Des Messers Schneide

Kapitel 22

Dieses Jahr hat etwas an sich, dass ich nicht fassen kann. Die Menschen vegetieren vor sich hin, fühlen sich ekstatisch im Bad der Einsamkeit. Geborgen im Alleinsein. Als wäre das eine besondere Auszeichnung. Das ist es nur für die Wenigsten. Ob ich einer dieser Wenigen bin oder sein werde, habe ich noch nicht herausgefunden. Jedenfalls bin ich intensiv eingestiegen in dieses Lebensmodell. Damals, als kleiner Heinrich mit erwachendem Bewusstsein, ahnte ich, dass diese Welt nichts für mich ist. Sie war es offensichtlich auch nicht für Walze, für Albert. Am Dienstag wurde er beerdigt. Viele Kollegen waren anwesend, mich eingeschlossen. Multiples Organversagen. Klingt interessanter als es ist. Der Letzte macht das Licht aus, so in etwa wird es in Walze ausgesehen haben. Vielleicht war er auch froh drum, hat das weiße Licht begrüßt, die Wärme. Das ganz Besondere war der Leichenschmaus, abgesehen vom schlechten Kaffee in einem noch schlechteren Café, saßen an den Tischen die nächsten Kandidaten. Gevatter Tod ging hinter uns vorbei und schnupperte am Nacken seiner baldigen Kundschaft. In diesem Café, bei miesem Käsekuchen, stand es in klaren, großen Buchstaben vor meinem inneren Auge: Ich muss das Ende finden, sonst kommt das Ende zu dir.

Alexander arbeitet wie ein Wilder, so seine Erzählungen, was ich ihm glaube. Allerdings sehen wir uns nicht mehr sehr oft. Ich kann mir vorstellen, an was das liegt: am Geruch. Kurz vor meinem Urlaub habe ich ihn nach diesem Geruch gefragt. Er wurde rot. Eine Mischung aus Formaldehyd, Ethanol und noch einigen anderen Düften. Seither telefonieren wir nur noch. Meinen Anfragen bezüglich zum Spanier gehen, weicht er aus. Ich habe bei Douglas Davidoff Zino gekauft, einpacken und an seine Adresse als Geschenk verschicken lassen. Gruß an den Kollegen im 14er … genutzt hat es nichts. Ein Anruf beim Hauptfriedhof bestätigt, dass er genau in diesem Moment anwesend ist, aber keine Zeit hat, um an den Hörer zu kommen.

Jetzt ist es Montagmorgen, der erste Urlaubstag und ich habe das Telefon auf dem Küchentisch, eine Tasse Espresso vor mir, die Lucky in der rechten Hand. Die Telefonnummer des Seeblick im Kopf. Sara öffnet um neun Uhr. Pünktlich mit dem Minutenzeiger auf der Zwölf, wähle ich die Nummer. Sie geht dran.
»Sara, ich bin’s, Heinrich.«
»Heinrich! Ist es so weit? Hast du Urlaub?«
»Ich fahr in einer Stunde los.«
»Scheiße, ich freu mich!«
»Ich mich auch.«
»Fahr vorsichtig!«
»Klar. Immer.«
Wir legen auf. Natürlich freue ich mich. Gelogen habe ich nicht. Doch wir reden von unterschiedlichem Freuen, da bin ich sicher. Sie ist ein angenehmer Mensch, aber in meinem Herz wohnt immer noch Silvia. Sara hat in ihrem Herzen Platz gemacht für mich und wartet darauf, dass ich einziehe. Das kann ich nicht.
Hinter der Tasse liegt der Füller. Ich stecke ihn in die Hemdtasche, trinke den Espresso leer, spüle die Tasse aus und stehe auf. Alle Lichter sind aus, Kühlschrank so gut wie leer, die Triumph-Adler abgedeckt. Mit dem Rucksack über der Schulter gehe ich aus der Wohnung, klingle beim Nachbar, gebe ihm den zweiten Schlüsselbund und die Erlaubnis, alle Post aus dem Briefkasten zu holen. Wenn etwas von einem Amt dabei ist, kann er mich unter der Friedrichshafener Nummer erreichen. Alle seine banalen Fragen beantworte ich mit Ja oder Auf jeden Fall.

