Der Garten
Der Pfirsichbaum ist groß, die Früchte unförmige Bälle über mir. Zwischen den Blättern Ameisenkolonnen, summende Käfer und suchende Fliegen. In meiner Hand halte ich einen der Pfirsiche, betrachte ihn eingehend. Am rauen Stiel noch ein Blättchen. Dann beiße ich hinein. Fest und saftig, sein Fleisch leicht grünlich, der Duft in meiner Nase wie das Öffnen einer Schatztruhe. Konnte es etwas Schöneres geben? Ich stelle mir vor, den Baum leer zu essen, eine Badewanne voller Pfirsiche für mich zu haben, aus dem Duft einen Zaubertrank zu machen, wie ihn Merlin benutzte, um das Böse zu bekämpfen. Der Boden unter mir ist so warm und weich, das Moos um den Baumstamm feucht und hellgrün. Auf der Wiese brummen die Hummeln vom roten zum weißen Klee, landen auf Gänseblümchen, die sich unter dem Gewicht biegen; und als die Hummeln, davon ganz überrascht, auffliegen, strecken sich die kleinen Schönheiten erneut dem Licht entgegen. Ein zweiter Biss. Ich schlürfe den Saft aus der Kuhle, schmatze und wundere mich über die vielen winzigen Härchen auf der Pfirsichhaut. Warum spüre ich sie mit dem Finger und nicht mit der Zunge? Ein Schatten verstellt mir den Blick in den Baum. Mein Onkel. Er grinst.
Blitzschnell streckte er mir die zu einer Kugel geschlossenen Hände entgegen, stoppt unmittelbar vor meiner Nase und nimmt die obere Hand weg. Ein dicke Spinne mit endlos langen Beinen, Haaren und Klauen am Kopf sitzt in der anderen Hand. Grau, braun, starrend. Fast kann ich sie mit der Nasenspitze berühren. Ich schreie und krabble unter ihm hindurch, komme auf die Beine und renne, was die Füße hergeben. Ein anhaltendes Rufen stellt klar, dass er mir folgt. »Die Spinne! Die Spinne kommt!«
»Oma!«, schreie ich und spurte einmal ums ganz Haus, ein zweites Mal. Treppe hoch, an der Hecke vorbei, andere Treppe runter. Meinen Onkel im Nacken. An einer Ecke blicke ich zurück. Die Spinne hält er fest und schüttelt den Arm. Dann fällt sie auf den Boden und er hat nur noch zwei Beine zwischen den Fingern. »So ein Pech«, sagt er enttäuscht. Ein wenig ungelenk will sie fliehen. Mein Onkel zerquetscht sie unter seiner Sandale. Voller Ekel denke daran, dass er mit diesen Schuhen wieder unsere Wohnung betreten wird. Er lacht herzhaft. »Da hast du aber noch mal Glück gehabt«, meint er und lässt mich stehen. Ich zittere heftig und gehe ins Haus, die Treppe hinauf, öffne die Tür. Oma sitzt am Wohnzimmertisch und stopft Socken.
»Was war denn wieder los?«, will sie wissen, ohne den Blick vom Stopfei zu nehmen.
»Onkel hat mich geärgert! Er ärgert mich immer mit Spinnen! Das will ich nicht!«
Sie beißt den Faden mit den Zähnen durch. »Ach was, Spinnen machen nix. Stell dich nicht so an.« Ich gehe in die Küche und schlage Omas Zeitschrift auf, nehme ein Blatt, einen Bleistift und zeichne die Buchstaben all der Wörter nach, die drin stehen. Am Ende male ich eine Spinne drunter mit großen Augen.
Papa kommt nach Hause, stürmt ins Zimmer. Mama und ich sitzen am Tisch. Auf einem Teller hat sie ein paar Käsebrote angerichtet, saure Gurken in Streifen geschnitten und ordentlich oben drauf gelegt. Ich mag das sehr. Fast so sehr wie Pfirsiche.
»Hallo Schatz«, begrüßt er sie, gibt ihr einen Kuss auf die Backe und beugt sich zu mir. »Na, mein Kleiner? Was hast du heute gemacht?«
»Onkel Heinz hat mich wieder mit Spinnen gejagt«, berichte ich ihm. Er setzt sich.
