HudRvK | Kapitel 8

Das Mädchen

Das Mädchen steht mit seiner Mutter am Eck zur Bekstraße. Sie reden in seltsamem Deutsch darüber, welcher Weg der beste zur Schule sei und als ich schon fast an ihnen vorbei bin, spricht die Frau mich an.
»Du, warte doch mal.« Niemand sonst ist auf der Straße, also meint sie wohl mich und ich bleibe stehen. »Bist du auch auf der Sonnenhofschule?« Ich nicke. »Aha«, sagt sie und schaut zu dem Mädchen. »Siehst du? Da ist schon jemand, mit dem du zusammen zur Schule gehen kannst.« Ich erwidere nichts, warte und weiß nicht genau, was ich nun tun soll. Das freundliche Gesicht der Frau verscheucht meine Zweifel. »Wie heißt du?«, will sie wissen.
»Heinrich.«
»Heinrisch … das ist ein sehr alter Name. Wie schön.« Sie deutet auf das Mädchen. »Das ist meine Tochter Patricia. Und ich bin die Jeannes.« Sie sagt ‚Schann‘. Diesen Namen habe ich noch nie gehört. Ich wundere mich über ihre Art zu sprechen. ‚Heinrisch‘ hört sich sehr seltsam an. Sie sind bestimmt nicht aus Pforzheim. »Komm, Heinrisch, ich gehe mit euch beiden zur Schule. Du zeigst uns den Weg. Einverstanden?«
»Das mach ich.«
Jeannes nimmt die Hand ihrer Tochter. Wir überqueren die Straße zum Naumann-Weg. Ab hier stehen nur neue Häuser. Flach, weiß und eines wie das andere. Nach ein paar Metern reicht mir Patricias Mama die Hand. Sie ist voller Sommersprossen. Ich greife zu. »Wir kommen aus Frankreich«, sagt sie. »Aus dem Elsass. Warst du schon einmal in Frankreich, Heinrisch?«
»Nein, noch nie.«
Ich ziehe an ihrer Hand und lenke uns auf den Fußweg zwischen die Häuser.
»Gehst du jeden Tag denselben Weg?«, fragt sie.
»Ja. Meine Mama hat gesagt, ich soll immer denselben Weg gehen, damit sie weiß, wo ich bin, wenn sie mir entgegenlaufen möchte.«
»Siehst du, Patricia? Tu iras à l‘école avec Heinrisch tous les jours maintenant. D‘accord?« Ich staune. Was für einen schönen Klang diese Worte haben. Patricia nickt, schweigt aber. »Das war Französisch, Heinrisch. Patricia kann noch nicht so gut Deutsch …« Sie blickt sich um. All die gleich aussehenden Häuser, Autos, Straßenschilder. »Sag mal, Heinrisch … wie wäre es, wenn ihr ab morgen jeden Tag zusammen zur Schule geht? Du kannst Patricia abholen. Würdest du mir diesen Gefallen tun?«
Ich höre Jeannes Worte, die sanfte Stimme, blicke auf meine Sandalen, die gelben Strümpfe, spüre ihre warmen Finger, wie sie meine kleine Hand umschließen und fühle mich neben ihr in einer schützenden Seifenblase. »Ja, das mach ich gerne.«
Jeannes lässt kurz los, streichelt meine Haare, dann schnappe ich wieder die Sommersprossen. »C‘est merveilleux. Merci beaucoup, Heinrisch. Vielen Dank.«
Was für schöne Worte! Wir überqueren die Carl-Schurz-Straße.

