Hunde und Hass

Kapitel 12

Die Kategorie Zur besonderen Verwendung hat mich nach der Paketzustellung bei den Briefträgern angeschwemmt. Die Königsklasse. Behaupten zumindest die Briefträger von sich. Paketzusteller sein ist ganz okay, aber noch nicht der Platz eins auf dem Podest der Postwelt. Ich bin also jetzt auf Platz eins, allerdings habe ich einen Streckenbezirk. Ich mache täglich so richtig Strecke. Und das auch noch an einem steilen Hang, die Maihälden, ein auseinandergezogenes Mischgebiet aus Schrebergärten, alten Wohnhäusern aus den 10er- und 20er-Jahren und beginnender Neubebauung von Norden her, unterhalb des Siloah. Dazu kommt die Kelterstraße bis zur Dietlinger Landstraße. Das ist ein weitläufiges Areal und bestens geeignet, fit zu bleiben. Anders als in den Innenstadtbereichen, werfe ich einen Brief ein, laufe zweihundert Meter, um dann den nächsten loszuwerden. Und ich muss den Hang hinauf, wieder runter und wieder hinauf, ein paar Mal. Fitness-Studio und Sportverein kann ich mir sparen. Die Menschen gewöhnen sich an mich und das Einnahmelevel an Trinkgeld steigt von Woche zu Woche.

Silvia wurde ebenfalls versetzt. Sie ist im Briefabgang und leert Kisten auf die Sortiermaschine, ordnet die Kuverts, schaut, dass alle vom Band erfasst werden, bevor es in die Lesemaschine geht. Eine sehr eintönige Tätigkeit, aber geht was schief, steht der Betrieb. Vor allem aber hat sie viel Zeit zum Nachdenken. Es arbeitet in ihr. Die schweigenden Momente zwischen uns nehmen wieder zu, oder besser: Die Momente, in denen ich rede und gar nicht weiß, mit wem eigentlich. Seltsamerweise bin ich hauptsächlich glücklich. Das hat mit ihr zu tun. Inzwischen wohnt sie fast bei mir. Nur in kritischen Momenten schließt sie sich in der Steubenstraße ein. Dann warte ich einfach, schaue im Briefabgang, ob sie gerade Zeit hat. Aber diese Augenblicke der Finsternis werden seltener, meine ich. Immerhin bekommt sie eine monatliche Apanage, das ist viel wert. Ich hingegen kämpfe mit dem Bezirk und den Menschen dort. Bisher hätte ich es für ausgemachten Schwachsinn gehalten, anzunehmen, ein Wohngebiet formt Menschen und Menschen formen ein Wohngebiet. Aber meine Kollegen bestätigen diese Vermutung. Zieht jemand in eine bestimmte Gegend, passt sich sein Verhalten an diese an. Oder – was auch vorkommt – diese Person sucht sich diese Gegend aus. Ich kann das nicht wirklich glauben, aber jeder neue Tag bestätigt mir das Phänomen. Meine speziellen Freunde sind nach wie vor die Hunde.

Der Herbst hat seinen Höhepunkt erreicht, die Nässe macht mir zu schaffen. Regen, egal welcher Größe und Dichte, Wind, nasses Schuhwerk, das nagt an den Nerven; und keiner der Briefe darf darunter leiden. Im Grimmigweg habe ich viele Zustellungsurkunden unterschiedlichster Farbe. Gelb, rot, blau, jede hat ihre Bedeutung. Mit zwei blauen Umschlägen klingle ich, Reihenhaus, rechte Hälfte, notiere Datum und Uhrzeit samt Unterschrift: Zustellung ist erfolgt. Die Tür wird geöffnet, ich sehe niemand. Offenbar steht die Person hinter der Tür.
»Guten Morgen, zwei Zustellungsurkunden.« Vor mir ein langer, gefliester Flur, dann folgt eine verglaste Tür, ein großes Zimmer und noch ein paar Meter weiter eine Tür zur Terrasse. Es ist nicht hell in der Wohnung, dann aber kann ich sie sehen. Zwei Dobermänner die mich anstarren und erst einsortieren müssen, wer oder was ich bin. Nach zwei Atemzügen ist der Denkvorgang abgeschlossen und sie beschleunigen aus dem Stand auf hohe Geschwindigkeit, rutschen auf den Fliesen, knurren, fletschen die Zähne, zwei furchterregende Kiefer. Geistesgegenwärtig reiße ich der Person hinter der Tür den Griff aus der Hand und knalle sie zu. Keine Sekunde zu spät. Die zwei Bestien poltern gegen das Aluminium, jaulen, dann verirren sie sich in einer Art Blutrausch. Nichts als wütendes Gebell. Die geifernden Kiefer kann ich mir förmlich vorstellen. Kopfschüttelnd schiebe ich die Zustellungsurkunden durch die Briefklappe. Sofort schnappt einer der beiden danach, reißt an den Umschlägen. Herausziehen geht nicht. Dann halte ich nur noch zwei Papierfetzen in der Hand. Das war es mit den Zustellungsurkunden. Von drinnen ist ein Pfiff zu hören, die Hunde verziehen sich. Es ist still.

