Prüfungen

Kapitel 16

Blätter über Blätter. Kassel? 35. Augsburg? 89. Singen am Hohentwiel? 77. Kiel? 24. Oldenburg? 29. Dortmund? 46. Fulda? 64. So geht es weiter. Die Postleitzahlen wurden 1961 entlang der Hauptstrecken der Bahn angelegt. Von oben betrachtet, macht die Zahlenverteilung überhaupt keinen Sinn. Die Fragen drehen sich. Hinter welcher Zahl versteckt sich welcher Ort? Platz für die Fallen. 37, 91, 14? Gibt es nicht. Frei für die DDR, falls mal jemand auf die Idee käme, die Mauer einzureißen. Welche Dienste bietet die Bundespost an? Natürlich auch den Renten-Service, eine hoheitliche Aufgabe, die Bahnpost, Postbusse, Telegramm, Fernmeldeamt … nach drei Stunden bin ich fertig und gehe in die Kantine. Silvia sitzt mit zwei Kolleginnen am rechten Fenstertisch. Ich nicke ihr zu, kaufe zwei Bockwürste samt trockenem Brötchen und Senf, dann hocke ich mich zu Walze und Hardy.

»Hättste mir Bockwurst mitbringen können«, sagt Walze. »Ich hab heute wesentlich mehr Hunger als gestern.« Schweigend stehe ich auf, hole noch vier Ladungen, denn Hardy wird sich ebenfalls melden, wenn er das sieht. Der Tisch ist voll. Vier Flaschen Export, leer, zwei Cola, die Würste.
»Danke«, kommt es von beiden wie aus einem Mund. »Geld geb ich dir alsbald zurück.«
»Behalt dein Geld, Walze. Ich gebe einen aus.«
»Oho! Warum?«
»Erste Prüfung hinter mir.«
Er kippt die Cola in sich hinein. Ein unterdrückter Rülpser bringt den ganzen Kerl zum Zittern.
»Das ist gut«, sagt Hardy, beißt in die Bockwurst und schleckt den kompletten Senf in Nullkommanix vom Pappkarton.
»Ja«, gibt ihm Walze recht. »Kommt ja nicht mehr viel Nachwuchs zu uns. Wir können ja schon jetzt nicht mehr alle Stellen besetzen.«
»Aber du musst auch unten bei uns bleiben, nicht die Treppe hochfallen. Da oben stehen schon genug, die nix können«, meint Hardy. Dann schielt er auf die leeren Export-Flaschen.
»Soll ich Nachschub holen?« Er nickt. Silvia und die beiden Kolleginnen stehen auf. Sie schaut her. Ich greife nach dem Leergut. Gleich muss ich weinen und das kommt nicht in Frage. Nicht hier.


Natürlich ist sie nicht in meiner Wohnung. Und auch bei ihr macht niemand auf. Also bleibt mir nichts, als zur ARAL laufen, Tabak, Blättchen und Luckys holen, eine Flasche Southern, die sie sich fürstlich entlohnen lassen, um dann Richtung Franziskus-Kirche zu gehen. Kopfschütteln hin und wieder, dem Irrsinn dieser Situation habe ich nichts entgegenzusetzen. Menschen stehen vor dem Universum; was dort für Filme laufen, interessiert mich nicht. Ein wunderschöner Komet hat meine Bahn gekreuzt, sich aber nicht von meiner Gravitation irritieren lassen und zieht weiter seine Bahn. Zehn Minuten später bin ich in der Erbprinzenstraße, ein gelber Lkw kommt mir entgegen. Wir grüßen uns.

Vladimir ist schon vor Ort, der Spätdienst steht auf der Rampe, aus dem Gleis werden die Waggons rausgezogen. Sicher kommen vier weitere. Besser noch, zwei Transwaggons werden gebracht, 44 Behälter passen in solch ein Ungetüm. Allein für das Öffnen der Seitenhälfte benötigt man eine Menge Kraft. Ich grüße die Kollegen, gehe in die große Halle, stelle den Southern auf den Tisch, Cola gibt es noch im Aufenthaltsraum. Richard kommt, unser Dauernachtdienst tuender Getränkelieferant.
»Ich hole morgen Export, Cola, Fanta und Pils und sammle Geld ein.«
»Wie viel?«
»Fünfzehn Mark.«
Ich gebe Richard das Geld. »Wie viele Waggons kommen noch?«
»Zwei«, sagt er beim Hinausgehen. Nur noch zwei. Das wird eine gemütliche Nacht. Einzig die grellen Neonlichter machen mir zu schaffen. Nach einer Stunde tränen meine Augen, weswegen ich die mittlere Reihe abschalte, dann hinausgehe und beim Entladen helfe. Die beiden Rangierer kaufen Richard einen Kasten Export ab. Manchmal ist es besser, wenn die Menschen um uns herum nicht genau wissen, was wir tun.


