Finsternis

Kapitel 10

Sie schweigt. In Rippoldsau hat mir ihre linke Hand die Richtung gezeigt. Immer entlang der Wolfach. Über den Tannenwipfeln bilden sich Bänke aus Wasserdampf, steigen auf, sinken an manchen Stellen herab, schlagen sich auf der Scheibe nieder. Kilometer um Kilometer in diesem verwunschenen Tal bringen wir hinter uns. Ich werde nervös, wirklich, ein Kribbeln wie vor der ersten Achterbahnfahrt kriecht von den Beinen kommend aufwärts.
»Langsamer. Gleich kommt eine Rechtskurve und wir biegen links in den Wirtschaftsweg, über die Wolfach, nach hundert Metern kommt der Hof. Das Sägewerk ist dann dreihundert Meter weiter, am Staugraben.«
»Es ist schon später Nachmittag. Können wir hier übernachten? Oder wie ist dein Plan?«
»Wir übernachten im Auto. Ist ja alles hinten drin. Oder macht dir das etwas aus?«
»Nein, gar nicht. Im Auto übernachten ist meine Spezialität.« Sie nickt in Fahrtrichtung. Ich setze den Blinker, biege ab. Die Wolfach ist noch ein breiterer Bach, führt aber eine Menge Wasser nach dem heftigen Regen. Hinter einer Kurve stehen Gebäude. Drei Stück. Ein Klassiker. Der Schwarzwaldhof, eine Dachhälfte zur Schneeseite fast ganz nach unten gezogen, auf der anderen endet es in einem hochgelegten Schopf. Ein Fahrsilo, sicher für Grassilage und eine Art Werkstatt. Niemand ist zu sehen. Ich halte vor der Giebelseite, stelle den Motor ab. Das Blech knistert.
»Kein Empfangskomitee.«
»Nein«, sagt sie und steigt aus. »Wir gehen rein.«
»Okay.« Gurt lösen, tief durchatmen. Dann hinaus. Silvia wartet. Ich nehme ihre Hand. Sie packt zu. Fest. Dann gehen wir nebeneinander zur Tür, öffnen. Es ist kühl im Flur. Ein würziger Duft hängt in der Luft. Tannenholz überall, Treppenstufen, das Geländer, die Balkenlage an der Decke, kleine Bretter dazwischen, an manchen Stellen hängt ein Strohhalm in der Fuge. Spinnweben in den Ecken. Silvia bleibt stehen. Ich meine, sie lauscht nach Stimmen, doch dann spüre ich das Zittern.
»Nach rechts in die Küche?«
Sie nickt. Ich gehe vor. Niemand im Raum. Wir setzen uns. Ich muss zuerst auf die Bank, dann rückt sie dicht an mich, hängt wie eine Klette an meiner Hüfte. Ich lege den Arm um sie. Die Stille im Haus ist kaum auszuhalten. Ein Schamottofen, sehr alt. Darüber emailliertes Blech, rußig an den Ecken, alte Schöpfkellen und Siebe. Rechts sind Holzscheite gestapelt. Ich denke daran, Feuer zu machen. Das kann nicht schaden, entscheide mich aber dagegen. Ist nicht mein Haus. Es gehört Silvia. Für einen Augenblick habe ich das Bild im Kopf, mit ihr zusammen diesen Hof zu betreiben. Den Bruder lassen wir zum Deputatenlohn bei uns arbeiten. Es tickt irgendwo. Im Nebenraum. Vielleicht die Stube. Wenn mich nicht alles täuscht, sind diese Höfe so gebaut, dass Küche und Stall auf einer Seite liegen, die Stube auf der anderen. So können Mensch und Tier von der Feuerstelle profitieren.
»Ist ziemlich kalt auf der Bank. Gar nicht gut für meine Hämorrhoiden. Gibt es keine Sitzkissen?« Die Auflockerung verfehlt ihre Wirkung.
»Hat mein Bruder bestimmt versteckt. Bloß nicht zu bequem sitzen.«
»Ich könnte Feuer machen.«
»Nein.«
Dann fällt mir nur noch ein, ihr Haar zu küssen. Wir warten. Hoffentlich nicht auf Godot. Ich hätte auf die Uhr blicken sollen. Etwas stimmt nicht. Die Zeit muss hier drin einen anderen Weg nehmen. Einen längeren. Von den geweißelten Wänden ist fast alle Farbe abgeblättert. Je länger ich sie anstarre, desto mehr bekomme ich den Eindruck, die Kälte kriecht aus ihnen hervor. Uns als Ziel. Die Wände erinnern sich an Silvia. Und Silvia erinnert sich an die Wände. Ich schüttle den Kopf. Zu viele Edgar Wallace-Filme gesehen.