»Hören Sie, mir ist das egal, was mit den Zustellungsurkunden passiert. Ich habe beide zugestellt. Die nächsten beiden sind rot, und wenn sie die so behandeln, kommen die Jungs mit dem Türöffner. Schönen Tag noch. Ihre Post können Sie sich ab morgen beim Postamt abholen.« Keine Antwort. Ich zünde eine Zigarette an. Southern-Comfort und Cola, das täte mir jetzt gefallen. Ein Blick zum Himmel. Nur diesig. Kein Regen. Immerhin.


Zustellungsurkunden, ein leidiges Thema. Ich stehe in einem großen Hausflur, der mal eine Durchfahrt in den Innenhof gewesen ist. Eine breite Tür mit bunten Gläsern verschließt ihn zur Kelterstraße. Zwölf Briefkästen, alles noch Vorkriegsbestände. Sehr klein, verbogene Türen, abgerissene Klappen, Namensschildchen abgekratzt, fünf Mal mit Edding überschrieben. Ich suche einen Nachnamen. Blaue Urkunde. Das Licht über mir leuchtet auf, die vier Stufen höher liegende Haustür öffnet sich. Eine Frau kommt heraus, stellt sich neben mich.
»Ham sie Post für mich?«
»Wenn Sie mir Ihren Namen nennen, schaue ich nach.«
»Przybsinski.»
»Nee, leider nix dabei.«
»Warum leider?«
»Nur so ein Spruch. Als Briefträger hat man ein paar Floskeln drauf. Für jede Situation eine.«
»Wollen Sie mich verarschen?«
Ich seufze. »Kennen Sie eine Tamina Masud?«
»Nee. Kenne ich nicht.«
»Soll aber angeblich hier wohnen. Vielleicht zusammen mit einer anderen Person.«
»Könnten die Asylanten sein. Der Name klingt ja schon nach Asylant.«
»Und in welcher Wohnung finde ich diese Menschen?«
Sie ignoriert meine Frage. »Bringen Sie etwa Stütze? Arbeiten nix und kriegen mein Steuergeld?«
»Keine Stütze. Also, welche Wohnung?«
»Die sollen sich wieder verpissen. Hab es dem Vermieter schon paar Mal gesagt. Wir wollen die nicht hier!« Sie beugt sich vor und greift nach dem Umschlag.
»He! Finger weg!« Sie zuckt zurück.
»Sag ich Ihnen auch nicht die Wohnung!«
»Behalten Sie Ihr Wissen für sich.«
»Sind en Kanackenfreund, was?«
»Ihr Nachname klingt auch ganz besonders Deutsch.«
Sie zieht Luft in sich hinein und hält sie, läuft rot an. Dann legt sie los mit allem, was an unflätigen Bemerkungen in ihrem schmalen Reservoir vorrätig ist. Ich gehe zur Haustür, öffne und suche den Namen. Tür für Tür. Es ist die Dachgeschosswohnung. Fünf Namen sind auf den Querrahmen unter dem Milchglas geschrieben. Eine Frau öffnet auf mein Klopfen.