300 Kilometer fahren und sich an keinen Meter erinnern, das kommt nicht oft vor. Schon beim Ausparken in Pforzheim, wusste ich, welches Ziel ich ansteuere: Silvia ehemalige Adresse. Jemand anderes ist eingezogen. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Dann also der Parkplatz des Norma. Zum Seeblick, ein echter Euphemismus. Sara füllt den Kühlschrank mit Apfelsaft und Sprudel, ich strecke mich übers Thekenholz.
»Da bin ich«, sage ich. Kurz nur stutzt sie, kneift beide Augen zusammen und wäre fast über den halb leeren Kasten gestolpert, so eilig hat sie es, springt an mir hoch, ungeachtet der fünf Gäste, die das registrieren, aber zu keiner Regung fähig sind.
»Heinrich … endlich!«
»Hallo, Sara. Wie geht’s dir?«
»Jetzt wieder besser.«
Ich möchte lächeln, komme aber nicht weit. Ihre Lippen kommen mir zuvor, eine wilde Zunge sucht nach Leben in meinem Mund und findet es. Sara kann wirklich gut küssen. Es ist nicht die Kopie eines Hollywood-Films, es kommt direkt aus ihrem Herzen. Ich setze sie auf einem Barhocker ab.
»Wie lange bleibst du?«
»Ich kann die ganzen zwei Wochen bleiben, wenn du möchtest. Wenn mir die Klamotten ausgehen, kaufe ich hier ein paar neue.«
»Zwei Wochen …«
»Ich koche, mache Frühstück und Abendessen, und immer dann, wenn deine Cousine Zeit hat, gehen wir an den See oder fahren nach Lindau oder Bregenz, wie du möchtest.«
»Wie ein verliebtes Pärchen …«
»Was wir ja auch sind.«
Sie nickt, rutscht vom Stuhl und gibt mir den Schlüssel. »Hier, bring deine Sachen hoch. Oben steht noch Obstsalat im Kühlschrank.«
»Ich trage den Rucksack hoch, komme wieder runter und helfe dir ein bisschen. Wie wär’s?«
»Sara! Krieg ich noch eins?!« Einer der Gäste ist wach geworden.
»Kommt gleich!«
Ich nehme den Schlüssel, streiche über Saras hochgesteckte Haare und gehe zum Opel.