Stolz erzähle ich Mama von Patricia und ihrer Mutter ‚Schann‘, und dass die Familie aus dem Elsass käme, Patricias Mama Frau Reinhardt gebeten hätte, ihre Tochter neben mich zu setzen und wir nun zusammen in die Schule gehen. »Sie reden Französisch und Deutsch, stell dir vor, Mama.«
Sie grinst. »Dann hast du jetzt eine Freundin, nicht wahr?« Ich werde rot. Die Hitze steigt in meine Wangen und Mama lacht. »Das ist doch nicht schlimm, Heinrich. Markus ist weggezogen und ich finde es gar nicht gut, dass du niemand mehr hast. Jetzt kannst du Patricia helfen Deutsch zu lernen und hast jemand zum Spielen. Das ist toll.«
Ich finde das auch toll, bringe es aber nicht raus, will lieber in den Boden versinken, wegen meiner roten Wangen.
»Macht ihr zusammen Hausaufgaben?«
»Ja«, bestätige ich. »Frau Reinhardt hat gesagt, ich soll mit Patricia nach den Hausaufgaben immer noch eine halbe Stunde extra üben.«
»Also gehst du heute schon dorthin?«
Ich werde ganz nervös. Denke ans Spielen, an Patricias Mutter und den schönen Klang dieser anderen Sprache. »Wenn ich darf, Mama?«
»Aber natürlich darfst du«, meint sie. »Warum auch nicht? Wo wohnen sie denn?«
»Im Haus neben dem alten Doktor, der immer Klavier spielt.«
Sie überlegt kurz. »Gut. Dann viel Spaß, Heinrich.«
Es brennt mir unter den Sohlen und ich mache mich auf den Weg. Das Haus ist eine Straße unter der unseren. Ich muss nur wenige Meter laufen, schon bin ich dort. Vom Gebäude selbst sieht man wenig. Eine hohe Hecke mit sehr breiter Garageneinfahrt. Die Haustür ist seitlich eingebaut und als ich zum ersten Mal klingle, öffnet ein großer Mann mit schwarzen zurückgekämmten Haaren und einer sandfarbenen Uniform. Eine Menge bunter Streifen auf Schultern und Brust. Er lächelt ein kleines bisschen und hebt seine flache Hand an die Stirn.
»Bonjour, mon général«, sagt er mit tiefer Stimme. Das war wohl Französisch.
»Guten Tag. Ist Patricia da?«
»Mais oui, aber ja doch. Komm rein.« Er macht Platz und ich gehe hinein. »Du musst Heinrisch sein«, stellt er fest. Er spricht mit fester Stimme und ist wesentlich größer als mein Papa. »Geh nur vor«, fordert er mich auf. »Patricia ist in der cuisine.« In der kwisin? Ah! Er meint die Küche. Dort entdecke ich sie am Tisch mit Schulbüchern und ein paar Heften. »Patricia, ma petite fille!«, ruft ihr Papa hinter mir. Seine Schritte hören sich an wie Schläge mit dem Hammer auf einen Steinboden. »Heinrisch ist hier. Jetzt wird gelernt.«
Sie schaut auf und strahlt. »Allô, Heinrisch. Wie geht es dir?«
»Gut«, antworte ich und setze mich neben sie. Wir legen los, rechnen, schreiben, lesen, reden. Fast vergessen wir das Atmen.