»Nein! Ich muss mal mit ihm reden«, sagte er in tiefem Ton und legt die Hand auf den Tisch, formte eine Spinne und krabbelt dann auf mich zu. Ich schrecke zurück.
»Papa!«
Er lacht. Dann zieht er einen Hundertmarkschein aus der Hemdtasche. »Hier, Schatz. Kannst du morgen einkaufen gehen. Ich muss noch mal weg.« Er schweigt und spielt mit dem Geld. Die Stille dauert lang und ich spüre wie sich alles um mich herum verschiebt. Das Licht, die Luft, die wir atmen. Ich blicke zu Mama. Ihr Gesicht ist aus Stein. Mit den Fingern zupft sie den Käse in kleine Teile. Dann nickt sie.
»Robert feiert seinen Abschied vom Fußballverein und hat mich eingeladen. Wir treffen uns in der Mokkastube. Warte nicht auf mich. Wird bestimmt spät.« Mama sagt nichts. Steckt sich nur ein bisschen Käse in den Mund, dann eine Gurke. Ich höre sie kauen. Was drückt da nur auf meine Brust? So eine Enge, das Atmen fällt mir schwer. Ich rutsche von der Eckbank unter den Tisch, krieche auf der anderen Seite hervor und öffne die Glastür nach draußen. Hinter mir ist das Schweigen. Am Himmel über mir die kommende Nacht, wenige Sterne, weißes und rötliches Funkeln. Papa beugt sich über den Tisch, legt die Hand auf Mamas Unterarm. »Sei nicht böse, Schatz. Man hat ja nur einmal im Jahr Geburtstag. Morgen ist Samstag, da können wir was zusammen machen.«
Mama schwieg immer noch. Ein schmales Lächeln auf den Lippen. Sie sitzt wie versteinert, so weit weg wie die Sterne über mir. Mein Herz klopft laut. Was kann ich tun? Papa gibt ihr einen Kuss und entschwindet. Durch die Tür fällt das Licht auf den Rasen unter meinen Füßen. »Komm bitte rein, Heinrich«, höre ich sie sagen. »Es wird Zeit fürs Bett.«
»Ja, Mama.«
Es gibt hinten einen kleinen Raum in dem mein Bett steht, das Papa aus Spanplatten gezimmert und weiß lackiert hat. Der vordere Raum ist Küche, Ess- und Schlafzimmer in einem. Wenig größer als mein Zimmerchen. Als Mama die Tür zumacht, lauschte ich auf das, was sie tut. Geschirr spülen, der Wasserhahn quietscht, dann das Radio. Ein Mann erzählte etwas über einen Krieg. Vietnam. Das Wort höre ich oft. Ich knipse die kleine Lampe über mir an und ziehe eines der Bücher unter dem Bett hervor, die ich von Opa und Oma zu Weihnachten bekommen habe. Ein dickes Buch über Sterne. Auf einem kleinen Blatt zeichne ich die großen Buchstaben nach. SONNE, MERKUR, VENUS, ERDE, MARS, JUPITER, SATURN, URANUS, NEPTUN, PLUTO. Ich kenne alle Planeten und kann die Namen lesen. Sorgfältig übe ich das Schreiben. Große und kleine Buchstaben. Dann blättere ich weiter. Das Foto mit vielen Sonnen fasziniert mich, aber das Wort ist sehr schwer. PLEJADEN … Plei-aden … flüsterte ich. Weiter hinten im Buch ist es ein Bild, das die Doppelseite abdeckt. Eine große, strahlend helle Insel inmitten einer schwarzen Fläche. So schön, wie nichts, was ich bisher gesehen habe und sicher nie sehen werde. Das glaube ich fest. In meinem Bauch wächst ein Gefühl, das immer erwacht, wenn ich weit weg von zuhause bin. Mama nennt es Heimweh. Ich lausche in mich hinein. Es brennt wie ein kleines Feuer. Die helle Insel auf dem Papier muss meine Heimat sein, denn ich bekomme Heimweh, wenn ich sie anschaue. In kleinen Buchstaben steht unten rechts ihr Name: Andromeda.
