Kommen Sie doch rein

Kapitel 6

Der Samstag ist ein schöner Tag im Leben eines Paketzustellers. Zumindest in meinem Bezirk. Die meisten Firmen sind im Wochenende, mehr als die Hälfte der Menschen auf dem Rodrücken sind älter und bekommen sehr wenig Pakete oder Päckchen. Dafür umso mehr spezielle Inhalte. Am Beginn der Oechslestraße stelle ich den 508er ab, lade vier Pakete und ein Päckchen aufs Gestell, schnalle den Expander drum und ziehe es hinter mir zu den Reihenhäusern. Diese Adresse habe ich noch nicht angefahren. Und gleich vier Pakete … immerhin keine vier Stockwerke. Nur ein Obergeschoss. Ich klingle und im selben Moment summt es an der Haustür, von drin ein Hallo. Erdgeschoss, wie angenehm. Ich rolle hinein, links und rechts nach der Treppe zwei Wohnungen, die rechte ist offen.
»Kommen Sie doch rein! Bin in der Küche!«
»Bundespost! Vier Pakete für Frau …« Sie stellt sich in den Türrahmen und reibt die Hände. Nur einen Bademantel an mit sehr lose geknotetem Gürtel. Mir fehlen die Worte. Das mit der Ankündigung hat sich erledigt. Sofort kommt sie her, nimmt eines der Pakete, schleppt es in die Küche, holt das nächste. Mit jedem Bücken gewährt sie einen mehr als offenherzigen Einblick. Ich schaue, was sie für ein Tapetenmuster an den Wänden hat. Dann ist sie erneut weg.
»Moment«, sage ich. »Lassen Sie mich den Rest bringen!« Das war unnötig, denn sie sitzt schon am Tisch und schneidet das erste Paket auf. »Ähm, Sie müssen erst unterschreiben. Und ich bekomme acht Mark achtzig Paketgebühr.«
»Klar, die bekommen Sie. Aber ich muss ja den Inhalt kontrollieren. So steht es in den Lieferbedingungen. Wenn was nicht stimmt, geht es gleich wieder zurück.«
»Frau, äh …«, ich gucke auf ein Adressfeld. »Frau Riethmüller, ich muss weiter. Legen Sie sich ein Postfach zu, dann können Sie die Kontrolle direkt am Schalter erledigen.«
»Gemach, gemach, junger Mann. Das hier werde ich sicher nicht im Postamt auspacken.« Sie zieht einen Vibrator zwischen dem Füllmaterial hervor. Einen zweiten und dritten. Alle Größen, alle Farben. Mehrere Packungen mit Kugeln an einem Silikonfaden folgen. »Lustkugeln«, erklärt sie. »Schon mal ausprobiert?«
»Ich glaube nicht.«
»Ist auch was für Männer. Hintereingang, wissen Sie?«
»Öhm …« Was ich sage, wird sie nicht interessieren. Das zweite Paket ist dran. Strapse, Lederhandschuhe, eine kleine Peitsche. Im dritten Negligés in rot, blau, grün und weiß. Unterschiedliche Größen, Slips.
»Toll«, sagt Frau Riethmüller. »Sogar die mit Schritt offen sind dabei. Wäre was für Ihre Frau.«
»Ich hab keine Frau.«
»Ach, schade … so ein hübscher Kerl …« Ich schaue auf die Uhr. Das kann dauern. Im vierten Paket sind sieben Dildos.
»Darf man hier rauchen?«
»Rauchen ist ungesund, junger Mann.« Ich nicke und sie drückt mir die Lieferscheine in die Hand. »Lesen Sie bitte vor und haken Sie ab.« Natürlich. Sonst habe ich ja nichts zu tun. Mit dem Postkugelschreiber am Kettchen sitze ich und warte. Es geht los und nach zehn Minuten sind wir fertig. Alles da. Gott sei Dank.
»Was machen Sie eigentlich mit dem ganzen Zeug, wenn ich mal so frei sein darf zu fragen.«
»Liebesabende.«
Ich strecke ihr das linke Ohr zu und versuche ein Echo aufzufangen. Hat sie das wirklich gesagt? »Was sind denn Liebesabende?« Sie kräuselt die Augenbrauen. Ein junger, unbedarfter Kerl wie ich, keine Ahnung von nichts.
