HudRvK | Kapitel 7

Das Schweigen

Ich komme früh von der Schule. Ausnahmsweise mal keine Verfolger unterwegs. Oma liegt auf der Couch, hat die Augen zu. Opa ist ebenso wie Mama arbeiten. In der Küche ist alles sauber. Mehr als sauber. Also erledige ich die Hausaufgaben. Sätze schreiben. In der Schule ist es schön. Die Blumen sind nicht alle gelb. Manchmal kann es regnen. Oma kommt in die Küche und sieht über meine Schulter.
»Das machst du gut, Heinrich.«
»Hat meine Lehrerin auch gesagt, Oma. Aber ich brauch das nicht. Ich kann schon alles schreiben.«
»Üben ist immer gut. Wer viel übt und fleißig ist, bringt es weiter als andere«, erklärt sie.
»Dann hat Papa aber nicht viel geübt.«
Die Kopfnuss trifft mich unvorbereitet. Der Stift fällt mir aus der Hand und rutscht übers Blatt. Ein Strich ist auf den Sätzen. Oma zieht das Heft weg, reißt die Seite heraus. »So! Noch mal von vorne anfangen«, befiehlt sie.
»Ja, Oma«, murmle ich kleinlaut und setze den Stift wieder aufs Papier. Dann fangen die Sirenen an zu heulen. Elf Uhr. Probealarm, erklärte Opa eines Tages. Erst Fliegeralarm, dann ABC-Alarm, dann Entwarnung. Oma schiebt mich beiseite, stürzt unter den Küchentisch und kriecht zur Eckbank. Sie hält sich die Ohren zu und öffnet den Mund. Opa sagt, ich solle sie lassen und abwarten. Das geht vorüber. Hast du keine Angst, Opa?, wollte ich damals wissen und wunderte mich. ‚Ich war in Russland. Da hab ich die Angst vergessen‘, erklärte er vielsagend. Ich überlegte. Vor was hatte ich Angst? Spinnen. ‚Vielleicht kann ich die Spinnenangst auch mal vergessen, Opa. Was meinst du?‘ Er hat gelacht.
Als ich den Bleistift spitze, verstummen die Sirenen. Ich krabble unter den Tisch und ziehe Oma hervor. »Ich hab Hunger, Oma. Was gibt es heute?« Sie blickt durch mich hindurch. Vielleicht auf die Tür hinter mir oder noch weiter weg.
»Tut mir leid, ich war zu müde, um zu kochen. Soll ich dir ein paar Arme Ritter machen?«
»Ist gut, Oma.«

Ein Stoß gegen meine Brust und ein Bein hinter mir. Ich lande auf dem Teer des Bürgersteigs. Split drückt sich in meine Handflächen. Keine Zeit für Schmerz. Ein Strahl Urin plätschert neben meinen Kopf in den Rinnstein. Ein zweiter Strahl folgt. Lachen und Schimpfworte. Nie mein Name. Vielleicht wissen sie ihn gar nicht, wollen ihn gar nicht wissen. Er interessierte sie nicht. Was mein Vater tut, das wissen sie.
»He, Sohn vom dreckigen Fensterputzer!«, johlen alle. Wie viel sind ‚alle‘ an diesem Tag? Ich weiß es nicht. Manchmal vier, dann wieder fünf Jungs, können aber auch mal sechs sein. Je nach Lust und Laune. Größer und älter. Was sonst. Mit ihren Händen an meinen Füßen, an meinem Hals, dem Schlag in den Magen. Sie drehen mich auf den Bauch. Mir wird schlecht. Die gelbe Pisse läuft langsam den Rinnstein entlang, nimmt eine verdorrte Tannennadel mit sich, Staub, den Dreck des Sommers.
»Los! Leck das auf!«, befehlen die Stimmen. Tue ich nicht. Niemals! Wo sind die Erwachsenen? Die Frauen und Männer? Die Omas und Opas, die hier wohnen. Auf einem anderen Planeten? Ein Knie im Rücken, Finger um meinen Nacken. Jetzt kommt der Schmerz.
»Trink, du Sau!« Ich bin zu schwach, den Kopf oben zu halten. So wandert mein Mund in den Rinnstein. Zu Dreck und gelber Pisse. Es gibt keinen Ausweg. Ich gebe auf und lecke dieses ekelhafte Zeug. Mir ist es egal. Ab jetzt. Es entsetzt sie.
»Der leckt ja wirklich!«
»Boah, die Sau!«
»Dreckiger Fensterputzersohn!«
Ich spüre tief in mir das Entstehen einer ungeheuerlichen Magmakammer. Das Licht der Welt erblicke ich in diesem Augenblick ein zweites Mal. Nicht die Welt der Siku-Autos, der sonntäglichen Spaziergänge, der saftigen Kirschen auf den Bäumen meines Onkels. Ich werde wiedergeboren in eine Welt aus Wut. Es folgt ein Tritt an meine Schläfe. Fast verschwindet das Licht um mich herum. Helles Pfeifen füllt meinen Kopf. Die Stimmen entfernen sich. Lachen. Johlen. Ich bin langweilig geworden.