Dann drängte sich ein Schluchzen in meine Ohren. Jemand weint. Ich klappe das Buch zu, lösche das Licht und lausche. Es ist Mama. Vorsichtig öffne ich die Tür. Ein schmaler, kurzer Durchgang schützt mich vor dem Gesehen werden. Langsam, Schritt um Schritt nähere ich mich der Ecke. Mama stützt ihre Hände auf die Spüle, den Kopf auf der Brust. Sie schluchzt leise, zittert, reibt dann die Augen und schnäuzt in ein Taschentuch. Das Weinen will nicht aufhören. Meine Füße werden kalt. Was soll ich jetzt tun? Dann sagt sie etwas. Zu leise. Ich halte den Atem an und den Kopf an die Kante der Wand. »Das bisschen Geld«, raunt sie. »Bringt das bisschen Geld. Versäuft den Rest.« Mit wem redet Mama? »Wie soll das reichen für uns?« Sie schüttelt langsam den Kopf. Dann sinkt sie auf die Knie, stützt sich mit den Händen auf den Beinen ab. Ich sah, wie meine Füße sich bewegen. Wohin? Was tue ich? Ich soll schlafen, hat sie gesagt. Morgen sei ein neuer Tag und bestimmt ein guter.
Sie hört mich nicht kommen. Eine tiefe Furcht umklammert meinen Hals, als ich die Hand ausstrecke. Ein paar Schritte noch. Sachte lege ich die Finger auf ihre Schulter. Nichts passiert. Vielleicht bin ich gar nicht hier und träume alles. Ein schlimmer Traum. »Mama?«, sage ich vorsichtig und weiß, ich bin hier und hellwach, meinen Kopf auf der Höhe ihrer Augen, ihrer Tränen, die einfach so laufen wie Wasser ins Waschbecken. »Mama? Was ist denn?« Sie dreht den Kopf und erschreckt. Mit einem schnellen Griff packt sie mich, steht auf, setzt sich auf die Eckbank und mich auf ihren Schoß. Ich versuche den Kopf zu drehen, in diese Augen zu sehen, nach links, dann rechts, aber sie hielt ihn einfach fest und drückt ihren Mund an meine Schläfe. »Pst, Heinrich, pst«, sind da Worte und Atem an meinem Ohr. Stetig wiederholend. So sitzen wir, bis meine Füße kalt werden.
»Mama, mir ist kalt.«
Sie trägt mich schweigend ins Zimmer. Wir legen uns ins Bett. Nase an Nase. Die kleine Decke reicht nicht für uns beide. Unsere Blicke wachsen zusammen wie Wassertropfen, die sich finden und durch die Welt wandern, auf der Suche nach ihresgleichen.
Was ich fühle, ist ein immer wiederkehrender, warmer Wind. Im Traum. Ein Sommerwind, wie er durch den Garten meines Onkels streift, die Blätter bewegt, den Duft von Äpfeln, Birnen, Pfirsichen und Beeren in meine Nase weht. Aber dieser Wind riecht anders. Vertrauter. Es fällt mir schwer, den Traum zu verlassen, doch als ich die Augen öffnete, sehe ich Mama vor mir liegen. So wie sie sich gestern Abend neben mich gelegt hat. Die Lider geschlossen, eine Hand auf meiner Hüfte, die andere unter ihrem Kinn. Ich hätte gerne die Sommersprossen in ihrem Gesicht gezählt, aber sie hat mich bis jetzt nur die Zahlen bis zwanzig gelehrt. Jede Hand zwei Mal. Ich spüre einen Drang auf die Toilette zu gehen. Wie soll ich aufstehen, ohne sie zu wecken? Langsam krieche ich unter der Decke hervor, zum Fußende des Bettes, von dort auf das breite Fensterbrett, lasse mich auf den Boden gleiten und verlasse das Zimmer. Jetzt muss es aber schnell gehen. Die Tür hinter mir zugemacht, flitze ich zum Badezimmer. Neben dem Esstisch steht das große Bett. Im Vorbeirennen entdecke ich Papa, der angezogen, Arme und Beine von sich gestreckt, quer darauf liegt und schnarcht. Er hört mich nicht. Die Klospülung drücken ist ein schwieriges Unterfangen, denn es kommt vor, dass der Hebel sich nicht mehr löst und das Wasser wie ein Wildbach durchs Rohr rauscht. Also klemme ich eine leere Klopapierrolle drunter, wie Papa es mir gezeigt hat und spüle dann. Vor dem Waschbecken steht ein Holzschemel. Ich stelle mich drauf und blicke in den Spiegel. Ein Grinsen. Die Zunge raus. Wie weit kann ich die Zunge rausstrecken? Mit der Zahnpasta schmiere ich einen Schnauzbart über die Lippe. Weiß mit roten Streifen. Dann stecke ich die Zahnbürste in den Mund und rauchte Peter Stuyvesant. Wie Papa. Ich höre nicht, wie Mama ins Bad kommt. Sie lacht. Ich werde rot und lege die Bürste zurück.