»Sie kennen doch bestimmt Tupperabende, oder?«
»Schon mal gehört.«
»Na also, und ich mache das für einsame Damen. Wir wälzen Kataloge, ich führe das vor und dann wird bestellt. Gegen einen kleinen Aufpreis. Wissen Sie, mein Mann ist vor zehn Jahren gestorben. Das Geld wächst nicht auf den Bäumen. Ich muss leben.«
Jetzt würde ich gerne eine rauchen. Sie hat recht. Das Geld wächst nicht auf den Bäumen. Ich deute auf einen Dildo. »Und den führen Sie auch vor?«
Sie lächelt.
»Na gut, jetzt noch die Paketgebühr und hier in den vier Feldern unterschreiben oder einmal quer drüber.«


Immerhin fünf Mark Trinkgeld. Eine Schachtel Zigaretten. Das kleine Päckchen ist für eine Dame im übernächsten Haus. Ich nehme den kleinen Fußweg zwischen den Gebäuden und klingle. Die Haustür geht auf. Niemand ruft. Da es die untere linke Klingel ist, versuche ich es bei der entsprechenden Wohnung. Milchglas in einem vertikal zweimal geteilten Rahmen, ein Vorhang dahinter. Der Nachname stimmt. Die Schrift erinnert mich an Sütterlin. Schon ein älterer Absender und dann noch aus Jena. Wer schickt denn Päckchen aus der DDR in den Westen? Vielleicht gestrickte Socken. Das hat doch bestimmt die Stasi aufgemacht und wieder professionell verschlossen. Egal, ich klingle erneut und klopfe. »Bundespost! Ein Päckchen aus Jena!«
Es dauert. In solchen Momenten nehme ich eine Zigarette aus der Packung, stecke sie zwischen die Lippen und zähle bis zwanzig. Wir müssen dreimal klingeln, dann erst dürfen wir den orangefarbenen Abholschein ausfüllen und einwerfen. Einige Kollegen schreiben diese Abholscheine schon im Postamt. Vor allem bei den bekannten Pappenheimern, wie sie sagen. Diese Coolness habe ich noch nicht. Die Tür geht auf und mir fällt die Zigarette aus dem Mund.
»Oha«, sage ich und hebe die Lucky auf. Den Türgriff in der linken Hand, steht sie da und hat etwas an, was ich als maximal transparent bezeichnen möchte. So eine Art Chiffonstoff, lindgrün, am Hals ein Schleifchen. Ich will ja den Kopf zur Seite drehen, aber alles daran fasziniert mich. Endlich fällt mir das Päckchen ein.
»Hier. Aus der DDR.« Sie greift danach.
»Danke. Von meiner Großtante, wissen Sie?«
»Warum haben Sie nichts an? Sie können doch einen Zusteller nicht so an der Wohnungstür empfangen!«
»Ich hab doch was an.«
»Wenn Sie das so nennen möchten …«
»Wollen Sie nicht reinkommen?«
»Wer? Ich?!«
»Sonst steht ja niemand da.«
»Ich habe es eilig. Tut mir leid. Grüßen Sie mir die Großtante.« Sie steht einfach da, den Türknauf in der Hand, der Stoff kann nichts von ihrer sehr ansehnlichen Weiblichkeit verstecken. Ich muss jetzt weg hier. Vielleicht kommt der Nachbar aus der Wohnung hinter mir und ruft gleich die Polizei. Die Hand zum Gruß erhoben, drehe ich mich um und verlasse zügig das Haus. Wie gut die Luft doch tut. Stadtluft kann so schön sein. Eine seltsame Ecke hier oben.


