Der Tag bricht an

Kapitel 11

Wer hätte gedacht, dass es noch einmal hell wird und ich die Sonne sehen darf. Sie kämpft sich durch aufsteigenden Nebel über den Wipfeln der Tannen im Glaswald. Silvias Worte schälen sich aus dem Durcheinander in meinem Kopf. Alles hier Gesehene reicht für ewige Verdammnis.
»Was hindert mich daran, deinem Onkel das Genick zu brechen? Oder zumindest ins Krankenhaus zu bringen? Samt deinem Stiefbruder?«
»Nur du selbst kannst dich daran hindern.«
»Wäre das nicht gerecht?« Silvia steckt den Kopf aus dem Schlafsack. Blaue Augen und volle Lippen, die Haare ein einziges Durcheinander.
»Das würde mein Leben nur für ein paar Sekunden besser machen. Dann verpufft es wie ein Strohfeuer. Keine meiner Erinnerungen wäre getilgt, das weißt du, oder?«
Ich reibe die Augen mit beiden Händen. »Ja, weiß ich. Sorry, ich habe wirklich schlecht geschlafen. Ein irres Zeug geträumt.«
»Haben wir noch Brötchen? Ich habe Hunger.«
Hat sie das wirklich gesagt? Bevor ich überlegen kann, ob wir noch Brötchen haben, stupst sie mich. »Hast du mitbekommen, dass heute Nacht das Auto gewackelt hat?«
»Gewackelt?«
»Ja, ein paar Mal hin und her, als hätte jemand beide Hände aufgelegt und geschüttelt.«
»Vielleicht Wildschweine?«
»Oder ein Braunbär…«
»Was?! Ein Braunbär? Es gibt keine Braunbären im Schwarzwald. Das stünde in der Zeitung.«
»Dann war’s vielleicht ein Troll.«
»Oder ein Traum«, erwidere ich. Sie grinst, rutscht dichter heran, küsst mich heftig, dann schiebt sie mich von sich weg.
»Du bist jetzt jemand, der viel über mich weiß«, sagt sie. »Sehr viel. Manchmal habe ich das Gefühl, mich an nichts mehr erinnern zu können. Dabei liegt nur eine dünne Decke darüber. Kommt jemand wie du, bin ich versucht, die Decke anzuheben, aber es lohnt sich kaum. Die meisten sind Idioten.«
»Ich bin keiner?«
»Bis jetzt nicht.«
Aus einem Reflex heraus muss ich tief ein- und ausatmen. Es gab schon einige, die mich einen Idioten nannten, offenbar eine Frage des Standpunkts. Silvia sucht nach den Zigaretten. Ich greife in die Kopftasche des Schlafsacks, nehme die Lucky und gebe ihr eine, zünde sie an und drehe die Scheibe ganz herunter. Die frische Waldluft drängt mit Kraft herein.
»Was hast du genau gemacht in Göteborg?«
»Verträge ausgearbeitet, übersetzt, mich um Vertragsrecht gekümmert.«
»Echt? Das klingt interessant.«
»Kann es sein. Die Feinheiten der Sprache sind das Interessante. Was wir wollen und was andere verstehen.«
»Kannst du noch andere Sprachen?«
Sie sagt etwas in Spanisch, Französisch, Englisch. Ich lege den Kopf auf mein provisorisches Kissen und starre an die Decke. »Ich bin beeindruckt, Silvia.« Sie steckt die Zigarette zwischen meine Lippen, ich ziehe kurz. Direkt nach dem Wachwerden rauche ich ungern. Sie dreht den Kopf zum Armaturenbrett.
»Ist sieben durch. Wollen wir mal irgendwo einen Kaffee auftreiben?«
»Den wird es wohl nur in Rippoldsau um diese Uhrzeit geben, oder?«
»Wahrscheinlich. Wolfach ist zu weit weg.«
»Dann los.«