»Guten Morgen, der Herr«, begrüßt sie mich und drückt einen Kuss auf meine Stirn.
»Guten Morgen, Mama.«
Sie setzt sich auf den Badewannenrand und gähnt ausgiebig.
»Papa hat sich mit Kleidern ins Bett gelegt. Die stinken nach Rauch«, stelle ich fest.
»Ja«, nickt sie. »Das ist einem wohl egal, wenn man betrunken ist.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht, Heinrich. Ich war nie betrunken. Deshalb kann ich dir das nicht beantworten. Aber ich glaube«, sie krault meinen Hinterkopf, »es hat was mit Kontrolle zu tun. Man verliert die Kontrolle über alles, was man tut.«
Ich drücke meinen Kopf gegen ihre kraulenden Finger. Sie steht auf und stellt sich hinter mich. Man verliert die Kontrolle, wiederhole ich die Worte in Gedanken. »Und was ist Kontrolle?«
»Hm«, macht Mama und stellt sich neben mich. »Nimm mal deine Finger und greif ganz langsam und vorsichtig die Zahnbürste.« Ich greife nach der Zahnbürste. »Halt«, stoppt sie mich. »Zu schnell. Pass auf.« Mama hebt die Hand so langsam, dass ich kaum eine Bewegung sehe, dann strecken sich Finger und Arm zur Zahnbürste. Ein Geduldsspiel.
»Das ist wie Mikado!«
»Genau, du Schlaumeier!«, ruft sie. Aber statt zur Zahnbürste, packt sie schnell den Waschlumpen, macht ihn nass und drückt ihn mir ins Gesicht.
»He …«
»Der Schnurrbart muss weg, bevor er antrocknet«, mahnt sie. Dann tippen ihr Finger auf meinen Kopf. »Da oben in deinem Kopf ist dein Gehirn. Das ist der Chef. Nur wenn dein Gehirn sagt, dass sich deine Hand bewegen soll, tut sie das. Wenn da Bier und Schnaps ins Gehirn kommen, weiß es nicht mehr, was es tut. Klar?« Mein Gesicht glänzt feucht.
»Klar, Mama. Aber …«
»Aber was?«
»Warum tut man dann überhaupt Bier und Schnaps da rein? Weiß das Gehirn nicht, dass es dann kein Chef mehr ist?« Sie lacht, steigt aus ihrer Unterhose und setzt sich auf die Kloschüssel. Ich lausche dem Plätschern. Dann winkt sie mich hinaus und lacht immer noch.
Es gibt Frühstück. Spiegelei auf Toastbrot. Ich hole aus Omas Garten zwei Gurken. Mama gibt mir ein Messer und ich schneide so gut ich kann Scheiben von den Gurken. Dicke und dünne. Als das Wasser kocht für den Kaffee und Mama es in kleinen Schlucken in den Trichter gießt, wird Papa wach. Er stöhnt, blinzelt gegen das helle Fenster, reibt sich den Kopf. »Was ist?«, krächzt er.
»Frühstück«, sagt Mama. »Kaffee.«
»Oh …«
Ich zerlege das Spiegelei-Toastbrot mit Messer und Gabel in Einzelteile und stecke mir eines davon in den Mund. Offenbar fällt Papa es schwer aufzustehen und an den Tisch zu kommen. Er schwankt, hält sich an der Bettkante fest, an der Stuhllehne und quält sich auf die Eckbank. Mama pustet einen Schwall Luft von sich. »Du stinkst, Rudolf. Willst du nicht erst baden?« Er schielt sie an. Ich erschrecke. Seine Augen sind schmale Schlitze und das Weiß darin so rot wie Blut.