Die Tür geht auf. Mehr als zwei Füße. Keine Stimmen. Sie haben uns beobachtet und warten lassen. Als sie dachten, wir wären eingeschüchtert genug, haben sie sich zugenickt. Nun stehen die beiden im Türrahmen der Küche und ich fühle mich an einen Film aus den Bauernkriegen erinnert. Vierschrötige Gesichter. Ihr erster Blick gilt mir. Keiner der beiden ist größer als einssiebzig. Vielleicht ist es besser, mich zu zeigen, bevor Silvia ihr Schäfermesser zückt. Ich stehe auf, schiebe den Küchentisch ein Stück von der Bank weg. Silvias Hand drückt fester. Doch ich lasse los, gehe auf die beiden zu und schaue sie an, einen halben Meter noch. Meine rechte Hand hebe ich ihnen ein Stück entgegen. »Guten Tag. Konstantin. Freut mich, Sie kennen zu lernen. Schöner Hof.« Der Bruder sieht den Onkel an, der schaut an mir vorbei. Ich lächle und bewege ein zweites Mal die Hand. Er schlägt ein und drückt. Das tue ich auch. Dann ist der Bruder dran. Sein Blick wandert durch die Küche, die Finger könnte ich ihm problemlos quetschen, da ist kein Widerstand. Dann setze ich mich und alle beide nehmen gegenüber Platz. Aus der Weste zieht der Onkel eine rote Mappe. Mein Erscheinen hat sie verunsichert, so viel steht fest.
»Wir dachten, du kommst nicht.« Die Stimme des Bruders ist so flatterhaft wie ein Fähnchen im Wind. Er lehnt sich nach hinten, drückt mit den Daumen die Hosenträger vor und wackelt mit dem rechten Unterschenkel.
»Was ich sage, tue ich auch«, erwidert Silvia.
»Bist aber nicht allein gekommen«, stellt der Onkel fest.
»Hab ja kein Auto. Mein Freund hat mich gefahren.«
»Wir hätten dich in Freudenstadt abgeholt.«
»Hab ich gerne drauf verzichtet.«
Eine halbe Minute vergeht. Dann schiebt der Onkel, dessen Name ich immer noch nicht kenne, die Mappe in die Mitte des Tischs, klappt sie auf.
»Oben drauf liegt die Rechnung für die Beerdigung deiner Mutter. Bist ja nicht gekommen. Leichenschmaus hat dein Bruder bezahlt. Drunter ist unser Angebot für Hof und deinen Anteil vom Sägewerk. Wir würden die Beerdigung übernehmen, wenn du diesen Vertrag unterschreibst. Du willst ja bestimmt über Nacht bleiben. Lies alles in Ruhe durch. Morgen früh kannst du dann unterschreiben.«
Silvia zieht die Mappe gerade so dicht vor sich, dass sie die Rechnung des Bestatters überfliegen kann. Dann schließt sie den Deckel und nimmt sie an sich.
»Was willst du mit dem Hof?«
Ihr Bruder hat nicht mit der Frage gerechnet. Flehend geht sein Blick zum Onkel. Der schweigt. »Hab gedacht, ich mach einen Reiterhof draus. Weißt ja, gibt immer mehr Touristen im Tal. Bau ich alles um. Vier Wohnungen könnt ich draus machen. So mit Kindern und so.« Silvia reagiert, streckt sich, die Brust stößt gegen die Tischkante. »Kinder? Du hier mit Kindern?! Dass ich nicht lache …« Sie steht auf. »Komm, Heinrich.«
»Was ist daran schlecht?« Der Bruder sieht sie an, einen immer noch schweigenden Onkel neben sich.
»Alles«, sagt sie kalt, nimmt meine Hand und zieht mich in den Flur. »Morgen früh um neun bin ich hier und dann sage ich euch, was ich tue.«
Nichts wie raus ist mein erster und einziger Gedanke. Die Kälte aus den Wänden verfolgt mich, kriecht meine Fersen hinauf. Im Nu sitze ich im Opel, schaue auf den Tacho, die Uhr, Ganghebel, Handbremse, alles noch da. Silvia schlägt die Tür zu.