Auf der Strecke nach Rippoldsau hat Silvia den Kaufvertrag durchgelesen. Zweimal. Keine Ahnung, wie schnell sie liest, aber zwischendurch hat sie immer wieder gelacht, den Kopf geschüttelt, dann die Nase hochgezogen und die Papiere wieder in die rote Mappe gesteckt. An der Tankstelle im Städtchen fülle ich Wischwasser nach, prüfe den Reifendruck und Silvia besorgt drinnen Kaffee und Brezeln. Es ist ihr Gang, den ich beobachte, die geraden Schultern, das Kinn ist immer oben, nie schaut sie auf den Boden. Mit einem Zischen löse ich die Ventilklammer. Silvia ist ein Kraftpaket. Ihre Zähigkeit muss jedes gegerbte Leder in Ehrfurcht erstarren lassen. Und doch kann es passieren. Von einer Minute auf die nächste bricht es ein. Irgendein Auslöser, ein Wort, das für uns andere völlig harmlos ist, eine Bewegung, ein Lachen, schon kommt die Finsternis. Irgendwo dazwischen bin ich und ahne, was das bedeutet, schiebe aber den Gedanken auf die Deponie wertloser Erkenntnisse. Der Opel jedenfalls ist in Ordnung, Öl ist okay, die Motorhaube klackt beim Zumachen. Ich rolle die Schlafsäcke zusammen, ein Auge immer auf der Tür zum Kassenhäuschen. Sie tritt ins Freie und hat eine Sonnenbrille im Gesicht. Grinsend kommt sie her, gibt mir einen Becher.
»Gab nur Espresso. Dafür zwei Butterbrezeln für jeden, frisch bestrichen und noch warm.«
»Offenbar haben sie auch Sonnenbrillen da drin.«
»Eine RayBan für wenig Geld.«
»Sieht gut aus, aber ist sicher nur ein Replikat.«
»Egal. Ich sehe cool aus.«
»Dazu braucht es nicht die Brille.« Sie lächelt und beißt in die Brezel, kaut, dann öffnet sie die hintere Tür und fingert einen Umschlag aus ihrem Rucksack.
»Halt mal, bitte …«
Ich halte. DIN A4, weiß und sicher 150 g-Papier, auf der Rückseite grauer Karton. Sie stellt den Becher aufs Autodach, legt die Brezel daneben. Dann nimmt sie mir den Umschlag ab und wedelt zweimal mit ihm. »Mein Zusatzvertrag. Am Telefon sagte der Trottel, dass sie einen Kaufvertrag hätten. Das hier ist mein Anhang zum Kaufvertrag. Der eine ist nur gültig mit dem anderen. Gut, dass du jetzt dabei bist, denn ich werde dich als Zeugen notieren. Ist das okay?«
»Ist okay für mich.« Mir kommt ein Gedanke. »Kann es sein, dass du damit schon in Pforzheim geliebäugelt hast, als du mich fragtest, ob ich dich fahre?«
»Ein wenig.«
Da kann ich nur nicken. »Vertragsrecht, Klauseln und so, hm?«
»Das war nicht ausschlaggebend. Zur Not wäre ich in ein Rathaus zum Standesamt und hätte da einen Zeugen gefunden. Ich fühle mich neben dir wohl. Deswegen habe ich dich gefragt.« Sie nimmt die Brille ab. Ihr Blick ist unsicher, suchend.
»Ich bin gerne dein Zeuge. Alles, was dir hilft. Lass uns fahren, ist bald Zeit.«


Der Hof steht noch. Und ein Lieferwagen davor. Vom Sägewerk. Der Onkel ist schon da oder hat hier geschlafen. Ich traue der Sache nicht. Keinen Millimeter. »Hast du dein Schäfermesser in der Tasche?« Silvia zückt es und im selben Augenblick arretiert die Klinge in der Halterung. »In was bin ich hier nur hineingeraten?«
Ein dünnes Lächeln entsteht auf ihren Lippen. Sie steckt das Messer wieder ein. »Meinen Trottel-Bruder musst du nur scharf angucken, schon verstummt sein großes Maul. Und mein Onkel ist ein Bewegungsdepp.« Ihr Blick wandert über meinen Oberkörper. »Du wirst sie im Griff haben.«
»Danke für die Blumen.«
»Gerne. Ich hätte die ganze Scheiße hier schon vor Jahren anzünden sollen.«
»Tu dir keinen Zwang an«, sage ich und steige aus. Im Nu ist Silvia aus dem Wagen, steht schon vor der Haustür.
»Lass mich zuerst rein.«
»Okay.«
Sie öffnet, lauscht und nickt mir zu. Ich folge, gespannt wie ein Flitzebogen. Die beiden sitzen in der Küche. Schon einen Schnaps vor sich und eine zweite rote Mappe. Silvia legt ihre auf den Tisch.