»Hat deine Cousine keine Familie? Kinder? Oder einen Job? Sie hilft dir ziemlich viel, oder?«
»Pauline … ja, ohne sie würde ich das hier nicht schaffen. Sie ist eine Seele von Mensch. Und nein, sie hat keine Familie, nur mich«, sie sieht durch mich hindurch. »Eltern hat sie noch, aber die sind fertig mit ihr. Oder sie mit ihnen. Onkel Gustav und Tante Waltraud, schreckliche Menschen. Haben Pauline ins Kloster gesteckt. Sie dachten, die Tochter schützt man am besten im Kloster vor der bösen Welt.«
»Aber sie ist nicht freiwillig rein, oder?«
»Doch, ist sie. Da war sie noch auf Linie.«
»Auf Linie … das hört sich gut an.«
»Na ja, das hier ist Oberschwaben. Da ticken die Uhren anders.«
»Aber sie ist offenbar nicht auf Linie geblieben.«
»Immerhin knappe zehn Jahre. Dann hatte sie die Nase voll von Gott, frühem Aufstehen, putzen, kochen, waschen, beten und nur klammheimlich masturbieren.«
»Verstehe. Kann ich nachvollziehen. Dann ist sie ausgebüxt.«
»Sie hat einen Handwerker kennengelernt, der hin und wieder im Kloster Aufträge ausführte. In den hat sie sich verliebt und er versprach ihr den Himmel auf Erden.«
»Lass mich raten: Das ging in die Hose.«
»In der Tat. Jetzt jobbt sie halbtags in der Bäckerei. Die Wohnung gehört dem Bäcker. Ab und zu darf er mal zwischen ihre Schenkel, dafür hat sie eine günstige Miete und gut bezahlte Arbeit.« Sara sitzt auf mir, legt sich auf meine Brust, den Kopf unter meinem Kinn. Mit den Fingerspitzen streiche ich ihren Rücken hoch und runter. »Erzähl mir von Pforzheim. Von der Post oder diesem Alexander, der plötzlich aufgetaucht ist.« Sara stützt sich ab, zieht Shirt und BH aus, mir das Hemd, dann legt sie sich wieder auf mich. »Nimm beide Hände. Streichel mich.«
Das tue ich, gebe mir wirkliche Mühe und achte auf jedes Geräusch, jedes Zucken und Vibrieren. Sie hat es verdient. Ich empfinde sehr viel für sie. Ich bin verliebt, ohne Zweifel. Aber sie ist nicht die andere Hälfte. Etwas fehlt. Oder ich bin nicht die andere Hälfte. Mir fehlt etwas. Aber sie ist eines auf jeden Fall: ehrlich. So erzähle ich von Alexander, aber nicht was ist, sondern was war. Dass wir uns am ersten Tag in der Grundschule kennengelernt haben, nebeneinander saßen. Er kaum bei mir war, weil er nicht durfte, ich nur wenig bei ihm, denn sein Vater war ein Vulkan auf zwei Beinen. Immer eine volle Magmakammer im Bauch. Unberechenbar. Also spielten wir meist draußen. Doch draußen waren die großen Jungs, deren Pisse wir trinken mussten, die uns Äste und Stöcke in den Hintern steckten und hin und wieder auch ein Glied, wenn sie schafften, dass es steif wird. Sara lauscht. Sie atmet kaum, zittert. Ich breite die Decke über uns aus. Dann ist da noch die Schuld, die Alexander mit sich herumträgt. Als sie ihn zwangen, mir den Stock in den Hintern zu stecken. Mir, seinem Freund. Dass ihn dieses Gewicht seither in den Boden zieht, am Atmen hindert.
»Bist du wütend auf ihn?«, kommt es leise von Sara.
»Nein. Weder damals noch heute. Nie war ich das. Ich war nur wütend auf diese Kerle. Aber ich glaube, in Alexander ist dieses Gefühl von Schuld Eisen geworden. Ich bezweifle, dass er es je los wird.«
»Das kann ich verstehen. Aber was war denn mit deinen Eltern? Gab es da niemand?«
»Ich oder wir wurden fast wöchentlich verprügelt. Mitten auf der Straße. Pisse trinken, mitten auf der Straße. Ich bin sicher, das wurde beobachtet. Meine Mutter hat den ganzen Tag gearbeitet, mein Vater war beschäftigt mit seiner Arbeit, den Kumpels, dem Alkohol und zocken. Ich war bei meiner nicht mehr so fitten Oma. Nur einmal kam sie, als fünf Jungs auf uns losgingen. Sie wurde ausgelacht, verhöhnt, von ihnen umkreist … nun ja, ich bin auch hier sicher, dass einige hinter den Gardinen waren und das beobachtet haben.«
»Heinrich?«
»Hm?«
»Bitte hör auf zu erzählen. Ich kann nicht mehr.«
»Entschuldigung. Das war nicht meine Absicht.«
»Nein, nicht entschuldigen.« Die Uhr auf dem Tisch zeigt kurz nach Mitternacht. Sara liegt still. Ich spüre ihren Busen, die warme Haut. Das Haar riecht noch nach Seeblick. »Hast du das schon mal jemand erzählt?«
»Nein, du bist die erste.«
»Danke. Wirklich, das meine ich ernst.«
»Ich weiß, dass du es ernst meinst. Ist schon seltsam. So vielen hätte ich das erzählen können und hab es nicht gemacht. Dich kenne ich kaum und es läuft einfach raus.«
»Du vertraust mir. Und ich dir. Mehr braucht es manchmal nicht.«
»Ja, Vertrauen, das hat Seltenheitswert. Gehen wir ins Bett? Ich bin müde. Wir haben noch genug Zeit.«
»Klar. Aber ich habe meine Tage und da will ich meine Ruhe. Ist das okay?«
»Ist okay. Wir halten uns einfach fest.«