Auf dem Tisch stehen Arme Ritter. Mal wieder. Oma spült das Geschirr. »Was ist passiert?«, will sie wissen und lässt alles Wasser aus dem Steingutbecken ablaufen.
»Bin hingefallen.«
»Zeig mal die Hände.«
Ich dreht die Handflächen nach oben. Dunkelblau angelaufene Striemen, kleinen Gräben gleich, an deren Enden steckt Split. Oma kratzt ihn mit dem Fingernagel raus. Das treibt mir die Tränen in die Augen. Aus einem Schrank holt sie ein braunes Fläschchen. Ich ahne Unheil. »Bitte nicht, Oma!«, flehe ich. »Es geht schon wieder.«
»Doch«, sagt sie harsch, fixiert eine Hand und kippt Jod drüber. Ich schreie auf. Schon folgt die nächste. »Das muss sein. Wenn es sich entzündet, wird es viel schlimmer!« Ich verstehe es nicht. Was kann schlimmer sein als Jod? Oder Pisse lecken? »Jetzt iss dein Mittagessen. Dann mach Hausaufgaben.«
»Ja, Oma«, sage ich und denke darüber nach, wie ich eine Gabel oder den Stift halten soll. Also esse ich mit den Fingern.

Samstag. Mama hilft Papa etwas zu putzen. Ein Büro oder so was. Sie sind einfach nicht da. Oma schickt mich nach draußen. Ich plündere ihren Garten, ziehe ein paar Möhren aus der Erde, ein Kohlrabi, rupfe Petersilie ab und setze mich neben die Stachelbeeren. Die Ameisen tragen emsig allerlei Fundsachen in ihren Bau. Etwas abseits kämpft so ein Winzling mit einer Wespe. Niemand verprügelt ungestraft eine Ameise. Tut er es dennoch, fallen deren Freunde in Massen über den Störenfried her. Das gefällt mir. Nach der ausgiebigen Mahlzeit zupfe ich noch zwei Handvoll der prächtigen Stachelbeeren und mache mich auf den Weg zu Markus. Er wohnte nur einige Minuten entfernt. Ein Klacks, wie Papa immer sagt. Aber der Klacks hat es in sich. Mein Blick ist stets wachsam. Jede Garageneinfahrt, jeder Busch im kleinen Park, überall können sie lauern. Die großen Jungs, denen so langweilig ist, dass sie mich zu ihrem Spielzeug auserkoren haben. Das Glück ist auf meiner Seite. Bei Markus angekommen, klingle ich Sturm. Der Türöffner summt. Noch bevor ich im zweiten Stock bin, höre ich die Schreie seines Vaters. Wir werden wohl draußen spielen müssen. Vor der Wohnungstür stoppe ich und luge durch den Spalt. Markus kleiner Bruder steht im Halbdunkel.
»Markus ist auf Klo«, flüstert er.
Ich nicke. Drinnen zerbricht Glas. Eine nicht minder laute Frauenstimme droht, mit Kind und Kegel die Wohnung zu verlassen. Endgültig. Jemand rennt und stößt gegen etwas. Markus’ Bruder drückt sich an die Wand. Dunkelgrüne Tapete mit gelben Streifen. Mehr Löcher als Streifen. Dann hört es sich an, als wäre der Teufel persönlich am Werk. Das Klatschen der Schläge versetzt mich in Panik. Markus taucht auf und schiebt seinen Bruder durch die Tür. »Wir müssen ihn mitnehmen, sonst ist er der nächste.« Wir fliehen in die warme Sommerluft. Hinaus ins wundervolle Licht unterm blauen Himmelszelt. Darauf hoffend, dass die großen Jungs nicht ebenfalls zum Spielplatz wollten.