»Papa, deine Augen sind ganz rot. Bist du krank?«
»Ach was«, winkt er ab. »Nur Zigarettenqualm.«
»Geh bitte erst baden. So will ich dich nicht am Tisch«, erklärt Mama mit fester Stimme und blickt ihn mit hochgezogener Augenbraue an. Wenn sie das tut, dann ist nicht gut Kirschen essen mit ihr, wie Opa mal meinte. Ich beobachte beide abwechselnd und kaue mein Spiegelei. Dann steht Papa auf und geht ins Bad. Vor der Terrassentür wird es dunkel. Jemand klopft. Es ist Opa, die Hände hinter dem Rücken. Mama öffnet.
»Guten Morgen«, begrüßt er uns.
»Magst du einen Kaffee, Hannes?«
»Gerne. Ich habe euch was mitgebracht.« Vorsichtig zieht er den rechten Arm nach vorne. Eine Schüssel kommt zum Vorschein und darin ein ganzer Berg Brombeeren. Große, schwarze Beeren! »Heinrich kriegt große Augen«, meint Mama und Opa setzt sich. Er stellt die Schüssel mitten auf den Tisch und ich überlege, einfach hineinzugreifen in diese schwarzen Köstlichkeiten. Mama kommt mir zuvor, indem sie eine Handvoll auf mein Brettchen legt.
»Hier, probier mal. Wenn sie gut sind, backe ich einen Kuchen«, fordert sie mich auf. Schnell stecke ich zwei in den Mund, beiße hinein und kneife ein Auge zu. Schlagartig habe ich das Gefühl, jemand lässt meine Zunge schrumpeln. Mama lacht schon wieder.
»Na? Wie schmecken sie?«
Ich schlucke. »Gut, aber das war ganz …«, ich suche nach dem Wort.
»Herb«, ergänzt sie. »Das nennt man herb. Ein bisschen bitter, säuerlich. Alles zieht sich zusammen, nicht wahr?« Sie hebt die Hand und krümmt die Finger.
»Genauso«, gebe ich ihr recht. Opa lacht und knufft meine Schulter. »Wie ist es? Gehen wir nachher spazieren?«
»Wohin gehen wir denn?«, will ich wissen. Er überlegt.
»Hm, wie wäre es, wenn wir ins Grösseltal wandern und Kresse sammeln?«
»Au ja«, rufe ich. Ein Krachen, ein Schrei. Etwas Großes zerbricht mit Getöse. Dann zischt es deutlich aus dem Flur. Mama springt auf, rennt Richtung Badezimmer.
»Rudolf?!«
Wir stehen im Türrahmen und starren gebannt auf das, was sich im Badezimmer abspielt. Opa, Mama, ich vor ihnen. Niemand bewegt sich. Papa windet sich in der Wanne. Aus der Wand schießt ein enormer Wasserstrahl an die gegenüberliegenden Kacheln, das Waschbecken liegt in Trümmern auf dem Boden. »Rudolf?« Mehr schafft Mama nicht zu sagen.
»Tut was!«, schreit Papa.
Nach einem Atemzug reagiert Opa. Er rennt nach nebenan in den Keller und stellt das Wasser ab. Der Strahl aus der Wand versiegt. Inzwischen läuft es als Bach aus dem Badezimmer in den Flur. Mama flucht. Und das tut sie nicht sehr oft. Ich entscheide mich, ruhig zu sein. Auf der Treppe höre ich Schritte. Omas harte Schuhe. »Hannes!?«, ruft sie, dann steht sie neben uns. »Was ist denn los? Das Wasser ist weg. Ich will kochen!« Sie schiebt mich weg, dann bemerkt sie den nassen Boden im Flur. »Ach du lieber Gott! Was ist denn passiert?«
»Ja«, sagt Mama. »Was ist denn passiert, Rudolf?«
»Ich wollte nur meine Füße im Waschbecken waschen. Bin ausgerutscht«, erklärt er.
Oma, Opa und Mama starren sich an. Ein seltsames Schweigen. Dann bricht Opa in schallendes Gelächter aus und zieht mich weg. »Komm, Heinrich. Wir gehen spazieren.« Mama nickt mit zusammengepresstem Mund.