Manchmal schauen die Menschen uns etwas länger nach oder tuscheln. Sara ist eine schöne Frau, ungezwungen, hat Tiefgang, denkt um ein paar Ecken, urteilt zurückhaltend, ist neugierig und sehr erfahren, aber man sieht ihr die 43 Jahre an. Eine Kneipe zu haben ist etwas anderes als einen Beauty-Salon. Zigaretten, Alkohol, die trockene Luft, das zehrt am Körper. Und sie ist zäh, oder besser: abgeklärt. Was sie sich für Geschichten anhören muss den lieben langen Tag, erfordert schon eine gehörige Widerstandskraft. Im Grunde hat sie viel von Walter. Außen rauh, innen ein sanfter Jadestein. Und dass ich noch keine 43 Jahre auf dem Buckel habe, ist ersichtlich. Junger Kerl angelt sich reife Frau, so stünde es im Boulevard. Oder umgekehrt. Je nach Leserschaft. Mir ist das egal und ihr ebenso. Dass es uns beiden so egal ist, dass es uns gefällt, was wir tun, miteinander schlafen ohne Hast, ohne dass wir uns beweisen müssen, bringt mich auf die Idee, an den Bodensee zu ziehen. In Friedrichshafen ist die Arbeitsmarktlage gut. Große Firmen, grenznah, viele Touristen, der Plan nimmt Gestalt an.

Am vorletzten Tag der zwei Wochen sitzen wir abends im Eiscafé an der Seestraße. Sara hat ein orangefarbenes Jutekleid an, leicht gewebt. Sie ist braun gebrannt vom Solarium neben dem Seeblick, trägt etwas Lippenstift, ein dunkles Violett, die Haare fallen in Wellen über die Schulter und enden knapp über dem Busen, dessen dunkle Warzen durchs Leinen schimmern. Ich habe die RayBan auf dem Kopf, Bermudas an und lehne an der Glasfront. Die Menschen ziehen vorbei. Da sind sie die Blicke. Manche bewundernd, andere stirnrunzelnd. Ich komme mir vor wie der lokale Pate, der die reifen Häschen mit sich führt und grinse unentwegt. Vielleicht sollte ich wie Don Corleone mit halb geöffneter Handschale königlich winken. Die Menschen sehen sowieso, was sie sehen wollen. Jede Erklärung ist überflüssig.
»Wir sind ein schönes Pärchen«, stellt Sara fest.
»Und vor allen Dingen ein interessantes Pärchen. Die Leute wissen nicht, was sie von uns halten sollen.«
Sie lacht. Ich mag es sehr, dieses Lachen. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, ihr meine Gedanken mitzuteilen.
»Knapp zwei Wochen bin ich jetzt hier und es war der schönste Urlaub meines kurzen Lebens.« Ich nehme die Brille ab und sehe sie an. Sara beugt sich vor, die Unterarme auf den Schenkeln.
»Und?«
»Ich muss seit langem entscheiden, wohin ich gehen soll. Prüfungen bei der Post, okay, bestanden. Also warte ich auf die Übernahme. Aber … will ich das?«
»Willst du?«
»Nein. Will ich nicht.«
Ihre Augen werden groß. Noch größer als sie schon sind. Über die Farbe der Pupillen habe ich mir in den letzten Tagen den Kopf zerbrochen. Nicht braun, aber auch nicht grün oder grau.
»Was willst du dann?«
»Mit dir zusammensein. Hier, in Friedrichshafen.«
»Krieg ich mal deine Brille?«
Ich gebe sie ihr, Sara zieht sie auf und lehnt sich an. Nicht nur sie hat einen Platz in ihrem Herzen für mich, auch ich habe Platz für sie freigeräumt. Es wurde Zeit. Sara schnieft, ein paar Tränen laufen unter der RayBan hervor, die braunen Wangen hinab. Ich gehe zahlen.