Ich höre Mamas Schlüssel in der Tür. Sie kommt in den ersten Stock zu Oma und Opa. »Endlich Feierabend«, seufzt sie und begrüßt uns. Opa und ich sitzen vor dem Fernseher und blicken gespannt, wie Captain Kirk sich wohl aus dieser misslichen Lage befreien wird, in die er reingeraten ist. Mamas Hand streicht über meinen Kopf. »Gehen wir runter, Heinrich?« Ich will protestieren und lieber weiter den Sehnsuchtsort auf dem Bildschirm betrachten. Aber ihr Blick ist leer, die Bewegungen langsam. Mamas Hände zittern leicht. Sie sagt ‚Hilfe‘ und schweigt doch.
»Ist gut, Mama.« Ich gebe Opa einen Kuss. Er dreht sich nur halb, denn Spock taucht auf. »Adé, Opa. Bis morgen.«
»Adé, Heinrich. Gute Nacht.«
Wir gehen in den Keller. Einliegerwohnung. Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer in einem Raum. Gemütlich eng. Mama stellt Schwarzbrot auf den Tisch, ein paar Scheiben Käse, Gewürzgurken. Still verstreicht sie Butter, stoppt und schaut mich an. Dann macht sie weiter. Das Schweigen sinkt wie ein dunkler Theatervorhang auf uns herab. Die Luft wird knapp. Ich denke an so viel. Kann so wenig sagen. »Kommt Papa nicht?«, platze ich raus. Mama holt mit der Gabel eine Käsescheibe und legt sie langsam aufs Brot. »Mama?«
»Doch, doch«, nickt sie. »Bald … später.«
»Wo ist er denn? Noch arbeiten?« Ich weiß, dass Mama nie lügt. Für sie sind Lügen das Allerschlimmste, das Menschen sich antun können. Ihr Blick verändert sich. Das Leben kehrt zurück, als wir uns in die Augen sehen.
»Er ist trinken mit seinen Kumpels.«
Ich bin froh, Mama zu haben. Sie ist meine Insel im weiten Ozean.
»Mama? Darf ich was fragen?«
»Natürlich. Alles.«
Mein Mut löst sich in Luft auf. Kehrt aber zurück. Eine Gewürzgurke hin und her drehend, versuche ich krampfhaft an Markus zu denken. »Können wir Markus helfen?«
»Was ist mit Markus?«
Nun ist es raus. Obwohl ich Markus versprochen habe, nie etwas zu irgendjemandem zu sagen. Ich fange an zu weinen und erzähle. Gar nicht mehr aufhören kann ich. Mama steht auf und setzt sich neben mich. Den ganzen Tag ist Markus’ Papa daheim, berichte ich. Er schickt alle in den Keller zum Bier holen und Markus’ Mutter mit einem Schlag auf den Boden. Manchmal schafft sie es nicht von der Küche ins Bad, kommt nur bis in den dunklen Flur und setzt sich zum Weinen auf den Hocker. Wir kaufen für sie ein. Und Robert schleicht durch die Wohnung, von einem dunklen Eck ins nächste. Wir müssen Markus helfen! Mama drückt mich und blickt ins Leere. Weit, weit weg. Ein Ruck geht durch ihren schmalen Körper.
»Wir werden es versuchen, Heinrich.«