Wir wandern den Wasserleitungsweg entlang. Hier kenne ich jede Bank, jeden Ameisenhaufen am Wegesrand. Aus dem Meer umgefallener Tannen ragen einzelne Stämme mehr oder weniger gerade in die Höhe. »Schau nur«, zeigt Opa auf die noch stehenden Bäume. »Ein Wunder, dass die stehen geblieben sind.« Ich folge seinem Finger, sage nichts, denn ich weiß nicht, ob es ein Wunder ist oder wie ich das Wort Wunder mit den kläglichen Überresten des Waldes zusammenbringen soll. Was ist ein Wunder?
»Erinnerst du dich an den Tornado?«
Erinnere ich mich an den Tornado? Ich war in dieser Nacht nicht wach geworden, obwohl Oma, Opa, Tante und Onkel bei uns im Keller Schutz suchten. Nur an den Morgen und die Tage danach habe ich Erinnerungen. Es war ja alles kaputt. Der ganze Wald einfach weg. Die Welt zeigte sich in sonderbaren Bildern. Nachbars Auto auf der Garage, das Haus ohne Dach, die Straße voller Gerümpel und noch mehr kaputte Autos, Äste, Bäume, ganze Häuserwände fehlten hier und da. Der höchste Baum der Straße, ein Mammutbaum, wie Mama sagte, hatte das Haus des Doktors wie ein Butterbrot in der Mitte durchgeschnitten.
»Was ist denn ein Tornado?«
»Ein Wirbelsturm.« Opa räuspert sich. »Ich dummer Kerl! Jetzt hab ich ein Wort gesagt, dass du gar nicht kennst, oder?« Ich schaue zu ihm auf und schüttle den Kopf. »Na ja«, fährt er fort. »also hier unten bei uns ist es warm. Da oben«, er blickt empor zum blauen Himmel, »ist es kalt. Wenn es warm ist, dann verdunstet das Wasser hier unten und geht da hoch. Große Wolken entstehen. Ein Gewitter.«
»Mit Blitz und Donner!«, platze ich raus.
»Genau. Ein kalter Wind oben in eine Richtung, ein warmer Wind hier unten in die andere. Und das ganze Gewitter fängt an, sich zu drehen. Verstehst du?« Er stoppt, breitet die Arme aus, drehte sich im Kreis und faucht. Mir fällt die Badewanne ein. Papa zieht den Stopfen, das Wasser dreht sich im Kreis und gluckert durchs Loch.
»Wie in der Badewanne, wenn Papa das Wasser ablässt!«
»So ist es«, bestätigt er. »Und der Tornado dreht sich so schnell, dass er alles ausreißen kann.«
»Aber nicht unser Haus!«, triumphiere ich. Es war eines der wenigen Häuser, das nur ein paar Dachziegel eingebüßt hatte.
»Wir haben Glück gehabt, Heinrich. So richtiges Glück.«
»Mh.«
Opa nimmt meine Hand und wir marschieren weiter. Ich schaue hinunter ins Tal, über die vielen abgerissenen Tannen hinweg. Was für ein Glück wir doch hatten.
Endlich sind wir im Grösseltal. Wie kühl ist es dort am Talgrund, im Schatten der großen Bäume, die den Bach säumen. Opa steht im Wasser und zupft Bachkresse vom Rand. Ab und zu ruft er mich und deutet auf kleine Fische. »Forellenbabys«, sagt er. Ein paar Mal holt er Flusskrebse unter einem Stein hervor, lässt mich sie eingehend betrachten, die kleinen Scheren, auf der Suche nach jemandem, den es zu kneifen gilt. Dann setzt er sie wieder hinein. »Man kann sie essen«, erklärt er, »aber es gibt nicht mehr viele, also lassen wir sie lieber hier. Dort, wo sie leben, ist das Wasser ganz besonders sauber.« Ich war unbedingt einverstanden, denn sie sehen nicht nach etwas aus, das ich essen will. Als Omas Strohtasche voll ist, legen wir uns ins Gras und zählen die Wolken. Ich bin froh, dass Opa heute glücklich ist und nicht still wird, an etwas aus dem Krieg denkt und weint. Das will ich ihm unbedingt sagen.