»Pünktlich warst du schon immer«, stellt der Bruder fest. Wir setzen uns. Ihr Onkel beugt sich vor.
»So, hastes dir überlegt? Ist nur zu deinem Besten.«
»Hab ich. Es wird euch gehören. Ich will es sowieso nicht. Werdet glücklich damit.«
Die Beiden sehen sich an. Dann öffnet der Onkel die zweite Mappe. »Na, dann unterschreib beide und wir sind fertig.«
»Wenn ich euer Exemplar durchgelesen habe.«
»Wieso? Traust du uns nicht?«
Überflüssige Frage, trotteliger Bruder, denke ich und lächle. Silvia öffnet beide, legt sie nebeneinander und beginnt in zwei Verträgen zu lesen. Einmal links, einmal rechts. Ihr Kopf wandert hin und her, umblättern, weiter, nächste Seite. Faszinierend. Ein Roboter hätte keine Chance. Vertragsrecht …
Dann ist sie offenbar zufrieden und zieht ihr Dokument aus dem Rucksack, legt es auf den Tisch. Es sind zwei Bögen.
»Lest das durch. So wie es auf diesem Papier steht, wird es gemacht, oder gar nicht. Es ist eine Art Vertragserweiterung.« Der Bruder begehrt auf, ist schon dabei, aufzustehen, bekommt vom Onkel eine Kopfnuss. Der beginnt zu lesen und gleich noch ein zweites Mal. »Einfache Sprache«, kann sich Silvia nicht verkneifen. Nur der Onkel reagiert.
»Da steht, du willst das Geld nicht auf einmal, dafür jeden Monat einen Betrag? Na gut, warum nicht? Ist vielleicht sogar besser für uns.«
»Da steht auch, dass ihr den Zusatzvertrag anerkennt und damit einverstanden seid. Datum drauf und unterschreiben. Alle beide.« Sie legt einen Kugelschreiber auf den Tisch. Sie tun es.
»Und jetzt schreibt ihr, dass Mutters Beerdigung von euch übernommen wird und ich nichts damit zu tun habe. Alle Notarkosten, das Katasteramt, die Überschreibung, alle anfallenden Kosten werden von euch bezahlt.«
Auch das erledigt der Onkel. »Fertig?«, will er wissen, linst auf den Schnaps. »Schenk ein!«, herrscht er den Trottel an, der sofort reagiert.
»Gib her. Ich schreibe jetzt drauf, dass Herr Heinrich Konstantin den ordnungsgemäßen Vorgang des Verkaufs bezeugen kann. Auf Vertrag und Zusatzvertrag.« Der Onkel kippt den Klaren in sich hinein. Ich stelle mir vor, wie Silvia alles abfackelt und die beiden brennen. Dann unterschreibe ich.
»Das mit dem Notar wirst du sicher schon geregelt haben, von wegen Verkauf ohne ihn. Bekommt er Holz für eine Garage oder eine Pergola?«
»Lass das meine Sorge sein.« Er schenkt erneut voll, leert das Glas. »Dann war’s das jetzt.« Silvia nimmt Vertrag und ihr Dokument an sich. »Uns wäre es recht, wenn wir dich heute das letzte Mal sehen würden.«
»Ich komme erst wieder zu deiner Beerdigung«, sagt Silvia kühl. »Vielleicht grabe ich dich aus und schneid dein bestes Teil ab. Als Andenken.« Er wird bleich. Der Bruder bekommt große Augen. Aus den Wänden kommt die Kälte und ich stehe auf.
»Lass uns gehen, Silvia.«


Die Fahrt zurück nach Pforzheim ist ein einziges Schweigen. Meine Versuche, irgendwo noch ein wenig zu entspannen – schließlich haben wir alles dabei – schlagen fehl. Dann denke ich an Kino und Restaurant, ein Dinner bei Kerzenlicht, also ab nach Hause. Aus dem Wolfachtal nach Freudenstadt kommen, ist nach diesen Erlebnissen so etwas wie einen lichtdurchfluteten, freundlichen Sandsteindom zu besuchen. Die Sonne hat es zwar schwer gegen die von Westen andrängenden Wolkenbänke, aber wir leben, Silvia ist eine Last losgeworden, wir lieben uns … was kann noch passieren? Aber ihr Schweigen kündigt weiteres Unwetter an. Die Ahnung, dies alles spielt sich außerhalb meiner Welt ab, nimmt Gestalt an. Ich bin eine temporäre Erscheinung in ihrem Leben und die Uhr tickt.

Für die Heimfahrt wähle ich einen anderen Weg, über Altensteig und durchs Nagoldtal nach Hause. Silvia blickt unentwegt aus dem Fenster, aber ich bezweifle, dass sie das wahrnimmt, was zu sehen ist.
»Es ist bald Mittag. Ich kenne ein nettes Plätzchen, um was zu essen. Maisenbacher Sägmühle, bei Bad Liebenzell. Da könnten wir ein Päuschen einlegen. Die haben astreine Salate, mit Thunfisch oder Hühnchen und der Milchkaffee schmeckt super.«
Sie dreht den Kopf. »Du bist nicht aus Pforzheim, oder?«
»Doch, bin ich schon, dort geboren, hab aber lange woanders gelebt. Wie kommst du jetzt da drauf?«
»Wegen solcher Wörter wie astrein zum Beispiel. Und manchmal meine ich, was Rheinisches rauszuhören. So eine Dialektvermischung.«
»Zehn Jahre Südstadt, Köln-Bayenthal.«
»Dachte ich mir’s doch.«
»Ich sehe schon, Sprachen sind dein Metier. Wie ist es jetzt mit Salat und Pause und astreinem Milchkaffee?«
»Einverstanden. Aber nicht ewig. Ich will heim und muss duschen. Den Dreck abwaschen.«
Ich nicke. »Den Dreck abwaschen, ich verstehe. Wenn du möchtest, werde ich dir dabei den Rücken schrubben und genau kontrollieren, dass nichts vom Dreck hängen bleibt.«
»Einverstanden«, sagt sie zur Scheibe.
»Okay. Und es ist klüger, meine Dusche zu nehmen, denn deine ist eher was fürs Astronautentraining.«
»Einverstanden.«