Das tut Mama. Zuerst beim Pfarrer. Der legt es in Gottes Hände. Bei der Polizei. Keine Anzeige, keine Polizei, sagt die Uniform vor uns. Mama erklärt mir ‚Anzeige‘. »Wir zeigen an, dass da jemand schlägt. Also muss auch jemand kommen«, widerspreche ich dem Polizisten. Er lächelt gütig, dann schiebt er uns zur Tür hinaus. »Und jetzt?«, frage ich zweifelnd. Mir ist nicht klar, ob Erwachsene wissen, was sie reden und tun.
»Wir gehen zu Markus‘ Mama«, sagt sie mit fester Stimme. Mir rutscht das Herz in die Hose. Das Versprechen habe ich schon gebrochen und nun wird alles rauskommen. Schon wieder schleicht das Bauchweh an mich heran. Sie trägt mir auf, herauszufinden, ob Markus‘ Mama an irgendeinem Tag in der Woche etwas unternimmt. Das ist nicht schwer. Einmal im Monat geht sie samstags zum Friseur. Markus und Robert dürfen mit, bekommen ein Eis oder fahren in den Wildpark. Mama sagt: Finde heraus, wann dieser Samstag ist, indem du fragst, ob du mitgehen kannst. Und dann rede so oft vom Wildpark, und wie gerne du mal hingehen würdest, dass Markus’ Mama gar nicht anders kann, als dorthin zu gehen.
Dieser Samstag kommt, und ich darf mit. An diesem Tag wartet Mama im Park, folgt uns, und als wir die Wildschweine fütterten, Markus‘ Mutter auf der Bank sitzt und raucht, nimmt Mama neben ihr Platz. Wir drei drehen uns um, die grunzenden Schweine im Rücken. Sie drücken ihre Steckdosennasen gegen unsere T-Shirts. Ich blicke auf den Boden, will gar nicht wissen, was Markus jetzt denkt. Doch es gibt keinen Ärger, keine Wut. Mama spricht unentwegt, umarmt Markus‘ Mutter. Die beginnt zu weinen. Ich sehe kurz zu den Schweinen und staune. Warum starren die uns alle an?

Papa sei nun anders, sagt Markus ein paar Wochen später. Seine Mutter, er und Robert wohnen bei der Oma. Der Papa komme jeden Tag mit Blumen und Geschenken, so Markus in der Schule. Nun sei alles wieder gut. Sie gehen alle drei wieder zurück. Es dauert nur ein paar Tage, dann will ich nicht mehr zu meinem einzigen Freund gehen, denn es ist noch viel schrecklicher als zuvor. An nicht wenigen Tagen fehlt Markus. Und mein Schulweg wird ebenfalls nicht sicherer. Aber inzwischen spüre ich die Dresche so gut wie nicht mehr. Pisse trinken täusche ich durch Schlürfgeräusche und ein stetes Auf und Ab der Zunge vor. Zudem puste ich in die gelbe Brühe. So sieht es aus, als lecke ich das Zeug auf. Ein Hund kann das nicht besser. Doch die großen Jungs lassen sich neue Dinge einfallen. Eines Tages ziehen sie mich in einen großen Haselnussbusch. Innen ist er wie eine Höhle. Platz für alle, von außen kaum einsehbar. »Hose runter«, befiehlt der Größte. Ich schüttle den Kopf. Auf keinen Fall. Sie fackeln nicht lange, halten mir den Mund zu, ziehen Hose und Unterhose runter und drücken mich bäuchlings auf den Boden. Es wird ruhig. Sie flüstern. Kichern. Ich denke selten an Gott. Aber in diesem Moment wünsche ich ihn bei mir. Oma beteuert, schwört, dass es ihn gibt, betet neben mir am Bett, wenn das Fieber mich schüttelt. Er hatte wohl gerade auf der anderen Seite der Welt zu tun als jemand ein raues, hartes Etwas in meinen Hintern schiebt. Ich presse einen Schrei in die Hand vor meinem Mund und klemme die Backen so fest zusammen, wie ich nur kann. Aber es tut um so mehr weh. Der Schmerz ist mächtiger als alles und legt eine samtene Nacht über mich.

So erwache ich. Auf dem Bauch. Alleine in diesem Haselnussbusch. Jede kleinste Bewegung versetzt mir schmerzende Stiche und fürchterliches Brennen am Hintern. Ich begreife, dass dort noch etwas steckt. Langsam taste ich die Stelle ab. Ein Zweig. Mir wird so schlecht, dass ich mich übergeben muss und vielleicht ist das auch mein Glück, denn jedes Mal, wenn es mir hochkommt, kann ich den Zweig ein Stück herausziehen. Da ist Blut in meiner Hand und auf dem Boden. Panik steigt auf. Ich denke an Krankenhaus, ziehe die Hosen hoch und stolpere nach Hause. Daheim setze ich mich auf die Toilette, sage immer wieder laut ‚Aua‘ und drücke ausgiebig auf die Spülung. Oma kommt rein. »Oma, das hat so weh getan. Der war ganz hart«, lüge ich.
»Wie lange warst du schon nicht mehr auf Klo?«
»Ich weiß nicht.«
Meine Wangen glühen.
»Du hast Verstopfung. Ich gebe dir Milchzucker.«
»Ich glaube, es blutet«, sage ich leise.
»Zeig.« Oma biegt mich nach vorne und drückt meinen Hintern in alle Richtungen. »Ja. Da ist Blut. Wasch dir den Po in der Wanne mit warmem Wasser. Dann mach ich dir Hametum-Salbe drauf.« Ich nicke und fühle eine tiefe Wut aufsteigen. In meinem Kopf ist das Bild eines Vulkans. Mama hat von ihm erzählt. Vesuv, heißt er und hat auf einen Schlag eine ganze Stadt ausgelöscht. Ich will dieser Vesuv sein.