Der Feierabend ruft, steht schon vor der Tür. Noch ein Paket in der Werner-Siemens-Straße, dann geht es zu Silvia in den Musikkeller. Ich stehe vor einer schweren Holztür mit seitlichem Durchblick. Kinderwägen im Flur, drei Stockwerke, Neubau, acht Wohneinheiten. Nichts. Niemand öffnet. Zweites Mal klingeln, sehr ausgiebig. Ich kann das schrille Geräusch sogar hören. Also drücke ich gleich noch einmal, um mich zu versichern, dass ich es bin, der dort oben irgendwo die Toten weckt mit dem schrecklichen Ton. Aber nichts. Eine junge Frau mit Kind im Kinderwagen kommt.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen. Wollen Sie zu uns?«
»Wie ist denn Ihr Nachname?«
»Leibbrand.«
»Nee, ist für Heberger.«
»Ach, der Typ ganz oben …« Sie holt das Baby aus dem Wagen und fischt ungelenk den Haustürschlüssel aus der Handtasche.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen.« Ein schmales Lächeln. Sie gibt mir den Schlüssel, ich öffne und halte die Tür auf. Das Baby ist wirklich ein ruhiges Menschlein, beobachtet neugierig alles, was gerade geschieht, dreht das Köpfchen, ich zwinkere ihm zu. Kurz denke ich daran, in den dritten Stock zu spurten, das Paket vor der Tür abzulegen, aber das ist nicht erlaubt. Es könnte jemand an sich nehmen.
»Danke, sehr lieb von Ihnen.«
»Gerne doch.« Den Fuß in der Tür klingle ich das letzte Mal. Zigarette in den Mund und zählen. Nach dem dritten Inhalieren, stelle ich fest, dass keiner daheim ist, schreibe die Benachrichtigung und werfe das gute Stück in den Briefkasten. Auf dem Paket notiere ich: Benachrichtigt am (Datum) um (Uhrzeit). Unterschrift. Dann trete ich den Rückweg an. Der 508er steht am Beginn der Feuerwehrzufahrt. Ein paar einsame Wolken über mir am ansonsten blauen Himmel. Silvia ich komme!
»He!«, brüllt jemand. »Ist das der berühmte Service der Bundespost?!« Die Stimme muss mich meinen, sonst sehe ich niemand von der Bundespost hier. Aber wo ist der Kerl zu der Stimme?
»Hier oben, Sie Trottel!«
Der Neubau hat nur zur Hälfte ein Dach, die andere Hälfte ist Terrasse. Am Geländer steht ein Mann im roten Bademantel, winkt und streckt sich in einem durch. Dann stellt er sich auf den unteren Geländerrahmen, um sichtbarer zu werden, nehme ich an.
»Ich habe dreimal geklingelt«, rufe ich zurück. »Sie haben nicht geöffnet!« Ich neige dazu, ihm das Paket zu bringen. Vielleicht hatte er eine lange Sitzung auf der Toilette oder ist gerade erst aufgewacht nach durchzechter Nacht.
»Man wird ja wohl in Ruhe Zeitung lesen dürfen! Sie klingeln wie ein Irrer! Da bleibe ich doch extra sitzen, Sie Trottel!« Gut, das war’s für mich.
»Abholschein liegt im Briefkasten! Montag ab zehn Uhr am Schalter!«
»Was?!« Er führt eine Art Regentanz auf. Sein Bademantel macht das nicht mit. Aber die Haltungsnoten des Kerls sind nicht schlecht für sein vermutetes Alter. »Ich werde mich über Sie beschweren! Sie werden gefeuert!«
»Lecken Sie mich am Arsch!«, ist meine Antwort, steige ein und fahre Richtung Feierabend.


So stelle ich mir den Übergang ins Paradies vor. Das Licht geht aus, ich trete hinüber in ein seltsames Weiß, keine Entfernungen, keine Maßstäbe, kein Bezugspunkt, nur inhaltsloser Raum. Jemand fragt in meinem Kopf, wohin ich möchte, und mein einziger Gedanke ist Silvia. Das Weiß verschwindet, weicht dem Musikkeller, an dessen hinterem Ecktisch das Paradies sitzt. Den Stern in der Hand, einen Kaffee vor sich und die Kippe zwischen den Lippen. Ewig zerzauste Haare, blond und kurz. Voller Geheimnisse und der Abgrund in ihr kann Welten verschlingen. Sie ist ein Schmetterling, der eine ganze Städte zerbombende Luftflotte ersetzen kann, da bin ich sicher.
»Das Übliche?«, fragt Walter, als ich an der Theke entlang gehe und die Hand hebe.