»Wir müssen nur dreißig Behälter mache?«
»Sag lieber ‚verteilen‘, Vladimir. Mache oder machen ist so ein Allerweltsbegriff. Verteilen ist besser.«
»Da.«
»Da?« Richard kratzt das Etikett von der Flasche. »Was ist Da
»Ja«, sage ich. »Da heißt Ja.« Vladimir nickt und pellt das erste Ei. Von zehn. Es riecht nach Stinkbombe. Richard schiebt sich samt Stuhl einen Meter zurück und schnuppert in die Exportflasche.
»Mann! Jede Nacht zehn Eier und zehn Knoblauchzehen! Muss das sein?«
»Da.«
»Der Eiersalat deiner Frau riecht auch nicht anders.«
Richard sieht mich von der Seite an. »Aber bei uns gibt es keinen Knoblauch.«
»Knoblauch ist heilige Pflanze. Gut für gesund.«
»Gesundheit«, verbessere ich.
»Da. Gesundheit.« Vladimir steckt das geschälte Ei in den Mund, eine große Zehe Knoblauch und kaut genüsslich. Richard schaut zur Decke. Ich drehe eine Schwarze Hand.
»Um Gottes willen, jetzt auch noch dieses Kraut! Ich gehe rüber und leg mich hin.« Er verschwindet.
»Was ist mit Kollege?«
»Ein schwaches Herz.«
»Mehr Knoblauch essen«, sagt Vladimir und schält das zweite Ei. Samt Knoblauch verschwindet es im Mund. Aus der Tasche nimmt er eine Flasche Wodka, dreht den Verschluss ab und spült nach.
»Seh ich das richtig, dass zocken verboten ist, aber Wodka erlaubt? Du bist doch religiös.«
»Gott hat Wodka gemacht.«
»Und Karten spielen hat er nicht gemacht?«
»Njet. Kommt von Teufel.«
»Einfache Logik ist immer die beste Logik.«
»Da«, bestätigt Vladimir und pellt das dritte Ei. Ich denke, er mixt das Ei mit Knoblauch und Wodka, um keine Verstopfung zu bekommen. Das wird der einzige Grund sein. Vermutlich hatten sie in der kasachischen Steppe eine Hühnerfarm. Das müsste ich mal dem Dienstarzt erzählen, der jedem anrät, pro Woche nur zwei Eier zu essen, wegen des Cholesterins. Bin mal gespannt, was er sagt, wenn er Vladimir das erste Mal untersucht.
»Was das?« Er zeigt auf den Southern.
»Southern Comfort. Schmeckt nicht jedem. Soll ich dir einschenken?« Er hebt den Kaffeebecher vor meine Nase und ich gieße ihn halbvoll. Nach dem Riechen nippt er vorsichtig, dann verschwindet der Inhalt in seiner Kehle.
»Schmeckt mit Knoblauch und Ei.« Er sieht mich an und überlegt. »Willst du Ei und Knoblauch?«
»Warum nicht.«
»Hier.« Ich schäle Ei und Zehe, die wirklich groß ist, stecke beides in den Mund. Ein Geschmacksexperiment der besonderen Art. Vladimir hält mir den Wodka hin. Also damit mischen. Es wird immer besser. Das schmeckt tatsächlich gut und ich habe den Eindruck, ein fauchender Bunsenbrenner rutscht meine Kehle hinunter.
»Gut?«
»Da.« Vladimir grinst. Ich zünde die Schwarze Hand an.


Die Nacht liegt hinter mir, beide Augen schmerzen. Das passiert nur nach Stunden unter grellem Neonlicht. Der Augenarzt riet mir vor einem halben Jahr, eine andere Arbeit zu suchen. Wo ist denn kein Neonlicht?, war meine Frage. Kaltes Licht beherrscht die Welt. In der Brezelstube hängen alte, nikotingelbe Lampenschirme. Ein Glühfaden brennt. Der Milchkaffee wärmt und ein Grummeln im Magen macht mich stutzig. Wodka, Knoblauch, Eier, offenbar eine explosive Mischung. Zügig zahle ich, bin ebenso schnell an Silvias Haustür und klingle Sturm. Entweder sie öffnet, oder ich statte den Enten am Flussufer jetzt einen Besuch ab. Sie öffnet und es geht mit hastigen Schritten die Stufen hinauf. Die Wohnungstür ist offen, niemand zu sehen, schon bin ich auf der Toilette; wirklich in allerletzter Minute.