»Junge, Junge, Silvia, grad dachte ich, die Hölle friert ein. Der Teufel hätte Angst bekommen.« Sie starrt mich an. Dann lacht sie los. Silvia lacht. Die Augen werden wieder blau. Tränen kommen. Ich starte den Motor.


»Wo sind wir hier eigentlich?«
»Im Glaswald.«
»Im Glaswald?«
»Mh.«
»Ich muss schon sagen, im Moment fühle ich mich als Teil eines alten Märchens. Jeden Moment kommen Hänsel und Gretel aus dem Tann, nachdem sie die Hexe in den Ofen gesteckt haben.«
»Gut möglich«, sagt Silvia. Ich schaue sie an. Es kommt vor, dass ich mir nicht sicher bin, ob sie etwas ernst meint oder nicht.
»Anderes Thema … ich bin also jetzt offiziell dein Freund. Ich liebe dich und du liebst mich. Nicht wahr?«
»Ist das wichtig?«
»Es hat etwas Beruhigendes, finde ich.«
Sie zieht den Schlafsack bis zum Kinn und beugt sich mir zu, stülpt die Lippen vor. Ich küsse sie. »Auf eine gewisse Art bist du schon herrlich naiv.«
»Ich? Naiv?« Sie nickt und zündet eine Zigarette an. Vor den Scheiben ist es finstere Nacht. Absolut finster. »Ich weiß jetzt, warum es Schwarzwald heißt. Das ist nicht normal. Noch nicht mal das All ist so schwarz. Unheimlich.«
Silvia zieht lange, inhaliert tief und pustet den Rauch gegen die Dachverkleidung. »Ich möchte nicht mit dir schlafen heute. Hab meine Tage bekommen. Das tut ordentlich weh.«
»Mach dir keine Gedanken. Soll ich deinen Bauch streicheln? Hilft mir auch immer, wenn ich Schmerzen im Unterleib habe.«
»Lieb von dir, aber …«, sie lässt die Lucky in einer Dose verschwinden, schüttelt sie. Es zischt. »Bitte heute keine Berührungen.«
»In Ordnung. Dann schau ich dir in die Augen, solange die Batterie der Taschenlampe hält.« Keine Reaktion. Dafür knipst Silvia das Licht aus. Wie soll ich dir in die jetzt Augen sehen?, will ich sagen, schlucke den Satz aber lieber runter. Ich höre sie atmen, dann tastet eine Hand nach meinem Gesicht, legt sich auf meine Wange und verharrt dort.
»Silvia, darf ich dich etwas fragen?«
»Nach dem Hof?«
»Ja, nach dem Hof und all den Fäden, die dort zusammenlaufen.«
»Mh, ich glaube, du darfst mich jetzt fragen. Aber wenn ich schweige, dann ist es so.«
»Dann ist es so.« Der Druck ihrer Hand wird fester.
»Hat dir dein Bruder etwas angetan?«
»Er ist mein Stiefbruder.«
‚Was?‘ will ich erwidern, bringe es aber nicht raus. Mir wird heiß. Ich schwitze von einer Sekunde auf die andere. Stiefbruder?
»Dein Vater hat sich gegrämt, also haben dein Bruder und du dieselbe Mutter?«
»Ja. Und zwei unterschiedliche Väter. So ist das. Er ist der Sohn meines Onkels.«
»Moment … du willst aber nicht sagen, dass dein Onkel deine Mutter … dass sie …« Das Bild des Bruders, der den Onkel von der Seite anschaut, wieder und wieder, bricht aus meiner Erinnerung hervor, steht grell leuchtend hinter meiner Schädeldecke.
»Das will ich damit sagen«, flüstert sie, löst die Hand und zieht sich zurück. Ich kann ihre Haare riechen, den Duft ihres Gesichts. Und ich kann eine andere Frage nicht wegschieben.