»Frau Tamina Masud?« Kopfschütteln, aber sie winkt mich herein, zeigt auf eine Zimmertür. Die Küche. Ich setze mich, warte aber lieber mit dem Ausfüllen. Eine zweite Frau kommt, dunkelrotes Gewand, an einer kette um den Hals ein Kreuz. »Frau Tamina Masud?«
»Ich bin.« Sie zeigt einen Schein der Ausländerbehörde und einen ägyptischen Pass.
»Ich habe eine Zustellungsurkunde für Sie. Moment, muss noch Datum und Uhrzeit notieren.« Zwei weitere Frauen stehen im Türrahmen. Tamina Masud reißt den Umschlag auf.
»Lesen, bitte.«
Ich sehe sie an, dann die beiden anderen. »Okay.« Eine Menge Papier. Das Wichtigste aber steht in dicken Buchstaben mitten drauf. Asylgesuch ist abgelehnt. Keine Duldung. Ausreise muss erfolgen … auf Seite zwei eine Situationsbeschreibung, eine Begründung. Koptische Christin, der Mann laut ihr verschwunden. Nun droht ihr die Muslimbruderschaft mit dem Tod. Aber alles in Ordnung in Ägypten, keine Gefahr für Leib und Leben, von politischer Verfolgung kann keine Rede sein …
Ich lege die Papiere auf den Tisch und atme tief durch, sehe sie an, das dunkelrote Gewand. Sie schüttelt den Kopf. Ich nicke. Und muss wieder gehen. Ja, das muss ich. Wieder gehen. Ich bin ein Vertreter des Staates mit hoheitlichen Aufgaben. Das Überbringen von Hiobsbotschaften gehört zu diesen hoheitlichen Aufgaben. »Tut mir leid«, sage ich. Doch dafür kann sie sich nichts kaufen. Sinnlos, es zu sagen.


In den Schrebergärten, mit vereinzelt sehr ansehnlichen Wohnhäusern, die weit zurückversetzt mitten im Grünen stehen, gibt es einen Neuzugang. An dieser Adresse hatte ich bis zu diesem Tag keine Zustellung. Das Haus selbst wirkte bisher verlassen. Eternitfliesen auf den Außenwänden, sicher noch mit Asbestfasern stabilisiert. Drunter bestimmt ein schmuckes Häuschen, der Keller nur halb im Boden, wie in dieser Gegend üblich. Es ist ein Donnerstag. Zeitungstag. Stern, Frankfurter Allgemeine, alles was Rang und Namen hat und besonders schwer ist, kommt am Donnerstag. Ich halte eine NPD-Parteizeitung in den Händen, dazu jede Menge Schriften und Magazine aus dem selben ideologischen Milieu. Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, etwas nicht nur nicht zuzustellen, sondern es gleich verschwinden zu lassen. In meiner Zustellgruppe ist aber niemand, den ich fragen kann. Nur altgediente, zuverlässige Beamte im hoheitlichen Sinn. Während der morgendlichen Sortierung in die Regalwand, hole ich zwei Espresso, stelle dem Kollegen vom Nachbarbezirk einen davon auf den Tisch. Er sieht mich an.
»Nanu? Danke.«
»Gleich nach meinem Becher kam noch einer. Ohne dass ich noch Geld einwerfe. Komisch, oder?«
»Ja, sehr komisch. Die Automaten hier gehören normal zu den geizigeren Modellen.«
»Na, lass es dir schmecken.« Er hebt den Becher und trinkt. »Ich hab gehört, ein Innenstadtzusteller hat einen Stapel Briefe im Fahrstuhlschacht vom Ärztehaus verloren …«
Der Kollege prustet los. »Du meinst Thomas? Ja, mal wieder zu viel intus gehabt. Der ist aber auch zu dämlich …«
»Was passiert denn, wenn die Leute die Post nicht bekommen?«
»Na, in seinem Fall musste der Service von der Fahrstuhlfirma kommen, in den Revisionszugang einsteigen und alles wieder rausholen. Das wird teuer.«
»Und wenn er das nicht gemerkt hätte im Suffkopp?«
»Absender oder Empfänger melden sich, wenn es wichtig ist. Dann geht es an die Nachforschungsstelle. Die finden meist alles raus.«
»Echt?«
»Aber hallo. Noch nix vom Rentenmann gehört?«
»Nee.«
»Hat immer Briefe geöffnet, wenn er im Licht Geldscheine gesehen hat. Hat nicht lange gedauert, dann hatten sie ihn.«
»Cool. Die sind so was wie Detektive?«
»Mit allen Wassern gewaschen. Fangbriefe losschicken, präpariert, da haste keine Chance und läufst mit blauen Fingern durchs Postamt. Weiß gleich jeder Bescheid.«
»Nicht schlecht. Ob die mich nehmen würden?«
Er stutzt. »Wie? Ich dachte, du bist Aushilfe?«
»Ich bereite mich auf die Prüfungen vor. Daueranstellung hab ich schon. Dann mal sehen.«
»Sauber. Gute Leute können wir immer brauchen.«
»Danke.« Er hebt den Becher, ich auch. Wir trinken sie leer.