Wenn ich hier bin, kann ich auch gleich duschen, ziehe mich aus und steige in die Kabine, in der man nicht umfallen kann. Jetzt merke ich den Alkohol umso mehr, je mehr Zeit verstreicht. Den Wodka bin ich nicht gewohnt. Seine Wege in meinem Körper sind andere als die des Southern Comfort. Benommen trockne ich mich ab und setze mich in die Küche zu Silvia. Ihr Blick wandert an mir entlang.
»Was ist passiert?«
»Ach, komisches Grummeln im Magen, hab’s grad noch zu dir geschafft.«
»Du hast zwar geduscht, aber hier stinkt’s wie in einem Pumakäfig.«
»Ich war noch nie in einem Pumakäfig. Keine Ahnung, wie es da stinkt.«
»Du hast Alkohol getrunken.«
»Ja, hat sich so ergeben.«
»Tust du das jetzt wieder?«
»Was?«
»Trinken.«
Ich lehne mich zurück. Ein Pochen in der rechten Schläfe kündigt Kopfweh an. Das Neonlicht. Immer kommt das Kopfweh nach dem Nachtdienst. Egal, ob mit oder ohne Alkohol. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, ehrlich gesagt. Alle Orientierung ist flöten gegangen. Ohne Kompass auf dem Atlantik. Eine Liebe hat ihren Abschied angekündigt. Das ist die Lage.«
Silvia schweigt. Was soll sie auch sagen? Es gibt nichts mehr zu sagen. Da sitze ich nackt vor ihr, sie mit Unterhose und Shirt, zwei dunkle Kreise hinter dem Weiß sehen mich an. Es gibt viele schöne Frauen, und es gibt Silvia. Mit dem Löffel rührt sie im Kaffee, obwohl der nicht mehr heller werden kann.
»Ich muss dich was fragen …«
»Nur zu«, sagt sie nickend.
»Tut dir das nicht weh?« Noch bevor mir der Gedanke kommt, dass es eine besonders dämliche Frage war, weint Silvia, steht auf und geht ins Wohnzimmer. Ich sehe an mir runter. Also wieder in die Kleider und ab nach Hause.


Zweiter Nachtdienst. Neonlicht. Heute habe ich die Sonnenbrille dabei und alles ist gleich viel angenehmer. Das Erkennen von Postleitzahlen ist erschwert, aber man gewöhnt sich dran. Der Mensch gewöhnt sich an alles. Rodi, Rolf-Dieter, steht in seinem Verteilpunkt und arbeitet so schnell es ihm möglich ist. Dreißig Behälter bis Mitternacht ist eine stramme Vorgabe, die wir uns selbst auferlegt haben. Die Vorgabe der Abteilung Bemessung in der Oberpostdirektion ist sechs Behälter in der Stunde. Wir machen dreißig in zweieinhalb Stunden. Hauptdienste und Aufsichten wissen das, doch solange am Ende der Nacht die Zahl ‚30‘ auf der Statistik steht, ist alles gut. Um Mitternacht kommt Richard von der kleinen Halle mit Bier und ein paar Fleischkäsebrötchen auf einer Stahlplatte, stellt alles auf den Tisch und setzt sich.
»Mein Schwager hat Geburtstag gefeiert. Das ist übrig. Bedient euch.«
»Oh, vielen Dank«, sagt Rodi und greift sich eines. »Gleich kommt meine Freundin. Hat versprochen, mir Cola und Zigaretten zu bringen.«
Richard bekommt große Augen. »Die kommt um diese Uhrzeit extra hierher, um dir Sachen zu bringen?«
»Klar, ist ein ganz liebes Frauchen. Bin wirklich froh, dass ich sie kennengelernt habe. Wenn man vom Dorf in die Stadt kommt, das ist ja schon sehr seltsam.«
Ich drücke die Sonnenbrille fester auf die Nase und bücke mich unter den Tisch. In einer Briefbox, zugedeckt mit einem Sack, liegt der Southern Comfort, den ich auf den Tisch stelle. »Wer mag, bedient sich«, biete ich an.
»Du immer mit deinem komischen Zeug«, meint Richard und schüttelt den Kopf. »Trink Bier, das ist gesund.«
»Wo haste denn dein Frauchen kennengelernt?«, frage ich Rodi.
»Bei mir unten im Haus, in der Strohhut-Bar.«
»In der Strohhut-Bar?« Ich habe das Außenschild im Kopf und war bisher nur einmal mit den Kollegen drin.
»Ja, ich muss nur drei Stockwerke runter und nehm den Eingang übers Treppenhaus. Tolles Lokal. Nicht wirklich günstig, aber tolle Menschen.«
»Das ist ne Oben-ohne-Bar«, stellt Richard fest.
»Stimmt, ist es, aber Klara steht hinter der Theke. Die hat immer was an. Sie liebt mich und ich sie.« Richard tritt mir ans Schienbein und seufzt. Ich gieße den Becher halb voll mit Southern.