»Opa?«
»Ja, Heinrich?«
»Bist du heute nicht traurig?«
Lange sagt er nichts. Die Sonne wandert ein gutes Stück weiter. Schatten kriechen an unseren Beinen entlang. Vielleicht habe ich etwas Falsches gefragt? Dann legt er eine Hand auf meinen Unterarm. »Nein, heute nicht. Heute ist es weit weg. Hier ist es so friedlich.« Er stützt sich auf die Ellenbogen. »Manchmal kann Krieg auch friedlich sein. Einfach so. Mittendrin. Man glaubt es kaum, aber das gibt es.«
»So wie jetzt gerade?«, wundere ich mich.
Er nickt und steht auf. »So wie jetzt gerade.« Er reicht mir die Hand und ich greife danach. »Komm. Jetzt essen wir noch ein Eis in der Gaststätte, dann gehen wir nach Hause.« Er zieht mich auf die Füße. Ein Eis! Ich weiß, welches es werden soll.
Als wir nach Hause kommen, steckt mich Mama in die Badewanne. An der Stelle des Waschbeckens schaut ein Rohr aus der Wand, zwei Leitungen, Reste von Schrauben. Alles ist wieder trocken. Papa ist mit Onkel Heinz zu dessen Freund gefahren, der ein Waschbecken übrig hat. Nach dem Baden helfe ich Mama, die viele Kresse zu waschen. Sie riecht herrlich. Immer wieder stecke ich einige Blätter in den Mund.
»Ist das nicht zu scharf, Heinrich?«, staunt Mama.
»So wie Omas Meerrettich.«
»Das wär mir zu scharf«, lacht sie und gibt mir ein Päckchen Butter. »Du darfst sie ein paar Minuten in den Händen halten, damit sie weich wird. Dann machen wir Kressebutter.« Ich nehme es zwischen die Beine und sortiere weiterhin Gräser und andere Pflanzen aus der Kresse.
»War Opa heute traurig?«, fragt Mama nach einer Weile.
»Nein. Er hat gesagt, manchmal ist es im Krieg ganz friedlich.«
»Erzählt er dir viel vom Krieg?«
Ich stecke viel Kresse in den Mund. Er ist mein Lieblings-Opa. Immer bekomme ich Bücher und manchmal Eis und Süßigkeiten. Jetzt muss ich doch husten. Zu viel Schärfe auf einmal. Mama grinst. »Also doch zu scharf?«
»Nur ein bisschen«, japse ich. In meinen Ohren hörte ich ein Rauschen, wie beim Wasserstrahl aus der Wand. »Ui!«, rutscht mir raus und ich renne zum Wasserhahn, trinke hastig einige Schluck. Die Butter ist auf den Boden gefallen. Ich hebe sie auf.
»Gib mir die Butter, Heinrich. Ich schneide jetzt einiges von der Kresse ganz klein und du darfst sie dann mit der Gabel in die Butter drücken.« Ich nicke und denke nicht mehr an Opa. »Und? Erzählt er denn noch viel vom Krieg?«, fragt sie erneut.
»Nur manchmal. Von seinen Kameraden.«
»Aha. Weißt du, was Kameraden sind?«
»Seine Freunde.«
Sie wiegt den Kopf hin und her. »Hm, so was in der Art. Ich glaube, manchmal sind es mehr als Freunde. Am besten aber ist es, gar keinen Krieg zu machen.« Keinen Krieg. Das sagt auch Opa immer wieder. Aber es gibt den Krieg, überlege ich. Was war da nicht richtig? Mama schneidet die Kresse klein.
Die Wohnungstür geht auf, Papa kommt. Die Stimme meines Onkels redet unverständliche Worte, etwas schlägt an die Wand, dann an die Holztür zum Badezimmer. »Vorsichtig, Rudolf!«, höre ich Onkel Heinz ängstlich rufen. Sie schließen die Tür hinter sich und begannen mit der Arbeit. So klingt es jedenfalls.