Den ganzen Morgen sitzt Markus neben mir und starrt aus dem Fenster. Ich schubse ihn, wenn die Lehrerin seinen Namen aufruft und eine Antwort erwartet. Wenn sie nicht aufpasst, flüstere ich die Lösung in sein Ohr. Ich weiß nicht, was in seinem Kopf passiert. Was er denkt. Ob er mich nicht mehr mag. Markus schweigt. »Gehen wir zusammen nach Hause?«, frage ich nach der Schule. Er nickt. Fünfzehn Minuten Schweigen. Die Sonne verdampft den Regen der Nacht. Die Pfützen trocknen langsam und die Vögel baden ausgiebig darin. Markus sagt nichts. Wir erreichen die Kreuzung. Er muss nach links, ich nach rechts. Dann höre ich deutlich schnelle Schritte, Johlen, Schreie.
»He! Dreckiger Fensterputzer!« Dieses Mal sind es sechs.
»Lauf!«, rufe ich und schubse Markus weg. Aber er bleibt stehen und starrt den Berg hinauf, der heranrückenden Meute entgegen. Meine Beine wollen fliehen und doch gehe ich nicht von Markus’ Seite. »Markus …«, dann sind sie heran, umkreisen uns wie Geier, ziehen Gürtel aus ihren Hosen. Je zwei halten uns fest. Die Gürtel werden zu Peitschen. Metallene Schnallen ziehen Striemen auf unseren Gesichtern. Wir pressen Augen und Lippen zu. Es brennt wie verrückt. Ich rieche Blut. Dann ein ‚Achtung!‘ und die Tortur stoppt. Sie lassen von uns ab, schubsen uns zu Boden. Von der Seite sehe ich laut fluchend Oma kommen. Sie rennt so gut es in ihrem Alter und mit den steifen Schuhen geht. Die sechs Jungs lassen sich nicht beeindrucken. Im Gegenteil. Oma wird im Laufschritt umkreist. »Alte Schachtel!«, rufen sie. »Komm doch!«
Markus und ich stehen auf und ich fühle den Vulkan, die aufsteigende Magma. Wenn sie noch im Vulkan ist, heißt sie Magma, sagte Mama, denn dann weiß keiner von ihr. Sie ist unsichtbar. Erst wenn sie hervorbricht, wird es Lava. Meine Wut ist unbeschreiblich. Ungeheuerlich. Ich bekomme Angst vor ihr und stürme in die Runde der Sechs. Entgegen ihrer Laufrichtung. Der Aufprall wirft einen um. Gegen den nächsten springe ich und schlage ihm mit all der ausbrechenden Lava die Brille auf dem Gesicht entzwei. Splitter drücken sich in meine Hand, seine Haut, in Wange, Stirn, Nase. Er brüllt auf und fällt auf die Knie. Ich vergesse mich und wer ich bin. Vier bleiben übrig. Starren. Stehen wie angewurzelt. Mein Schuh landet im Magen eines weiteren. Er knickt ein.
»Heinrich!« Oma zieht mich am Kragen zurück. Ich tobe. Markus Blick trifft mich. Er rennt auf mich zu und umarmt Oma und mich. Seine Tränen laufen über mein Gesicht. All die Lava verpufft. In meiner Hand stecken zwei Scherben. Das Blut tropft auf die Straße. Niemand sagt etwas.