Die Würfel sind gefallen. Den Rubikon habe ich überschritten und Sara hat einen großen Anteil daran. Ich bin tatsächlich verliebt. Eine Woche werde ich für die Abwicklung sicher benötigen. Je schneller, desto besser. Kündigung, Arbeitsamt, Sperrfrist bekommen, meinem Vermieter noch sechs Wochen die Miete zahlen, Stadtwerke, der ganze Ablaufplan läuft wie ein Film vorwärts und rückwärts durch meinen Kopf, während ich auf der Autobahn gemütliche einhundert fahre. Auf dem Konto habe ich genug. Kein Kunststück, wenn man kaum was ausgibt und bei der Post Schicht arbeitet. Gegen Mittag komme ich nach Hause. Es ist Freitag. Der Anrufbeantworter blinkt. Eberlein fragt, ob ich auch wirklich am Montag den Dienst antrete, denn er würde mich wieder als Hauptdienst einsetzen. Eine Versicherung will mir ein Rentensparprogramm verkaufen. Und ein Herr Schäufele vom Friedhof hat angerufen. Er hätte einen Briefumschlag mit einem Namen und einer Telefonnummer, die er jetzt gerade anruft, aber da niemand abhebt, soll dieser Jemand zurückrufen unter seiner Nummer. Ich notiere sie. Er sagt, es sei dringend. Ein Herr Schäufele vom Friedhof … der Friedhof wird vom Landzusteller versorgt. Landzusteller sind diejenigen, die alles am Stadtrand anfahren. Schrebergärten und einsame Straßen. Ich wähle die Nummer. Eine Dame nimmt ab.
»Konstantin, hallo. Ein Herr Schäufele hat mich angerufen. Es läge ein Brief mit meinem Namen und meiner Telefonnummer bei ihnen. Ich solle dringend zurückrufen. Ist er da?« Sie ist einen Moment still. Papier raschelt.
»Ah ja, könnten Sie denn vorbeikommen? Er sagte, er wolle das so schnell als möglich vom Tisch haben.«
»Kann ich schon, aber mich würde interessieren, um was es geht? Hat es was mit Alexander Colmar zu tun?«
»Kommen Sie einfach«, sagt sie und legt auf. Einen Moment lang schaue ich auf den Hörer. Dauerton, dann wechselt er zum Besetztzeichen. Seufzend lege ich auf, nehme Schlüssel, ziehe die Schuhe wieder an und klingle beim Nachbar. Er fragt, wie der Urlaub war. Ganz hervorragend. Danke für das Herausholen der Briefe. Auf dem Weg zum Opel schaue ich kurz, wer was von mir will. Rechnungen, Werbung, unnötiger Kram.

