Ofenbaguette bei Walter essen sehen. »Also Käse wurde grad gebracht, wie man ja sieht, aber den Schinken habe ich noch nicht. Rüdiger kommt heute später. Gurke habe ich noch eine und zwei Tomaten, bisschen eingedellt. Willste eins?«
»Ich hätte gerne zwei.«
Walter stellt alle Tätigkeiten ein, sogar das Atmen. Es sieht zumindest danach aus. Ein wenig von unten raus schaut er Silvia an. »Du kommst aber jetzt nicht jeden Tag um diese Zeit und willst zwei Baguettes, oder?«
»Könnte schon sein«, erwidert sie. Walter wirft mir einen Blick zu, dann geht er nach hinten in die Küche.
»Um diese Zeit braucht er seine Ruhe«, erkläre ich ihr seine Reaktion. Stress ist nix für ihn.«
»Aber wenn die Bude abends voll ist, hat er noch mehr Stress. Wie schafft er das?«
»Wenn die Bude voll ist und die Flaschen sich leeren, dann ist das kein Stress. Getränke sind nie Stress. Es sei denn, du bestellst einen komplexen Cocktail. Außerdem überlässt er das Baguette machen seinen zwei Aushilfen.«
Silvia runzelt die Stirn. »Was ist denn ein komplexer Cocktail?«
»Vergiss es«, erwidere ich und schüttle den Kopf. »Die einzige Antwort wird sein: Sauf Whiskey. Ist eh gesünder. Er schafft es, eine gute Dröhnung hinzubekommen und das Übliche eben, Cola-Mixgetränke oder Korea.«
»Was ist Dröhnung?«
»Southern Comfort mit Cola und Zitronensaft.«
Sie verzieht das Gesicht. »Das kann man trinken?«
»Sehr gut sogar. Das einzige Getränk, das keine Kopfschmerzen hinterlässt bei mir.«
»Aha, na, man muss sich ja nicht die Kanne geben, dann hat man auch kein Schädelbrummen.«
Mehr als Nicken tue ich nicht. Wir schweigen, tauchen beide die Löffel in den Kaffee und rühren um, mehr als nötig. Der Schaum ist hellbraun. Silvia nimmt den Löffel heraus, schleckt ihn ab und trinkt. »Mh! Der schmeckt richtig gut.«
»Arabica direkt aus Italien. Walters Cousin arbeitet in Mailand und schickt einmal im Monat den Kaffee von dort.«
»Es ist gut, dass ich mit dir gegangen bin. Sonst hätte ich den Kaffee verpasst.« Sie holt den Plan aus der Gesäßtasche und legt ihn auf den Tisch. »Jetzt erklär mal, bitte.«
»Ist ganz einfach«, sage ich und entfalte das Papier. »Immer zwei Leute haben zusammen Dienst. Tag eins und zwei Nachtdienst, wirst du zwei, hast du am nächsten Tag frei, eins wird zu zwei und Tag acht rückt von hinten auf eins. Tage können aber unterschiedliche Uhrzeiten haben, deswegen stehen oben acht Wochen und links acht Tage. Tag fünf hat in Woche sechs den Samstag, also keine Doppelschicht, nur bis 14:30 Uhr und du bist alleine. Tag sechs in Woche sieben ist Sonntagvormittag bis 13:00 Uhr, unter der Woche bis 14:30 Uhr. Datum ist in dem Fall völlig unwichtig. Du musst nur deinen Startpunkt wissen, also heute mit mir Tag eins.«
»Ausgeklügelt«, sagt sie und nimmt den Plan in die Hand. »Und was muss ich tun?«
»Der Nachtdienst verteilt immer die ankommenden Pakete. Der Tagdienst erledigt die abgehenden Päckchen.«
»Aha. Deswegen Päckchengruppe.« Ich nicke. Walter kommt. Es duftet nach geschmolzenem Käse.
»Ein Baguette ist ein bisschen schwarz am Ende. War zu nahe an den Heizstangen. Hab’s abgekratzt. Ist okay, oder?«
»Klar, der Hunger treibt’s rein.«
Er legt ein säuerliches Gesicht auf. »Meine Baguette schmecken immer. Hab noch Knoblauch drauf geschnitten und ne Peperoni.« Silvia lacht. Walter merkt, dass sie ihn auf den Arm genommen hat, zieht die Augenbrauen hoch und da bleiben sie für ein paar Augenblicke. Ich muss an Oscar in der Mülltonne denken und grinsen. »Nur Kollegin, sagst du?«
»Nur Kollegin«, versichere ich ihm. Walter schüttelt den Kopf. Silvia beißt genüsslich ins Brot, kaut, trinkt einen Schluck und sieht mich an.
»Ich muss dich noch was fragen. Vorhin hast du gesagt, es wäre kein Problem, woanders zu arbeiten, und er meinte: Ja, das wäre ja das Problem. Das habe ich nicht kapiert.«
»Das ist schnell erklärt. Je mehr du kannst, desto mehr wirst du hin und her geschoben.«
»Also ist es besser, sich dumm zu stellen?«
»Da kenne ich mich aus«, sagt Walter und holt eine Ladung Gläser aus der Spülmaschine. Wir lachen. Silvias Augen lachen.