Gegen halb eins höre ich Stimmen auf dem Hof. Hohe Stimmen, schrilles Lachen, Gekicher. Drei Frauen. Sie stellen sich laut die Frage, wie man auf diese verdammte Rampe kommt. Eine entdeckt rechter Hand die Treppe. Ihr Schuhwerk ist nicht wirklich geeignet. Ich sitze auf einem Stuhl, dem Gleisfeld zugewandt und lese Céline, Reise ans Ende der Nacht. Stöckelschuhe auf Beton, jemand tippt auf meine Schulter.
»Sag mal, mein Hübscher, ich bin die Klara. Wo finde ich denn hier Rolf-Dieter?« Ich deute auf die Halle. »Machst wohl nicht so viele Worte, was?« Kopfschütteln. »Na, du bist mir ja einer.« Sie trippelt davon, gefolgt von ihrer Entourage. Mit aller Kraft stemmen sie sich gegen die Schwingtür und fangen an, durcheinander zu reden, ein spitzer Schrei, gefolgt von einem ‚Rolf-Dieter!‘ Richard kommt aus der kleinen Halle.
»Was ist denn hier los?«
»Eine Art Gurkentruppe. Klara und ihre Freundinnen.«
»Die dürfen gar nicht hier aufs Postgelände. Wir können sie rausschmeißen. Wenn was passiert, geht es uns an den Kragen.« In der Halle heftiges Lachen, Witze reißen, Rolf-Dieter ist für einen Moment der Hahn im Korb.
»Stell dich nicht so an, Richard. Wir gönnen es unserem Kollegen.«
»Ich geh da mal rein. Das geht so nicht.«
»In dem Fall geh ich mit, nicht dass sie dich von der Rampe werfen.«
»Mach dich nur über meine Größe lustig, das kommt mir gerade recht.«
»Von Größe würde ich nicht sprechen wollen …«
Er verdreht die Augen und stapft zur Halle, geht hinein. Ich hinterher. Es dauert nur einen Atemzug, da entdeckt ihn Klaras stämmigere Freundin. Sie drückt den Zeigefinger in Richards Bauch. Der zuckt zurück, Klara lacht und streicht Rodi über den Nacken. »Rolf-Dieter … kannst du mir nicht einen Fuffi leihen? Wir wollen noch was trinken gehen.« Tu das nicht, denke ich, aber das ist ein vergeblicher Gedanke. Er gibt ihr einen Fünfziger.
»Oh! Guck mal, die haben Southern Comfort hier«, sagt die zweite, sehr dünne, Freundin Klaras. Schon greift sie danach.
»Kostet aber was«, sage ich, gehe zum Tisch und schiebe die Flasche ins Eck.
»Du bist zwar hübsch, aber ganz schön arschlochmäßig drauf«, stellt Klara fest. Die Dünne kneift ein Auge zu, schiebt den Kopf immer hin und her und knufft dann gegen meine Brust.
»Ist nicht böse gemeint, die Damen«, beginnt Richard, »aber Sie dürfen sich hier aus versicherungstechnischen Gründen nicht aufhalten. Wenn Ihnen was passiert, kommen wir in Teufels Küche und Ihre Krankenkasse wird das nicht zahlen.« Es wird schlagartig ruhig. Alle drei starren Richard an.
»Er hat recht«, bestätige ich. »Beim nächsten Besuch muss Rolf-Dieter vor dem Tor warten.«
»Kommt, Mädels«, sagt Klara. »Hier gibt es nur Spießer. Wir gehen!« Sie küsst Rodi, dann verziehen sie sich und Ruhe kehrt ein. Wir schauen unseren Kollegen an. Seine Augen leuchten.
»Also Cola und Zigaretten hat sie zwar nicht mitgebracht, aber dafür einen Fünfziger mitgenommen«, sage ich an die Decke.
»Ein gutes Geschäft.« Richard seufzt und ich habe Sehnsucht nach Céline.