An einem der letzten Sommerabende holt Mama mich bei Patricia ab. Wir sitzen am Tisch und büffeln Deutsch, indem ich ihr einen Satz aus der ‚Artus-Sage‘ vorlese und sie ihn dann wiederholte. Ich höre Mamas Stimme an der Tür, dann steht sie mit Jeannes plötzlich in der Küche.
»Bitte, setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken?«
»Nein, vielen Dank, Sie kümmern sich doch schon genug um Heinrich.«
Jeannes winkt ab und wir hören auf zu lesen. Patricia knufft mich unterm Tisch an den Oberschenkel. Ich grinse das Buch vor mir an.
»Und Heinrisch kümmert sich um Patricia. Ihr Deutsch ist schon viel besser geworden«, freut sich Jeannes. Ich mustere beide, Mama und Jeannes. Sie haben wohl gleich viel Sommersprossen und fast dieselbe Haarfarbe. Ich stelle mir vor, wie schön es wäre, Patricias Eltern als Tante und Onkel zu haben statt meines Onkels, der mich dauernd mit Spinnen ums Haus jagt.
»Heinrich hat erzählt, dass ihr Mann Soldat ist?«
Jeannes nickt. »Er ist Colonel bei den Husaren. Aber in der Kaserne sind momentan keine Wohnungen mehr frei, also hat die Garnison das hier gemietet …« Sie zeichnet mit dem Finger ein paar Kreise auf den weißen Tisch. »Ich bin froh, dass wir hier wohnen und Patricia auf diese Schule geht. Französisch kann sie bei uns lernen, aber wir finden, es ist wichtig, auch Deutsch zu können«, erklärt sie. »Ich weiß nicht, ob sie das verstehen«, setzt Jeannes nach.
Mama nickt unmerklich. »Ich kann das sehr gut verstehen. Ich glaube, Heinrich weiß gar nicht, dass er auch ein paar Worte Französisch spricht, wie alle hier im Badischen.«
Ich staune. »Wirklich, Mama?«, platzt es aus mir heraus. »Was denn?«
»Na, wenn Oma meint, du sollst von der Straße runter, sagt sie: Geh hoch aufs Trottoir, oder? Und wenn sie sich nachmittags hinlegen will, jagt sie dich vom Canapé. Stimmt‘s?«
Patricia sieht mich überrascht an und Jeannes lacht. »Mein Mann und ich wünschen uns, dass Patricia und Heinrisch einmal zu den Menschen gehören, die diese furchtbare Erbfeindschaft begraben.«
Mamas Augen werden groß. Sie sagt nichts, aber legt die Hand auf Jeannes Finger, die wieder Kreise auf der Tischplatte fahren. Ich wünsche mir in diesem Augenblick, hier einziehen zu können. Ein Zimmer neben Patricia, meine Mama und Tante Jeannes am Frühstückstisch, wie sie lachen und abwechselnd Deutsch und Französisch reden. »Danke«, sagt Mama leise und ihre Augen werden feucht. »Gehen wir, Heinrich?« Ich nicke und packe die Schulsachen in den Ranzen.

Die Obstbäume im Garten bekommen von Tag zu Tag mehr gelbe Blätter. An einem dieser Tage klingle ich bei Patricia. Jeannes öffnet und kniet sich vor mich. »Guten Morgen, Heinrisch. Heute musst du alleine gehen. Patricia ist krank. Sie hat Fieber und einen ganz roten Rachen.«
Das trifft mich. Krank? Schnell ziehe ich den Schulranzen ab, öffne ihn und nehme die Blechdose mit den Birnenschnitzen raus.
»Bitte. Meine Oma sagt, Birnen sind gesund.«
Jeannes sieht mich an. »Aber nein, Heinrisch. Du musst ja auch gesund bleiben.«
»Ich bin gesund«, erwidere ich und halte die Dose hin. »Für Patricia!«
»Also gut. Sie wird sich freuen. Vielen Dank.« Jean nimmt mir die Dose ab und drückt einen Kuss auf meine die Stirn. Ich fühle mich sogleich wie Superman, grinse und verschwinde Richtung Schule.
Nach dem Unterricht will ich sofort Patricia einen Besuch abstatten. Aber dazu ich müsste vorher Oma Bescheid geben, überlege hin und her. Kann ich Oma warten lassen? Aber wie lange? Vielleicht gibt es ja auch bei Patricia was zu essen? Doch ich komme nicht mehr dazu, darüber nachzudenken. Am Ende der Staffel zum Naumann-Weg warten die großen Jungs. Es sind nicht die Üblichen, sondern die ganz Großen. Zwei davon kenne ich, weiß, wo sie wohnen. Sie nehmen mich in die Mitte, klemmen mich ein und die Angst rauscht wie ein Wasserfall durch mich hindurch. Dann schubsen sie mich mal in die eine, dann in die andere Richtung. Schließlich marschieren sie los, ich mittendrin, keine Möglichkeit zur Flucht. In der Emilienstraße drängt die Truppe mich in die kleine Seitenstraße am Hang und dort zwischen zwei Büsche. Der eine zieht mir den Schulranzen vom Rücken. Dann mustern sie mich.
»Heinrich«, beginnt schließlich der eine von ihnen. »Du kennst uns doch?« Ich nicke. »Du weißt, wir machen keinen Spaß. Oder?« Wieder nicke ich, bekomme einen Klaps ans Ohr. »Reden. Nicht nicken. Kapiert?«
»Kapiert«, bestätige ich.
»Gut. Pass auf!« Er hebt den Finger. »Wir wissen, du hast eine neue Schulfreundin. Patricia heißt die. Wir möchten, dass du mit ihr in den Wald gehst …«
»In den Wald? Warum?« Es gibt einen Klaps aufs Ohr.
»Du kennst doch die alte Burg im Wald, die Kräheneck, oder?«
»Ja, kenne ich.«
»Sehr gut. Du sagst Patricia, dass du ihr mal die alte Burg zeigen möchtest. Jetzt am Samstag. Dann geht ihr dorthin und mehr musst du nicht machen. Ist doch einfach. Oder?«
»Ja, das ist einfach.« Meine Angst überschlägt sich. Ein Purzelbaum nach dem anderen. Ich kann kaum sprechen vor lauter Aufregung. »Aber warum in den Wald?« Sie lachen.
»Mensch, du Doof«, sagt einer der unbekannten Jungs. »Findest du nicht, dass sie ein besonders schönes Mädchen ist?«
»Ich weiß nicht«, antworte ich zögernd. Wieder lachen sie.
»Na, du bist halt noch grün hinter den Ohren. Aber wir wollen ja nix schlimmes. Sie soll sich mal ausziehen, und wir schauen sie uns an. Das war es dann. Ist doch nicht schlimm, oder?«
Ich spüre, wie sich meine Blase entleert. Mein Gesicht explodiert förmlich unter der Glut in meinen Wangen.
»Igitt!«, rufen alle. »Du Drecksau! Hosenpisser!« Dann greift sich einer meinen Hals, klammert die Finger drum und drückt zu. »Wenn du jemandem was sagst, bist du tot. Verstanden?«
Ich bringe keinen Ton heraus. Nur noch Tränen. Sie stoßen mich um und verziehen sich. Wie lange ich da liege, weiß ich nicht. Irgendwann höre ich Oma meinen Namen rufen. Ich stehe auf und gehe ihr entgegen.