»Und hat dein Onkel dir weh getan? Ich meine, hat er dich mehr als berührt?«
Sie schweigt und die Finsternis kehrt zurück. In derselben Sekunde. Nicht aus dem Wald. Aus ihr. Schwärzer als der kalte Kosmos. Ich balle die Fäuste. Was hat sie gesagt? Wenn ich schweige, dann ist es so? Das hat sie gesagt. Es war die Antwort auf meine noch nicht gestellte Frage, von der sie wusste, sie würde kommen. Wenn ich schweige, dann ist es so. Also war es so. Bitte keine Berührungen heute Abend! Keine Berührungen jetzt! Nicht in der Nacht. Vielleicht auch nicht morgen. Vielleicht nie mehr? Ich sinke auf meine zusammengeknüllte Hose. In totaler Schwärze zu liegen ist grausam. Wie kann ich das alles in meinen Kopf bekommen? In mein Herz?
»Heinrich?«
»Ja?«
»Jetzt, wo du es weißt, wirst du dich von mir abwenden?«
»Nein. Ich bin neben dir und liebe dich.«
Silvias Hand tastet erneut nach meiner Wange und presst dagegen. Sie ist kalt. Keine Berührungen.


Die Nacht verbringen wir in einem parallelen Universum, dessen Zeit – zäh und klebrig wie heißer Asphalt – nicht die unsere ist. Nicht die außerhalb dieses Waldes. Das Innere eines Schwarzen Lochs kann man genau hier betrachten, man muss nicht raus ins All. Schwitzen, frieren, weinen, eindösen und sofort in einem Albtraum aufwachen, aus dem es kein Entkommen gibt. Silvia hustet. Das holt mich zurück. Dann beginnt es von Neuem. Ich will die kleinen Hände retten, direkt vor mir, doch sie sind viel zu weit entfernt. Nicht nur die Zeit ist eine andere, auch der Raum hat Bedeutung und Struktur verloren. Eine Welt ohne Bezugspunkte. Ohne Leuchttürme. Wieder hustet sie; und schnieft. Sie ist wach. Das gleichmäßige Atmen ist einer Unregelmäßigkeit gewichen. Ich will reden. Nicht mehr einschlafen, einfach reden.
»Dein Vater hat sich gegrämt, wegen deines Stiefbruders? Dass dein Onkel mit deiner Mutter …«
»Nein. Er hat sich gegrämt, dass er meiner Mutter alles durchgehen ließ.«
»Alles? Was ist alles?«
Stille, atmen, ich höre mich schlucken.
»Alles … das ist verprügeln, anschreien, stundenlang in den Schopf sperren, über Nacht; und mein Papa bringt mir Essen, wofür er von Mutter angeschrien wird. Alles, das ist an den Haaren ziehen, sie abschneiden nach Lust und Laune oder dem Grad der Wut, kalt baden, erniedrigen mit Worten, mich schlecht machen in der Schule. Ich bin ihr ausgeliefert.«
Stille, atmen, ich höre sie schniefen.
»Und als dein Papa starb, konnte deine Mutter tun und lassen, was sie wollte …«
»Ich sage das Wort ‚Mutter‘ nur, meine es aber nicht. Du hast recht, tun und lassen, was ihr in den Sinn kam oder ihrer Wut entsprach.«
»Und dann kam dein Onkel?«
»Der war notgeil. In diesem Tal gibt es nicht viele Möglichkeiten und er ist kein Adonis. Also hat sie mich ihm zugeführt, wie es so schön heißt. Schließlich bin ich die Erbin. Da braucht es Kontrolle.«
»Ich muss jetzt raus …«, sage ich und will den Reißverschluss öffnen, aber Silvias Hand sucht meine.
»Geh nicht raus! Nicht jetzt. Frag mich einfach. Jetzt sind wir schon so weit gekommen … viel weiter als jemals sonst.«
»Okay, ja, du hast recht.« Silvia rückt an mich heran.
»Es ist nicht einfach zu vertrauen, aber ich will es. Ich will dir vertrauen, also halt mich fest.« Ich halte sie fest. Nicht einfach in diesen Schlafsäcken.
»Wie hast du es da raus geschafft?«
»Das Schulende kam, ich bin einfach weg. Zu einer Freundin. Hab ne Ausbildung gemacht, Abi nachgeholt, studiert und raus in die Welt.«
»Dann hätten dein Stiefbruder samt Onkel doch einfach so weitermachen können, oder?«
»Nee, das Weitermachen endete mit Mutters Tod. Das war notariell geregelt. Ich musste zurück. Und in Pforzheim gab es Jobs.«