Silvia hatte Nachtdienst, sitzt in der Küche über einem meiner Schreibblöcke und brütet. Ich gebe ihr einen Kuss auf den Hinterkopf und stelle den Einkauf auf den Kühlschrank, packe das empfindliche Zeug hinein.
»Ich wollte erst Pilze kaufen, aber ist ja nicht, wegen Tschernobyl. Erst heißt es, alles in Ordnung, jetzt ist Herbst und immer noch nichts mit Pilzen. Von der angeblich erlaubten Menge kann man ja nicht satt werden.« Sie reagiert nicht, streicht zwei Wörter durch, kritzelt etwas anderes drüber. »Dafür gibt es heute frische Ananas. Im Tandoori-Hühnchen-Reis. Das wird dir schmecken. Frische Curry-Paste hab ich auch gekauft, dazu griechischen Joghurt und eine Mango.« Nichts. Ich schaue ihr über die Schulter. Eine Art Steno muss das sein, lesbar ist es nicht. »Wenn du deine Autobiografie schreibst, dann werde ich sie auf jeden Fall kaufen.«
»Tu ich nicht. Würde auch niemand drucken.«
»Ja, vielleicht.« Ich setze mich gegenüber und drehe eine Birne in der Obstschale. Links rum, rechts rum, hole ein Messer aus der Schublade und schneide vier Schnitze, entferne das Kernhaus und lege ihr einen Schnitz aufs Blatt.
»Mein Bezirk nervt mich«, sage ich. »Da wohnt neuerdings ein Nazi. Gesehen habe ich ihn noch nicht, aber der Briefkasten ist immer leer. Er bekommt viel Post. Nazizeitungen, Nazibücher, Nazibriefe. Und Rechnungen. Aber seltsam, dass niemand zu sehen ist. Licht brennt nie, die Fensterläden sind meist zu. Aus dem Schornstein kommt kein Rauch. Sieht völlig unbewohnt aus, die Hütte.«
Endlich hebt sie den Kopf. Ich kann ihn sehen. Aber sie ist woanders. Das Blau ist mal wieder verschwunden, hat einem hellen Grau Platz gemacht. Darüber muss ich mal mit meinem Augenarzt sprechen.
»Ist vielleicht nur ne Kontaktadresse?«
»Hab ich mir auch schon überlegt. Und einen deutschen Schäferhund kann ich auch nirgends entdecken.« Sie hebt die Augenbrauen. »Lach nicht. War ernst gemeint. Hab ich dir schon von den beiden Dobermännern erzählt?«
»Nein.« Ich berichte ihr von der Attacke auf einen Staatsbediensteten. »Und? Muss der Kerl jetzt seine Post im Amt holen?«
»Er hat am nächsten Tag ein Postfach eröffnet. Aber ich hätte bei Gefahr für Leib und Leben nicht hin gemusst. Er wäre aufgefordert worden, die Hunde anzuleinen.«
»Gibt schon komische Leute«, stellt sie fest und beißt in den Birnenschnitz.«
»Ist dir was aufgefallen, Silvia?«
Sie neigt den Kopf, schaut sich um. »Nicht wirklich, nein. Ist alles wie immer. Hast du dein Bücherregal aufgeräumt?«
»Denk mal an den Musikkeller.«
»Hm, hilf mir auf die Sprünge …«
»Ich trinke nur noch Apfelschorle … oder Milchkaffee.«
Silvia richtet sich auf. Das Blau kehrt zurück. »Ja! Das stimmt! Jetzt wo du es sagst … warum?«
»Ist mir gar nicht schwergefallen. Wegen dir. Mit dir zusammen sein ist mir wichtig. Du hast recht gehabt. Irgendwann wäre uns das in die Quere gekommen, nicht wahr?« Sie sieht auf das Blatt, dann wieder zu mir. »Was schreibst du da eigentlich?«
»Entwürfe für Bewerbungen.«
»Wirklich? Das ist gut. Post ist nix für ein schlaues Mädchen wie dich. Kumpel von mir ist bei Witzenmann untergekommen. Weltfirma.«
»Ich will mich nicht in Pforzheim bewerben.«
»Nicht? Wo dann?«
Sie greift in den Rucksack neben sich und holt ein Adressbüchlein raus. Auf einer Doppelseite stehen mindestens zehn Adressen. »Hier.« Sie legt es auf den Tisch, ich beuge mich vor.
»Aber … das ist ja überall … Spanien, Frankreich, Irland, Niederlande … und ich?« Das Blau verschwindet und weicht den Tränen. Sie legt den Rest vom Schnitz auf den Tisch und schiebt meinen Block beiseite.