»Tag, Walter. Ja, bitte das Übliche.«
»Bring ich dir gleich.«
»Danke.«
Sie rückt den Stuhl rechts von ihr vom Tisch ab. Ich setze mich und lehne den Kopf an die kühle Sandsteinwand. Die Musik ist heute recht leise. Hotel California von den Eagles. Ein Lied für den Samstagnachmittag. Silvia legt die Kippe in den Aschenbecher, beugt sich zu mir, Nasenspitze an Nasenspitze. Wir reiben sie gegeneinander.
»He! Das hab ich schon mal irgendwo gesehen!«, ruft Walter. »Irgendein Volk küsst sich so.« Er stellt den Drink auf den Tisch und begrüßt einen weiteren Gast. Silvia hält still, die Nase weiterhin an meiner. Blaue Augen wie Ozeane im Sonnenlicht. So klares Wasser und so finstere Tiefen.
»Ich habe dich vermisst«, haucht sie.
»Ebenso wie ich dich.«
»Vielleicht spüren wir über die Entfernung, wann wir uns vermissen. Meinst du, das geht?«
Ich kann nicht nicken, ohne ihre Nasenspitze zu verrücken. »Ja, das geht. Bin mir sicher.«
»Hast du mich schon dein ganzes Leben lang gesucht?«
»Gut möglich, Silvia. Gesucht auf jeden Fall. Wir beide waren wohl einmal einer dieser Kugelmenschen, die Zeus getrennt hat und deren Hälften sich seitdem wie blöd suchen. Ich habe meine eventuell gefunden.«
Silvia gibt mir einen Kuss und lehnt sich zurück. »Warum eventuell? Bist du nicht sicher?«
Nein, würde ich am liebsten sagen, und ich weiß nicht mal, warum ich unsicher bin. »Bist du denn sicher, deine gefunden zu haben?«, sage ich stattdessen. Sie trinkt den Kaffee leer.
»Eventuell«, sagt sie dann. Das versetzt mir einen Stich und meine Antwort eventuell wird das ebenfalls getan haben. Ich habe keine Ahnung, was zu tun ist. »Wir brauchen einfach noch Zeit«, schiebe ich hinterher. Ihr Blick geht zum Glas.
»Um diese Uhrzeit das Zeug. Trink aus, dann fahren wir ins Grüne. Irgendwohin.«
»Irgendwohin?«
»Dorthin, wo wir miteinander schlafen können. Ich sehne mich nach langsamer Zärtlichkeit.« Ich trinke in einem Zug leer.


»Das Kloster Maulbronn ist nicht gerade geeignet für Zärtlichkeiten aller Art«, meint sie und sieht sich um. Kaum Menschen anwesend auf dem weiten Areal.
»Ach was, ist doch gar nix los.«
»Ich geh mal Postkarten kaufen. Wenn schon, dann will ich ein paar Ansichtskarten verschicken.« Sie hat den kleinen Kiosk im Visier. Ein Langnese-Aufsteller verspricht leckeres Eis. Silvia hat ihre abgeschnittenen Jeans an, die nur unwesentlich länger als eine Unterhose sind, ausgefranst an den Schneidekanten. Dazu ein Seidentop und kein BH drunter. Die Mönche kämen zwangsweise ins Schwitzen, gäbe es denn noch welche hier. Zum ersten Mal nehme ich bewusst wahr, wie braun sie ist. Das müssen mindestens acht Wochen Strandurlaub in der Karibik gewesen sein, aber Göteborg? Gibt es da oben so viel Sonne? Sie geht zwei Meter vor mir. »Du siehst umwerfend aus. Beeindruckend schön. Können wir ewig so weiterlaufen?« Ein Schulterblick mit einem Lächeln ist mir gewiss, dann sind wir an der Eingangstür, öffnen, über uns scheppert eine Messingklingel. »Möchtest du auch ein Eis?«
»Oh ja, Langnese Konfekt. Wie im Kino.«
Ich kaufe ein Cornetto Erdbeere und das Langnese Konfekt. Silvia zieht eine Karte nach der anderen aus dem Ständer, wählt dann einfach fünf Stück aus und zahlt.