»Da bin ich mal gespannt, ob die beiden das hinbekommen«, meint Mama und schiebt den Berg Kresse in die Schüssel mit der Butter. »Jetzt kannst du anfangen, Heinrich. Schön gleichmäßig hineindrücken.«
»Ist gut, Mama.«
Papa raucht draußen auf der Wiese, Mama deckt den Tisch. Ich halte beide Zeigefinger an die Stirn, stoße heftig Luft aus und ramme meinen Stierschädel in Papas Hintern. Wieder und wieder, mit Anlauf. Dann drückt er die Zigarette im Aschenbecher aus und geht hinein, schnappt sich ein Geschirrspültuch und stellte sich mitten ins Zimmer. »Olé«, ruft er. Mit halb gesenktem Kopf versuche ich das Tuch zu treffen, aber Papa schwenkte es kurz davor nach oben. Er lacht und läuft wieder hinaus. »Olé, kleiner Heinrich-Stier!« Wieder raus aus der Küche. Aber das blau-weiß gestreifte Tuch verschwindet erneut.
»Du bist zu groß!«, beschwere ich mich.
»Natürlich bin ich groß. Bin ja schließlich der berühmte Torero Al-Andaluz.«
Ich laufe eine Kurve und ramme dieses Mal ihn. »He!« Papa schwankt kurz. »Ganz schön fies«, meint er.
»Essen kommen!«
»Uh! Die Chefin ruft.« Er rennt hinein, kniet sich hin und hält das Tuch neben seinen Kopf. Mein Zeichen. Den Weg kennend, stürme ich los, über die Türschwelle. Für einen Moment drehe ich die Augen nach oben, um zu sehen, ob die Richtung stimmt, bin kurz vor dem Tuch. Aber Papa zieht es blitzschnell weg und ich sehe die Kommode direkt vor mir. Mit der Nase krache ich in vollem Lauf gegen die Kante. Es wird Nacht.
Alles ist seltsam leicht. Bis ich merke, dass ich in der Luft hänge, von jemandem gehoben. Den Kopf über der Badewanne. Unter mir ein Meer aus roter Farbe. Wo kommt das her? Dann dringen Worte durch eine dicke Wattewand in meine Ohren. Sie werden immer lauter. Es sind Schreie. Mama schreit. Und das rote Zeug läuft aus mir heraus. Warum? Das Wort ‚Blut‘ dämmert mir. Mein Blut! Ich fühlte plötzlich den Schmerz und fange ebenfalls an zu schreien, nein, zu weinen! Oder ist es beides auf einmal? Ein roter Wasserfall fließt aus meiner Nase. Jetzt kann ich es spüren. Den komischen Blutgeruch. Mir wird schwindelig.
»Spül das runter!« Wieder Mama. Jemand stellt das Wasser an und mein Blut wird ganz durchsichtig. Was aus mir herausläuft, folgt dem Strom ins dunkle Loch. »Tu was!«, verlangt Mamas Stimme. Mir wird schlecht und ich übergebe mich. »Oh nein«, höre ich sie sagen. »Nimm du ihn!« Ich werde herumgereicht wie ein nasses Handtuch. Mein Kopf kippte nach hinten und ein Schwall Blut fließt meine Kehle hinab. Umgehend erbreche ich es wieder.
»Rudolf, Rudolf …«
Ein eiskalter Waschlappen legt sich auf meine Nase. Der Schmerz! Ein zweiter Lumpen in den Nacken, ein dritter auf die Stirn. Mir fällt das Bild einer Gießkanne ein. Wie viele Blumen kann ich mit einer Gießkanne voll Wasser gießen? Ich bin eine Gießkanne. Voller Blut. Was passiert, wenn kein Blut mehr drin ist? Mama wechselt die Waschlumpen. Wieder und wieder. Mein Onkel kommt mit Eiswürfel. Jemand legt sie mir in den Nacken. Alle Erwachsenen sagen etwas, immer wieder. Mama, Papa, Onkel Heinz. Mir ist es egal. Es soll aufhören. Ich bin so müde und will nur noch schlafen. Das Gefühl für Zeit ist weg. Morgen früh werde ich Pfirsiche essen, denke ich. Und nach den Stachelbeeren schauen und vielleicht schon eine von den rotgrünen Birnen nehmen können. Das ist es, was ich will. Und keiner darf mich stören. Keine Spinnen, keine Toreros.
Bild von Heiko Tessmann ©2018