HudRvK | Kapitel 1

Opas Krieg

Die Schatten der großen, weißen Juliwolken wandern bedächtig über den Talboden, legen dunkle Teppiche über Häuser, Straßen, den Fluss und die Menschen, die ich von hier oben gar nicht sehen kann. Ich stelle sie mir einfach vor. Der Wald um uns herum existiert nur noch in Form einer wüst aussehenden Fläche, bestehend aus unzähligen umgeworfenen Tannen und Fichten. Vereinzelt stehen hier und da zerzauste Reste. Obwohl es von diesem Weg sehr weit ist ins Tal hinab, erkenne ich dort ebenso die Spuren der Verwüstung. Kaputte Dächer, Bäume im Fluss. Ich begreife nicht, wie ein Wind so etwas zustande bringen kann. Einzig, dass wir nun auf unseren täglichen Spaziergängen der heißen Julisonne ausgesetzt sind, und nicht mehr im Schatten des kühlen Waldes wandern, ist für mich existent. Eine Nacht, und die Welt um mich herum hat sich völlig verändert. Ich rutsche auf der Sitzbank näher an Großvater heran. Er nimmt meine Hand und drückt sie fest, als halte er mich vor einer Unbedachtheit zurück.
»Weißt du, Heinrich, das hier …«, und seine linke Hand beschreibt einen Bogen um uns, »das erinnert mich an eine Menge …«
»An was denn, Opa?« Meine Frage erreicht ihn nicht. Sein Blick ist starr auf die Baumwüste vor uns gerichtet.
»Ist das nicht furchtbar, wie es hier aussieht?«
»Mh, alle Bäume sind kaputt. Und da unten die großen Masten, die sind auch kaputt.«
Die Kraft, die meine Hand hält, ließ nach und er reibt sich mit einem Taschentuch übers Gesicht. Schweiß bildet sich auf seiner Stirn, in den schlecht rasierten Grübchen am Kinn, zwischen den Falten an seinem Hals. Er gluckst, dann quellen Tränen aus Opas Augen, kullern die Wangen hinunter und fallen auf sein hellblaues Hemd. Mir stockt der Atem.
»Opa?«
Statt einer Antwort drückt er meine Hand und presst die Lippen aufeinander. Wieder und wieder schüttelt er den Kopf, als wäre er verwundert oder verneint eine bedeutsame Frage. Dann schluchzt er los, ohne Halt, gibt meine Hand frei und dreht sich weg. Ich stehe erschrocken auf und gehe zum gegenüberliegenden Wegesrand. Da recken sich Butterblume und Fingerhut in den weiten Himmel. Fingerhut!, denke ich und rücke ein Stück ab. Vor dem Oma immer mit einem ‚Oweh‘ warnt. Wie gern hätte ich einmal diese schönen lilafarbenen Blüten berührt. Aber sofort bei Berührung würde ich tot umfallen, so meine Vorstellung. Also schaue ich wieder zu Opa, der sich an die Rückenlehne der Bank drückt und heftig atmet.
»Opa?«
»Komm her, Heinrich.« Er winkte mich zu sich. »Setz dich neben mich. Dann kannst du mich besser beschützen.« Ich weiß nicht, wie ich diesen großen Mann beschützen soll? Wenn er das nicht kann? Wer dann? Aber ich setze mich wieder und starre auf meine gelben Socken, die in kleinen Ledersandalen stecken. Ein kleines Steinchen hat sich zwischen Fuß und Sohle geschlichen.
»Weißt du, vor vielen Jahren gab es einen großen Krieg. Und ich war da mittendrin.«
»Einen Krieg?«
»Ja, einen sehr großen und schrecklichen Krieg.«
»Was ist ein Krieg?«
Er mustert mich wie etwas, das man nicht alle Tage sieht. »Na, du bist erst vier Jahre. Da weißt du natürlich nicht, was Krieg ist. Und ich hoffe, du wirst es niemals erleben. Da passieren schlimme Dinge, in so einem Krieg. Die Menschen sind keine Menschen mehr.«
»Was sind sie dann?« Ich denke an Hunde. Spinnen fallen mir ein und Ameisen. Unwillkürlich bekomme ich Angst und rutsche näher an ihn heran.
»Sie sind böse.« Erneut starrt er hinunter ins Tal. Ich folge seinem Blick. Da gibt es nichts Aufregendes zu entdecken. Seine Worte schwirren durch meinen Kopf. ‚Sie sind böse‘, sagte er. Die Menschen im Krieg sind böse. Er war doch auch in diesem großen Krieg.
»Warst du auch böse, Opa?«
Er nickt leicht, steht unvermittelt auf. »Komm, wir gehen wieder zurück. Oma hat bestimmt schon Kaffee und Kuchen auf dem Tisch.« Ich schüttle meine Sandale aus, dann marschieren wir los. Die Sonne nun im Rücken, um uns herum all die umgeworfenen Bäume.


Bild von Heiko Tessmann ©2018

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