Ich bekomme keinen Ärger. Nicht von Mama und Papa. Der meinte: Richtig so, Sohnemann! Wenn sie auf dich losgehen, musst du mindestens zwei oder drei mit ins Krankenhaus nehmen! Er täuscht ein paar Boxerschläge an. Mama verdreht die Augen und nimmt mich auf die Seite, streicht über meine geschwollenen Wangen, die Krusten auf Stirn, Nase und untersucht die Schnittwunden. »Tut es noch weh?«
Es tut verflixt weh. Ich schüttle den Kopf. »Tut nicht weh«, sage ich.
»Richtig so«, freut sich Papa.
Mama schiebt mich ins Bad und reibt die Wunden mit einer Salbe ein. »Heinrich«, sie setzt sich auf den Toilettendeckel und stellt mich vor sich, »ich möchte das nicht noch mal erleben. Ich habe Angst um dich. Verstehst du das?« Nein. Aber ich nicke. »Du bist erst acht Jahre, aber schon ziemlich kräftig. So stark …«, sie kneift meinen Oberarm, »du kannst ganz leicht jemandem sehr weh tun.«
»Sie haben mir weh getan! Und Markus!« Oma fällt mir ein. »Und sie haben Oma ausgelacht!«
»Ja, das haben sie und bestimmt ist da noch mehr passiert, von dem ich nichts weiß. Oder?« Ich werde rot. Das ist ihr Antwort genug. »Beim nächsten Mal kommst du gleich zu mir. Und ich werde mit dir zu den Eltern der anderen Kinder gehen.«
»Mama«, ich denke an Markus. »Markus und Robert sind aber wieder daheim. Da sind wir auch hingegangen und jetzt ist es viel schlimmer als vorher.«
Sie senkt den Kopf, vielleicht sieht sie meine dreckigen Socken. Oder sie weiß keine Antwort. Mein Herz pocht heftig. Als sie mich wieder anblickt, hat sie eine Menge Tränen in den Augen, die langsam über die Sommersprossen in ihrem Gesicht laufen. »Ich weiß, Heinrich. Ich weiß.« Sie presst mich an sich. Wir halten uns fest.

Zwei Wochen vor den Sommerferien klingelt es am Samstagmorgen. Opa öffnet und ruft meinen Namen durchs Treppenhaus. Als ich die Kellertreppe hochstürme, steht Markus vor mir. Robert an der Hand.
»Hallo! Toll! Können wir spielen?« Sie sagen nichts. Beide zusammen waren noch nie zu Besuch und Markus nur ein paar Mal, weil sein Vater ihn nicht zu anderen Leuten lassen will. Als ich darüber nachdenke, spüre ich, dass etwas nicht stimmt. Mama kommt die Treppe hoch.
»Was ist? Wer ist es denn?« Sie entdeckt die beiden und lächelt. »Das ist aber schön. Kommt mit. Ich mache euch einen Kakao.« Sie dreht und geht runter. Wir folgen schweigend. Ein dicker Kloß wächst in meinem Hals. Als wir am Tisch sitzen, mustert Mama unsere Gesichter. Die Tassen bleiben unberührt. Kleine Pulverinseln drehen sich auf der Milch.
»Was ist los, Markus? Du kannst alles erzählen, das weißt du.«
»Wir ziehen weg«, sagt er unvermittelt. Mitten hinein in mein Herz. Ich erstarre. Mama lässt sich nichts anmerken. Ihr Lächeln ist wie eine Sonne über kaltem Nebel.
»In eine andere Stadt?«, hakt sie nach. Markus nickt.
»Nach Bochum, sagt Papa. Dort gibt es Arbeit. Dann wird alles besser.«
»Und wann zieht ihr um?« Mama ist unermüdlich. Ich will das gar nicht wissen und trinke einen
Schluck Kakao.
»Am ersten Ferientag«, sagt Markus.
»Wo ist Bochum?«, fragt Robert.
»Das ist im Ruhrgebiet. Man muss etwa vier Stunden mit dem Auto fahren«, weiß Mama. Ich stehe auf und gehe raus in den Garten, setze mich auf die Wiese und zerdrücke Gänseblümchen. Da wächst schon wieder Wut in mir. Warum? Ich weiß es nicht. Mama kommt, Markus und Robert an der Hand. Sie setzen sich mir gegenüber. Nichts geschieht. Die Sonne wandert langsam ums Haus. Der Schatten erreicht uns. Einen nach dem anderen. Ich wünsche mir, der Boden möge sich unter uns auftun. Vielleicht gibt es dort unten eine andere Welt. Aber Mama zieht uns alle an sich heran, umarmt uns wie eine Schlingpflanze den Jägerzaun meines Onkels. Jeder bekommt einen Kuss auf die Stirn. »Alles wird gutgehen«, flüstert sie.


Bild von Heiko Tessmann ©2008

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