Wieder auf dem Innenhof, steuern wir einen der Banktische an, aufgestellt für Touristen wie uns. Silvia sitzt ganz dicht neben mir, presst sich regelrecht an, die Hitze ihrer Oberschenkel ist enorm. Der Jeans-Stoff meiner Bermuda ist dem nicht gewachsen. Ich genieße es. Sie schwitzt etwas und das Top hat sich auf die Haut gelegt, bildet jeden Muskel ab und die Brüste.
»Hier, dein Konfekt.«
»Danke.«
Ich reiße das Papier vom Cornetto und beiße hinein. Ein Mann in orangefarbener Arbeitskleidung kommt aus einem der Gebäude, schultert Besen und Schaufel, dann geht er zur Mauer und fängt an zu fegen. Silvia steckt einen Konfektwürfel halb zwischen die Lippen und beugt sich mir zu. Ich beiße vorsichtig die Hälfte ab. Wir kauen küssend oder küssen kauend. Schwer zu beschreiben, aber es klappt. Der Platz in meiner Hose wird eng und sie weiß es, legt eine Hand auf die Stelle und drückt sanft mit allen Fingern. Nun komme ich auch ins Schwitzen. Sie lächelt und wendet sich den Postkarten zu, holt einen Kugelschreiber aus der kleinen Umhängetasche.
»An wen möchtest du schreiben?«
Sie legt alle Karten vor sich. Schlechte Aufnahmen. Alt, der Druck nicht sonderlich gut, beschriftet in gedruckter Handschrift, gelb auf blauem Himmel oder rotem Sandstein. Schrecklich. Die Werbeabteilung hat völlig versagt. Die Karte mit der Innenansicht der Klosterkirche dreht sie um.
»Die schicke ich an meinen Papa.«
»Gefällt ihm so was?«
»Ja, ich denke schon.«
Silvia beginnt zu schreiben, ich esse das Eis, bevor die Sonne es tut. Langsam lege ich die rechte Hand in ihren Nacken und fahre beständig auf und ab oder kreise über Sehnen, den Atlas, spüre Wirbel und Muskeln.
»Ich bin mehr als in dich verliebt, Silvia. So viel mehr. Ich könnte sofort anfangen zu weinen, so schön ist es mit dir.«
»Dann tu es. Ich mag es, wenn du weinst.« Sie wechselt die Karte. Mein Blick trübt sich ein. Dann kullern sie, die Tränen. Ich verstehe es nicht. Sie schafft es, mich zu öffnen, mit nur einem Blick, mit einem Atemzug. Sie dreht den Kopf, sieht es und küsst meine Wangen trocken. Dann schreibt sie weiter.
»Die hier geht an meine Mutter.«
Schniefend ziehe ich ein Taschentuch aus der Hosentasche, trockne die Augen und schnäuze hinein. Schon hat sie die nächste Karte vor sich. »Das waren aber nicht viele Worte an deine Mutter.« Sie geht nicht drauf ein.
»Jetzt mein Bruder.«
»Du hast einen Bruder?«
»Leider.«
»Ich bin Einzelkind. Das ist auch gut so.« Silvia reagiert nicht. Der Kugelschreiber fegt wie ein Wirbelwind über das Weiß der Karten.
»Und die an meinen Onkel.«
Jetzt sage ich nichts mehr, beuge mich vor. Das Eiskonfekt schwitzt in der Sonne. Ich möchte ihr eines in den Mund stecken, aber sie schüttelt mit zusammengepressten Lippen den Kopf. Für den Onkel gibt es nur ein Wort. Sie hat Drecksau geschrieben. Keine Adresse. Auf die letzte Karte kritzelt sie zwar etwas aufs Adressfeld, aber ich bin sicher, diese postalische Anschrift gibt es nicht. Alle, die es interessiert steht da, und auf der freien Fläche nur ein gezeichneter Kreis, mehrfach wiederholt. Ein weißes Loch. Silvia zittert.
»Soll ich Briefmarken kaufen? Die gibt es im Kiosk. Ich gehe schnell, warte …«
»Nein! Keine Briefmarken!«, sagt sie und die Stimme ist eine andere als vorhin, als gestern oder sonst wann. »Ich gehe schnell zum Briefkasten. Bin gleich wieder da.« Zügig steht sie auf, nimmt alle Karten, geht zum Mülleimer neben dem Kiosk und wirft sie hinein. Dann geht sie in die Hocke. Sie weint.