»Ich gehe heute nicht in die Schule«, sage ich zu Mama als sie mich wecken will. Sie schaut mich fragend an.
»Warum nicht? Ist dir nicht gut?« Ihre Hand fühlt meine Stirn. »Na, vielleicht ein bisschen Temperatur. Ich geh zu Oma, das Thermometer holen.« Mama verschwindet, ich ziehe die Bettdecke über den Kopf, fühle mich zwischen hohen Mauern eingekesselt. Der Druck ist nicht auszuhalten. Ich übergebe mich. Als sie wiederkommt, seufzt sie und trägt mich ins Bad. »Also doch krank«, stellt sie fest. »Eine Magen-Darm-Grippe. Na, ich mach dir gleich einen Fencheltee.« Den Schlafanzug legt sie ins Waschbecken und weicht ihn ein. Mich säubert sie mit dem Waschlumpen. Als sie über mein Gesicht wischt, fange ich an zu weinen. Mama setzt sich vor die Badewanne und zieht mich auf ihren Schoß, streicht durch meine Haare, legt ein Badetuch um uns, aber sie sagt nichts. Das ist es, was ich mag. Doch nichts ist nah bei mir, alles weit weg, jeder Atemzug von ihr, die Finger streicheln eine andere Person. Das bin nicht ich. Wohin ist alles verschwunden? Wie ein Fremder stehe ich neben uns und sah dabei zu, was passierte. Dort unten im Bauch dieses Jungen entdecke ich tiefe Angst und einen Knoten aus Stein, schwer wie ein ganzes Haus. Alle Gedanken dieses Jungen kreisen nur noch um ein Bild. Das eines nackten Mädchens im Wald, begafft von großen Jungs. Das ist endgültiger Verrat. Der kleine Heinrich wünscht sich zu sterben. Sommersprossige Finger streicheln diesen Jungen in den Schlaf.