Die Dame wartet schon. Sieht aus, als säße sie auf glühenden Kohlen.
»Hallo, ich bin der Anrufer. Heinrich Konstantin mit der Nummer 54433.« Sie streckt die Hand aus.
»Darf ich Ihren Ausweis sehen?«
»Klar, dürfen Sie, aber ist ungewöhnlich, oder?«
»Bei uns hier ist nichts ungewöhnlich. Das ist ein Friedhof. Also, bitte den Ausweis.« Diskutieren zwecklos. Ich gebe ihr den Ausweis. Dreimal vergleicht sie das Foto mit meinem Gesicht.
»Keinen Bart mehr, wie Sie sehen. So finde ich mich schöner.« Mein Witz erzeugt keine sichtbare Reaktion. Er rutscht einfach unter ihren Stuhl. Sie holt einen Umschlag aus der Schublade, dazu ein Formular.
»Sie müssen hier unterschreiben, dass wir Ihnen den Brief ausgehändigt haben. Eine Kopie des Formulars sollten Sie mitnehmen.« Jetzt muss ich doch tief durchatmen. Die Dame geht mir auf den Nerv.
»Wenn ich nicht erfahre, um was es geht, unterschreibe ich gar nix. Im Brief kann ein Wisch liegen, auf dem steht, dass ich Ihnen 10.000 Mark schulde, also …« Sie nickt mit zusammengepressten Lippen.
»Wir sind eine Friedhofsverwaltung, kein Wettbüro«, sagt sie und ist sichtlich verärgert. Ich zucke mit den Schultern. Sie überwindet sich. »Der Herr Colmar ist tot und …«
»Was?!«
»Der Herr Colmar ist tot …«, setzt sie erneut an, »und hat diesen Brief in seinem Spind hinterlassen.« Der Raum dreht sich langsam, dann schneller. Ich schaffe es in den Stuhl neben mir zu fallen. Alle Kraft ist aus mir entwichen.
»Um Gottes willen«, sagt sie, steht auf und rennt zum Waschbecken im Eck, macht ein Taschentuch nass und hält es in meinen Nacken. »Sie werden mir doch jetzt nicht ohnmächtig werden?«
»Was ist passiert?!«
»Das ist noch nie vorgekommen … hier, in unseren Räumlichkeiten. Er hat sich im Kühlhaus entleibt.«
»Entleibt?! Wer zum Teufel redet denn so?!«
»Ich rede so!«
»Ich will das sehen! Zeigen Sie mir wo! Sonst werden Sie mich nicht los …« Vorsichtig stehe ich auf, mit wackligen Knien, das Taschentuch fällt auf den Boden. »Ich will das sehen!«
»Ja … ich weiß nicht …«
»Ich drehe gleich durch«, betone ich. Sie rennt raus, ich folge ihr, eine Hand an der Wand, den langen Flur entlang, dann rechts in eine Kammer. Kühlhaus zwei. Fliesen, Edelstahl, Klappen in der Wand.
»Hier«, sagt sie, dreht sich um und schaut auf ein Holzkreuz. »Er hat sich nackt in ein Kühlfach gelegt und dann die Adern geöffnet.«
»Entleibt …«
»Mh.«
»Wann?«
»Vor sechs Tagen.«
»In welchem?«
»Die Nummer achtzehn.« Ich gehe zur Nummer achtzehn, öffne den Hebel …
»Nein! Sie dürfen das nicht!«
Das Fach ist leer. Blitzblank. Edelstahl. Es riecht nach Desinfektion.
»Mir ist kalt«, sagt sie. »Bitte, gehen wir wieder zurück.« Ich bleibe stehen. Sie nimmt meine Hand und führt mich ins Büro. Noch eine Unterschrift, die Kopie. Draußen scheint die Sonne. Ich reiße den Brief auf. Im Umschlag ist nur ein Blatt. Krakelige Schrift. Danke für alles. Mehr nicht. Das war’s. Danke für was? Meine Wut! Da ist sie! Fünfzehn Jahre alte Wut trifft auf einen Mülleimer. Ich hebe ihn hoch und werfe ihn gegen die Außenwand. Nur ein Macken im Putz. Jetzt werde ich umgehend zu Eberlein fahren und kündigen. Meine Zeit hier ist vorüber.

Ende