Schweiß, ein Raum ohne Türen, die Wände kommen auf mich zu, darin große Augen, und ich nackt, neben Patricia, die mich kratzt und tritt, aber ich kann mich nicht bewegen, nur sprechen, auf Deutsch und sie auf Französisch. Wir verstehen uns nicht. Dann stehen wir auf einer Straße und Hände greifen nach uns. Ich ziehe Patricia in den Straßengraben, aber der wird immer größer. Weiter und tiefer, mit jedem Schritt, den wir hinein tun. Schließlich rutschen wir. Ich will sie halten, aber es reißt uns in eine Endlosigkeit. Ich erbreche und Patricia schüttelt mich, dann verschwindet ihr Bild und Mamas Gesicht ist unmittelbar vor meinem.
»Heinrich, was ist denn los?«
Sie hebt mich aus dem Bett und wir gehen ins Bad. Ausziehen, Schlafanzug einweichen. Papa kommt, gähnt und nimmt mich Mama ab. »Bring ihn bitte ins Zimmer, Rudolf. Zieh ihm einen neuen Schlafanzug an.« Er nickt und es geht zurück ins Zimmer. Bettdecke und Kissen sind zerwühlt, voller gelber Flecken.
»Na, da hast du dir aber ordentlich den Magen verdreht«, meint er und setzt mich auf den Stuhl. Aus der Schublade meiner Kommode versucht er einen Schlafanzug zu holen, aber sie klemmt und Papa ruckelt wie wild daran. »Scheißdreck!«, flucht er. »Kommt davon, wenn man alles selbst baut und kein richtiges Werkzeug hat.« Ich sah ihn und doch nur die Wand dahinter. Das Foto einer Dampflokomotive. Groß, schwarz und voller Kraft arbeitet sie sich über die Gleise. Fast kann ich all die Geräusche hören. Sie wollen mich töten, denke ich und kann niemand rufen. Weder Superman noch Batman. Alle leben nur in den Heften und siegen auf Papier. Mama und Papa wären dann ohne mich und ich ohne sie. Wieder kullern die Tränen ohne anzuhalten an mir herunter. Papa reißt den Knauf von der Schublade ab. »So ein Dreck!«, ruft er und Mama kommt mit einer Tasse Tee. Sie starrt uns entgeistert an, atmet tief ein und schaut kurz an die Decke. Ihre Lippen bewegen sich. Stille Worte. Dann wechselt sie das Bettzeug. Ich spürte Kälte kommen.

Mama spricht mit jemand. Es ist dunkel. Im Zimmer und vor dem Fenster. Das Licht geht an und ich entdecke einen Mann, Mama hinter ihm stehend. Er öffne eine große Tasche und zieht ein Horchgerät heraus. Ein Doktor. »Hallo, Kleiner«, sagt er. »Weißt du, was das ist?« Er hebt das Horchgerät hoch. Ich nicke, sagte aber nichts. Warum ein Doktor? Ich bin doch gar nicht krank.
»Das nennt man Stethoskop. Damit kann ich hören, ob in dir drin alles in Ordnung ist.« Mama stellte ihm den Stuhl hin. Er setzt sich, schiebt die Decke zurück, mein Oberteil zum Hals. »Jetzt schaue ich mal, was da ist. Du musst ganz still sein.« Ich bin ganz still. Er setzt das Horchgerät auf meine Brust. Es ist eiskalt und ich zucke zusammen. Dann klopft er hier und da, schiebt es von links nach rechts. »Jetzt bitte tief einatmen!« Er lauscht. »Und wieder ausatmen.« Wir wiederholen es ein paar Mal, danach drückt er mit den Fingern auf meinem Bauch herum und misst Fieber. Mit den Fingern presste er eine Falte auf meiner Hand, hält sie kurz und lässt los. Schließlich packte er alles ein, steht auf und stellt den Stuhl weg.
»Du bist kerngesund«, meinte er. »Auch im Magen blubbert nix, der Darm ist ruhig, kein Blinddarmreiz, die Lunge frei, das Herz pumpert zu meiner vollsten Zufriedenheit. Kein Fieber, keine glasigen Augen. Ich kann beim besten Willen nichts entdecken.« Für einen Moment starrt er an die Decke, dann dreht er sich und schiebt Mama vor sich her aus dem Zimmer.
»Jetzt schlaf erst mal und trink den Fencheltee«, sagt er im Hinausgehen. Das Licht brennt und ich schaut auf die Lokomotive. Mama und der Doktor sprechen leise. Dann höre ich die Tür und es wird still. Drei Tage bin ich nun schon daheim und weiß weder ein noch aus. Ob man durch denken an den Tod sterben kann? Ich versuche an diesen Tod zu denken. Aber mir fällt auf, dass ich gar nicht weiß, wer dieser Tod ist. E ein Mensch? Wie soll ich an etwas denken, von dem ich nicht weiß, wie es aussieht?

Es ist Freitag. Mama bringt mich in den ersten Stock zu Oma und geht zur Arbeit. Es gibt Fencheltee, eine warme Bettflasche auf dem Bauch und als Oma saugt, schlafe ich ein. Opa ist an diesem Tag arbeiten. Als ich aufwache, sitzt Oma neben mir, stopft Socken und Opas Hosen.
»Ich weiß gar nicht, wie man solche Löcher in seine Hosen reißen kann«, sagt sie und zeigt mir,
was sie meint. Für mich ist das nur ein Loch. Oma schüttelt den Kopf. »Nur Arbeit hat man mit den Männern.« Nichts von dem, was sie sagt oder tut, bleibt in mir hängen. Alles rast wie ein D-Zug ohne Halt durch einen Bahnhof. Ich sehe hinterher, ohne etwas tun zu können. Mir fehlen die Tränen. Das denke ich, während Oma näht. Kann man plötzlich ohne Tränen sein? Nur noch mit rumpelnden Schmerzen im Bauch, einem klopfenden Herz voller Angst? Oma steht auf und streckt sich. »Ich muss mich hinlegen, Heinrich«, sagt sie stöhnend. »Kannst du ein bisschen alleine hier liegen?«
»Ja, Oma. Kann ich.«
»Mir tun so die Füße weh …« Sie geht aus dem Wohnzimmer und dann höre ich die quietschenden Federn ihres Betts nebenan. Bald darauf ein leises Schnarchen. Ich stehe auf und mache die Tür zu, setze mich an den Tisch und zähle die Löcher in Opas Socken. Wie in Papas Schraubstock die Backen, so nähert sich Patricias Gesicht meinen Gedanken von der einen Seite und die Hand des Jungen um meinen Hals von der anderen. Es gibt keinen Ausweg. Nichts, wohin ich flüchten kann. Erneut sehe ich den Jungen neben mich treten. Körperlich. Er blickt mich traurig an. Dann lacht er mich aus und ich verblasse zusehends, löse mich einfach auf. Die Finger dieses Jungen spielen mit Omas Nadeln und steckt er eine dieser Nadeln in seinen Unterarm steckt. Einfach so. Rein und wieder raus. Noch mal hinein. Der Junge spürt nichts. So wie Oma mit der Stricknadel prüft, ob der Kuchen fertig ist. Noch eine Nadel. Die dritte, größere Nadel, in die Ellbogenbeuge. Eine in den Oberarm. Niemand mehr muss den verblassenden Jungen quälen, denn das tut er schon selbst und spürt dabei noch nicht mal was. In Omas Nähkasten gibt es viele Nadeln. Eine lange steckte er durch die Hose in den Oberschenkel und die nächste wandert in den Bauch – und diese kribbelt. Ganz so, wie es kribbelte, wenn man mit dem Bus über eine Straßenkuppe fährt. Ein schönes, sanftes Kribbeln. Der Junge lehnt sich an den Stuhl und schließt die Augen. Vielleicht gibt es ja gar keine Schmerzen? Vielleicht ist er schon tot. Nur durch nachdenken. Der Junge zieht alle Nadeln heraus und steht auf, verlässt das Wohnzimmer, schaut kurz nach der alten Frau, dann läuft er hinunter in die Kellerwohnung. Er weiß, dass dort auch ein Nähkästchen steht.

Langsam holt er die braune Holzkiste aus dem Schrank, klappt sie auseinander und entdeckt die Nadeln in einem Stoffkissen. Damit geht er ins Bad, stellt sich auf den Holzschemel und sieht den Jungen, der er nicht mehr sein will. Ein blasses Kind mit geröteten Augen und flachsblonden Haaren. Ein anderer. Ein Fremder. Keinesfalls jener, der sich am Waschbecken hält und Nadeln in den Bauch steckt. »Ich hasse dich«, sagt der vor dem Spiegel und wünscht sich, das Bild dort drin möge weinen oder Schmerzen haben. Wenn es nicht im Bauch weh tut, dann vielleicht im Hals. Doch auch diese Nadel fährt ins Fleisch und da ist nicht viel mehr als ein Kitzeln. Der davor lacht und dieses Nichts im Spiegel weiß nicht, wie ihm geschieht. »Na warte!«
Mit Wucht schlägt der Bub davor den Arm des fahlen Jungen im Spiegel auf die Kante des Waschbeckens. Ein zweites Mal und noch ein Schlag hinterher. So fest, dass in seiner Vorstellung alles brechen muss. Jeder Knochen. Wie der Donner auf den Blitz, so folgt der Schmerz nach einem Atemzug mit grellem Leuchten und reißt beide zu Boden, gefangen zwischen Wut und Ohnmacht. Ein Spiel im Zimmer, mit Papa. Licht an, Licht aus. Das Licht bleibt aus.

Als ich wach werde und in jedem Winkel ein Pulsieren spüre, weiß ich, dass dies meine Befreiung ist. Ab heute werden die Nadeln Bruder und Schwester sein. Das hat der andere Junge mir zugeflüstert. Ich stehe auf und ziehe sie aus meinem Fleisch. Jedes Ziehen ein kribbelndes vergnügen. Draußen scheint die Sonne. So hell und klar. Schnell wasche und trockne ich alles ab und verstaue die Kiste wieder. Meine Kiste. Ich gehe in Omas Garten. Alles um mich herum hat sich verändert, ist so scharf gezeichnet, dass ich meine, bisher nur geschlafen zu haben. Und noch etwas weiß ich.

Mama kommt von der Arbeit und holt mich bei Oma. Wir gehen schweigend in den Keller und sie packt die wenigen Lebensmittel aus, die sie auf dem Heimweg bei Edeka gekauft hat. Viel Fencheltee und Zwieback. Sie setzt sich neben mich, legt ihren Arm um meine Schulter und sieht mir tief in die Augen. »Weißt du, was der Doktor noch gesagt hat?«
»Nein. Was denn?«
»Er meinte, vielleicht läge es an der Schule. Eventuell hättest du Ärger und dein Körper reagiert auf diese Art.« Sie mustert mich eindringlich. »Deswegen frage ich dich nun, ob da was dran sein
kann? Hast du Ärger?«
Ich nicke. »Ja, ich habe Ärger«, gebe ich zu und denke an heute Morgen. Es gibt keinen Schmerz mehr. Und so erzähle ich Mama alles von Anfang bis Ende. Sie sackt mehr und mehr in sich zusammen und wird immer bleicher. Am Ende meiner Erzählung schweigt sie eine lange Zeit und kratzt ihre Finger, bis sie rot sind. Dann steht sie auf, zieht mich an mit und wir gehen schnurstracks zu Patricia. So endet meine kurze Freundschaft mit ihr. Zwar gehen Jeannes, Mama und ich am selben Abend zu der Mutter des mir bekannten Jungen, aber sie wirft uns hochkant raus. Dies täte ihr Sohn niemals! Die Aussage eines kleinen Dreikäsehochs gegen die Aussage von vier Jugendlichen! Was könnte da schon dran sein? Zu viel Fantasie? Wir zogen wieder ab und nach diesem Vorfall wechselt Patricia die Schule. Bald darauf ziehen sie weg. Wohl zurück in die Kaserne. Ich muss wieder alleine den Schulweg gehen.


Bild von Heiko Tessmann ©2008

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert