Buch | Kapitel 7

Nach Westen

Buch übergibt sich ein viertes Mal. Von einem Eintrüben des Wetters kann keine Rede mehr sein. Der Windmesser ist kaum zu erkennen, so schnell dreht er sich. Magellan hat die Hauptsegel einholen lassen, nur die Vorsegel trotzen dem Sturm, aufgebläht, gespannt bis zum Äußersten. Das Schiff giert, rollt nach beiden Seiten. Martin und alle anderen haben sich an Bodenhaken angeseilt, Maga und Buch Taue um ihre Brust gebunden. Sie sitzen unter dem Aufgang zum Hinterdeck. Magas Koffer steckt unter ihrer Jacke, festgezurrt mit Schnüren.
»Gut, dass ich kein Metallschiff habe«, brüllt Magellan gegen die fauchende Gischt und kämpft sich – an ein gezogenes Tau gebunden – den Aufgang hoch zu Martin. »In den Wind, Martin!«, hört Buch ihn schreien. »Immer gegen die Wellen! Sonst endet es kläglich!« Was Magellan damit meint, weiß Buch nicht, aber es muss wichtig für das Leben aller sein. Er schaut zu Maga. Sie hat die Stirn auf den Knien. Buch drückt sich an ihren Oberkörper und Magas Arm schließt sich um seine Schultern. Eine Wand aus Wasser rauscht über die Reling und will alles von Deck fegen. Er denkt an Bestemurs Hütte. Die Lawinen im Winter, der große Erdrutsch, Tals Verschwinden, Tauschs Tod. Buch begreift, dass jeder Tag ohne eine Gefahr ein guter Tag ist. Ehe man es sich versieht, ist alles ganz anders, viel schlimmer, als in der Vorstellung.
»Wir sind die Spreu vom Weizen«, sagt Buch und Maga hebt den Kopf. »Wir können uns nicht halten und nichts hält uns«, stellt er fest und sieht in Magas Augen. Es ist nicht das Wasser der Gischt in ihnen. Maga weint. Es schüttelt sie. Nur Buch kann es sehen. Magas Arm sinkt aufs Deck und Buchs Hände schließen sich um ihren Rücken. Er summt eine Melodie die er von Bestemur kennt und weiß nicht mal, ob Maga sie hört. Stattdessen trifft etwas die rechte Bordwand und versetzt das Schiff ein Stück, drückt es nach links ins Wasser. Menschen rutschen, die Beine zieht es ihnen weg, wie Blätter hängen sie waagerecht in der Luft. Die Wand aus Gischt nimmt Buch den Blick. Er muss sich übergeben und sieht das Wasser ablaufen. Der Strick, an dem Magellans linke und rechte Hand angebunden war, ist gerissen. Sie ist weg. Die Frau der wenigen Worte und klaren Befehle ist verschwunden. Draußen im Meer, denkt Buch. Dort, wo die Welt zeigt, was sie wirklich ist. Ein Ding, das die Menschen auf sich duldet. Magellan schreit Worte die er kaum versteht.
»Es ist so laut«, sagt Buch. Maga wird es nicht hören und doch nickt sie. Ihre Tränen laufen nur einen kurzen Weg, dann nimmt der Wind sie mit. Ein grässliches Knirschen ist zu hören. Buch will sehen, woher es kommt, da kracht ein großer Teil des Hauptmasts zwei Armlängen neben ihm aufs Deck, mitsamt Takelage, einem Gewirr aus Umlenkrollen und Tauen. An Magas Kopf vorbei zischt der zerborstene Teil einer Metallmanschette und bleibt zitternd im Holz stecken. Buch wundert sich. Nichts hat er davon gesehen oder bemerkt. Zwei Handbreit bis zum Tod, weiß Buch und drückt Magas Stirn gegen seine. Er ist froh, keine Angst zu kennen. Nur ein dunkles Loch ist in ihm. Nicht hineinfallen. Magellan taucht neben ihm auf. Seine langen Arme umschließen ihn und Maga. Es gibt wohl nichts mehr zu tun für ihn, denkt Buch. Dann erblickt er vorbei an Magellans Berg aus Haaren vor dem Schiff eine graue Wand, die sich langsam auftürmt, so langsam, dass Buch sich fragt, wie das sein kann. Das Schiff steigt, will den Berg erklimmen, Buchs Magen hebt sich. Oben angekommen, ist der Blick weit. Als hätte ein Riese gleichzeitig tausend Felsen in den See geworfen. So sieht das Meer aus. Kronen aus Schaum überall. Ein Gebirge aus Wasser, die Täler so weit unten, das Schiff kippt über den Wellenkamm. Magellan rutscht in den Abgrund, entlang des Taus, das ihn nicht aufgeben will, bis zum Vordeck, wo das Seil um seine Brust hochrutscht, ruckartig gestoppt wird vom Knoten ums Tau. Schlagartig zieht sich das Seilauge zu. Um Magellans Oberkörper. Buch kann sehen, wie er abgetrennt wird, unter den Armen, als wäre es Staub im Wind. Weit hinaus trägt ihn die Wucht. Magellans bärtiger Schädel verschwindet im Grau der Gischt. Das Schiff schlägt auf im Wellental. Das Deck bricht in viele Teile. Buch klammert sich an Maga.


Martins Stimme. Maga sagt etwas. Einen anderen Mann verlangt es nach Wasser. Buch will sich übergeben. Unmöglich, denkt er, es kann nichts mehr drin sein. Die Augen öffnen, das nimmt er sich vor. Von irgendwo kommt Sonnenlicht. Die Dünung ist hoch, der Himmel so blau wie an einem schönen Sommertag vor Bestemurs Hütte. Immer noch das Meer. Als er sich aufrichtet, kann er weiße Felsen sehen. Wasser umspült ihn und alle, die mit ihm auf der Holzinsel ausharren, den Resten des Schiffes, einem Teil des Hinterdecks, wie Buch erkennt. Maga, Martin, ein Mann, den er nicht kennt. Sie bewegen sich. An Martin vorbei entdeckt er ein Boot mit vier Ruderern. Zügig tauchen die Ruderblätter ins Wasser. Sie steuern auf einen Steinwall zu, der vom Land ins Wasser ragt. Zwei Menschen stehen auf ihm und angeln. Maga tastet nach dem Koffer unter ihrer Jacke wie Tal nach einem neugeborenen Lamm auf der Weide.
»Sieh nur, Maga! Unser Jüngling ist wieder wach!«
Martin zieht ihn an seine Brust, klopft ihm den Rücken. »Ich sollte das alles aufschreiben«, sagt Buch. Martin drückt ihn von sich ab und starrt in die großen, schwarzen Augen des Jungen.
»Maga hat mir erzählt, dass du, ähm, anders bist. Aber so anders …«
»Wie bin ich denn?«
»Na, schau dich um! Das ist der Rest. Maga, du und ich. Der andere ist von einem Schiff in der Nähe, das auch auf dem Grund liegt. Knapp überlebt. Und du sagst, es aufschreiben zu wollen. Ich muss mir eine neue Arbeit suchen! Und niemand nimmt den Rudergänger eines im Sturm gesunkenen Schiffs, denn das bringt Unglück …«
Buch schüttelt den Kopf. »Ich habe gelesen, es gibt kein Glück oder Unglück. Es gibt nur etwas, das Wahrscheinlichkeit heißt. Eines Tages werde ich herausfinden, was das wirklich bedeutet.«
»Ich habe eine neue Arbeit für dich«, sagt Maga und greift an Martins Oberarm. »Komm mit uns. Ich kann Hilfe brauchen, denn unser Weg ist gefährlich.«
»Das macht Sinn«, erklärt Buch. Martin schaut aufs Meer. Buch folgt seinem Blick. Nichts als Wasser, doch es wird immer blauer und Richtung Land sogar hellgrün.
»Wenn ich es mir recht überlege, habe ich ja wirklich nichts anderes zu tun«, sagt Martin und reibt den Bart. »Was müsste ich denn machen?«
»Uns helfen, nach Cork zu kommen. Und du kannst bei uns bleiben, wenn du willst. Arbeit gibt es genug.«
»Ich weiß ja gar nicht, wen du mit ‚uns‘ meinst. Die meisten Menschen sind nicht besonders freundlich. Nur bei Magellan habe ich mich wohlgefühlt.«
»Ich mich auch, wenn er nicht getrunken hat.«
Martin mustert Maga. »Er hat immer getrunken.«
»Ich weiß.« Buch kann beiden nicht folgen. Das Gespräch ist seltsam. Doch die Farben des Meeres sind sehr beeindruckend. Darüber hat er bisher nirgendwo etwas gelesen.
»Warum ist das Meer grau, wenn der Himmel grau ist, und so blaugrün wie jetzt, wenn die Sonne scheint?«
»Genau deswegen«, sagt Maga. »Das Licht der Sonne und der Einfallswinkel des Lichts. Darüber habe ich ein paar Bücher für dich, wenn wir zuhause sind.« Wenn wir zuhause sind, denkt Buch. Zuhause war bisher Bestemurs Hütte oder Krauts Haus. Und jetzt ist es … der Rest eines Schiffes.


Eine alte Burg, sagte Maga. Dies ist eine alte Burg. Doch auf Buchs Nachfrage, wie alt denn ‚alt‘ sei, wusste sie keine Antwort. Nur dass Burgen an Küsten die Seewege sicherten und große Kanonen zwischen den Zinnen hervorschauten, um alles zu versenken, was sich ihnen näherte und feindlich war. Martin war losgezogen, um die Händlerin aufzutreiben, die sie nach Westen mitnehmen konnte. Zu Magas Vorschlag hatte er ‚Ja‘ gesagt und darüber war Buch erleichtert. Sah er Martin, dachte er an Bestemur. Etwas mussten die beiden gemeinsam haben.
Jetzt liegt Maga auf einer Steinbank, die Augen geschlossen, eingewickelt in eine Decke, die sie einem der Angler abgehandelt hat. Die Umrisse des Koffers zeichnen sich darunter ab. Buch sitzt davor auf dem mit großen Steinplatten ausgelegten Boden. Weiches Moos hat sich auf ihnen ausgebreitet. Der Kopf liegt auf Magas Hüfte. Er starrt an die gewölbte Decke. Bogenförmige Säulen stützen sie ab.
»Buch?«
»Hm?«
»Der Koffer darf nicht verloren gehen.«
»Nein, das darf er nicht. Alles wäre umsonst. Alle Menschen ohne Sinn gestorben.«
»Deswegen ist es wichtig, dass du weißt, wie man ihn öffnet.«
»Das weiß ich, Maga. Du drückst beide Daumen auf die Leiste. Dann geht er auf.«
»Das ist solange richtig, wie ich am Leben bin oder erreichbar.« Buch hebt den Kopf von Magas Hüfte und schaut den Gang entlang.
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will damit sagen, dass wenn ich sterbe, du diesen Koffer nach Cork bringen wirst.«
»Du kannst dich auf mich verlassen.«
»Und wie öffnest du ihn in Cork?« Buch schweigt. Sie hat recht. Ohne Maga ist das sinnlos. Ein Gedanke kommt ihm. Aussprechen will er ihn nicht, ahnt jedoch, dass Maga dies hören will.
»Ich könnte ihn mit deinen Daumen öffnen.« Buch spürt Magas Hand auf seinem Hinterkopf. Sie krault durch die schwarze Haarpracht.
»Mein kluger Buch. Du weißt, was das bedeutet?«
»Ja«, sagt er knapp und verschluckt sich fast, das Räuspern bleibt in Buchs Hals stecken.
»Nimm ein scharfes Messer, damit geht es einfach. Du kennst es von den Schafen. Immer am Gelenk.«
Ich möchte jetzt weinen, denkt Buch und sucht die Tränen in sich. Nichts zu finden. Eine Weide voll schwarzer Löcher, mehr nicht. Er erinnert sich an den Moment, als Maga auf dem Schiff weinte. Als der Tod schon die Türen geöffnet hatte, um alle hereinzubitten. Magellans Kopf wehte wie eine Staubkugel davon, das abgerissene Seil, an dem zuvor Magellans rechte und linke Hand festgezurrt war. Die Welle nahm sie einfach mit. Und dann sind da noch Magas Mitreisende auf der Rückfahrt von Spitzbergen. Auch das hat ein Sturm getan. Für Maga muss ein Sturm schlimmer sein als das Schlachtermesser für ein Schaf. »Hat Magellan einen dunklen Abgrund in dir zurückgelassen?«, fragt Buch in Magas gleichmäßiges Atmen hinein.
Der Körper hinter Buch beginnt zu zittern. Ein Rascheln auf der Steinbank. Er dreht sich auf die Knie, schiebt den Arm unter ihren Kopf, legt die Wange an ihre. Sie weint wieder, wird geschüttelt. Es sind die schwarzen Abgründe, denkt Buch. Ganz fest drückt er sich an sie. Ich werde sie wärmen, denkt er. Das macht Sinn.


Buch wirft den großen Knochen in die Ecke. »Moment mal! Was machst du da?« Martin sieht Buch erstaunt an. »Da ist noch Mark drin.«
»Ich mag das nicht«, erklärt Buch.
»Aber ich«, erwidert Martin, steht auf, nimmt den Knochen und bricht ihn entzwei. Mit dem kleinen Finger kratzt er das Knochenmark raus und steckt es in den Mund. Als er nicht mehr drankommt, geht er raus.
»Jetzt sucht er sicher einen kleinen Stock«, stellt Buch fest und schaut zu Maga. Sie schließt Koffer und Tablet an die schwarzen Module an und antwortet nichts. Buch denkt über sie nach. Maga ist schweigsam geworden. Etwas geht vor. Wie ein Gewitter hinter den Bergkuppen am Fjord. Noch sieht es niemand, aber es kommt langsam näher. Bestemur, Tal und Berg konnten es riechen. Da kommt was, sagten sie dann immer.
Martin kehrt zurück und kratzt mit einem rostigen Nagel im Knochen. Er schmatzt und sieht sich um. »Wenn die Sonne untergegangen ist, kommt die Händlerin. Dann müssen wir unten am Strand stehen.« Buch nickt. Maga schweigt. Martin stellt sich neben sie und schaut ihr über die Schulter. »Hast du gehört?«
»Hab ich.«
»Sie bringt Kleider mit. Genug für uns alle. Mit so einem Stück Gold bekommt man viel.«
»Hoffentlich auch ihr Schweigen«, murmelt Maga.
»Es ist keiner der Ordensmänner auf der Insel. Schon lange wurde keiner gesehen.« Maga steht auf und wendet sich Martin zu. Nur eine Faust passt zwischen beider Nasenspitzen.
»Wen hast du gefragt?«
»Eine alte Mamsell.«
Maga schüttelt den Kopf. »Du musst noch viel lernen, Martin. Es ist besser nicht zu fragen, als eine dumme, alte Mamsell, die es jeder und jedem erzählt. Was denkst du, wie oft Fremde kommen und nach Ordensmännern fragen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Nicht sehr oft. Und deswegen ist es eine Besonderheit. Und Besonderheiten bleiben den Menschen im Gedächtnis.« Martin fällt in sich zusammen. Einen halben Kopf kleiner ist er und schaut auf seine Füße. »Wo wohnt die Alte?«
»Kannst sie nicht verfehlen. Neben dem grünen Haus ist ein Durchgang zum Hinterhof. Dort in einer flachen Hütte.« Maga wirft den Umhang über, dreht sich um und kramt in der Tasche nach etwas. Sie steckt es ein, ohne dass Martin und Buch sehen, was es ist.
»Buch! Wartet bis die Sonne rot wird, dann packt alles zusammen. Schwarze Folie und Tablet in den Koffer. Geht zum Strand. Ich werde rechtzeitig dort sein.« Ohne ein weiteres Wort verschwindet Maga. Martin sieht ihr nach.
»Sie wird die Alte fragen, wem sie es schon erzählt hat. Dann muss sie sterben und die anderen auch. Es macht Sinn, denn nur dann sind wir sicher«, sagt Buch und kontrolliert die Ladeanzeige des Tablets. Im Koffer liegt der Stoffbeutel. All das geschieht nur wegen dieses Beutels. Buch denkt an die Bilderbücher. Große Wälder, eine unübersehbare Zahl Bäume. Vielleicht sieht die Welt eines Tages wieder aus wie auf den Bildern. Martin setzt sich schweigsam auf die Steinbank.
»Weck mich, wenn die Sonne rot wird«, bittet er Buch und streckt sich. Eine Knochenhälfte auf dem Bauch, schließt er die Augen. Buch geht nach draußen.


Nur das oberste Rund der Sonne steht noch über dem Streifen Hügelland im Westen. Buchs Augen suchen nach Maga. Den ganzen, weiten Strand nach Süden bis hoch zu den weißen Felsen. Vergeblich. Die Schatten werden länger und gehen über in blaues Zwielicht, lösen sich auf, ergeben sich der nahenden Nacht. Ein gleichmäßiges Klatschen von Rudern im Wasser, dann Stimmen. Martin nimmt zwei Taschen über die Schultern, Buch steckt den Koffer unter den Umhang. Ein Mensch springt ins Wasser, zieht das Boot auf den Strand. Aus dem Gemäuer der Burg löst sich etwas und kommt zügig heran. Groß und schlank. Maga! Das Loch in Buch schließt sich. Niemand sagt etwas. Der Mann im Wasser hebt die Hand. Martin, Maga und Buch gehen die wenigen Schritte, klettern an Bord, der Mann schiebt das Boot mit der nächsten Welle ins Wasser, die Ruder tauchen ein und sie gleiten aufs Meer hinaus. Die Sonne ist weg. Kälte steigt herauf. Der Mann klopft mit der flachen Hand von außen auf die Bordwand. Buch zählt. Er kommt auf die Vier. Vier zwischen den Ruderschlägen. In der Ferne ist ein Licht. Erst schwach, dann immer heller werdend. Es bewegt sich von links nach rechts, steht still, zurück nach links, steht still. Martin tippt auf Magas Oberschenkel und nickt zum Licht. Eins, zwei, drei, vier, eintauchen und ziehen. Buch hat nicht den Eindruck, als kämen sie dem Licht näher. Es ist das Meer, denkt er. Nur so kann es sein. Auf ihm gibt es nichts, nach was ich mich richten kann. Wenn ich es sehe, kann es so weit weg sein, wie der Nordstern oder so nah wie Martins Hand auf seinem Schoß. Also konzentriert er sich auf die Vier. Bis Stimmen zu hören sind, eine Strickleiter sichtbar wird. Das Boot geht längsseits, die Ruder werden eingezogen, Holz stößt auf Metall. Es klingt hohl. Buch staunt. Ein Metallschiff. Er will mit den Fingerknöcheln dagegen klopfen, jemand drängt ihn jedoch zur breiten Strickleiter.
»Los! Rauf!«, sagt eine brüchige Stimme. Er steigt hinauf, Martin neben sich, der sich oben umdreht und Maga die Hand reicht. »Nach rechts, durchs Schott und nach unten!« Buch weiß nicht, was ein Schott ist, aber er folgt Martin. In der Nase ist der Duft von Eisen. Bestemurs Pfannen verbreiteten den Duft, wenn er sie gewaschen hat. Das Schott. Es ist aus Metall. Die Treppe, alles ist aus Metall. Und gut erhalten, aber viele Farben. Grün auf dem Boden, dunkelrot und weiß an Wänden, dazwischen ein seltsam raues Grau. Eine Frau erwartet sie im Unterdeck, weist mit der Hand in eine Öffnung. Ein weiteres Schott. Es führt in einen Raum. Drei Betten, ein Tisch, drei Stühle und eine Metallschüssel, die am Boden festgemacht ist. An der Decke ein Licht, von dem Buch nicht weiß, wie es funktioniert. Ein dunkles Gelb, sehr schwach.
»Essen kommt in einer Stunde«, sagt die Frau und schließt die Tür hinter ihnen. Es klackt und Buch sieht ein Metallband, dass sich auseinanderschiebt. Ein Ende geht unten, ein zweites oben in einen Schlitz. Martin schnauft heftig aus, lässt sich auf ein Bett fallen und ist keine fünf Atemzüge später eingeschlafen. Maga setzt sich auf einen Stuhl. Buch geht zur Decke an der Metallwand, hebt sie an. Ein rundes Fenster ist dahinter. Die Decke verhindert, dass Licht nach außen dringt. Das macht Sinn, denkt er und setzt sich.


Die Kapitänin hat sich einen Stuhl mitgebracht und eine zweite Frau vier Teller mit etwas auf den Tisch gestellt, das Buch als Püree bezeichnen würde. Kaum feste Bestandteile. Mit dem Löffel schiebt er Teile davon auf dem Teller hin und her. »Was ist das?«
»Stew«, erklärt die Kapitänin und steckt einen Löffel voll in den Mund.
»Das kenne ich nicht.«
»Fast jeden Tag haben wir Stew. Macht satt und ist nahrhaft. Wir beschweren uns nicht.«
»Ich kenne bessere Köche«, sagt Martin. Die Kapitänin überhört seinen Einwurf.
»Ich werde nicht nach euren Namen fragen. Und vergesst meinen. Unser Ziel ist wie immer Galway. An irgendeinem Punkt bei Cork werde ich euch absetzen. Das wird morgen früh sein. Ruht bis dahin aus.« Maga und Martin nicken und löffeln ihr Stew. Buch lauscht dem Brummen, das begonnen hat, als sie Fahrt aufnahmen. Ein ständiges Vibrieren ist im Metallboden zu spüren. Ein Metallschiff das brummt und vibriert. Buch denkt an zuhause, Åndalsnes. Eine kleine Welt in einer viel größeren, von der er keine Ahnung hatte. Mit jedem neuen Tag auf dieser Reise muss er feststellen, dass sein bisheriges Leben unter einem großen Stein stattfand, in einem großen Schatten abseits der Dinge, die es noch gibt.
»Kapitänin?«
»Ja, mein Junge?«
»Ich war noch nie auf einem Metallschiff, habe bisher nur ein kaputtes gesehen, das aus der untergegangenen Welt stammt. Dieses hier aber ist nicht kaputt, es brummt, der Boden zittert. Wie geht das? Darf ich sehen, wie es fährt?« Martin kratzt mit dem Löffel im Stew und Maga zeigt ein schmales Lächeln. Beide schweigen. Die Kapitänin lehnt sich zurück, zieht beide Augenbrauen in die Stirn und reibt über ihre Nasenflügel.
»Wenn du das noch nicht gesehen hast, Junge, dann musst du aber sehr weit weg aufgewachsen sein. Ich will gar nicht wissen wo, denn je weniger wir voneinander erfahren, desto besser für alle.« Sie steht auf. »Komm mit! Ich zeige es dir.« Buch legt den Löffel auf den Tisch und sieht die Kapitänin schon aus dem Schott verschwinden. Er geht zügig hinterher, den Gang entlang, vorbei an vielen Schotts, manche geöffnet, in einigen Räumen sitzen Männer an Tischen und trinken oder essen. Dann endet der Gang vor einer sehr stabil aussehenden Tür. »Junge, du nennst mich Ro. Nur für dich. Niemand sonst kennt diesen Namen. Höre ich ihn einmal irgendwo, dann weiß ich, du hast geplappert. Alles klar?«
»Verstanden, Ro.«
Sie öffnet und geht in den Raum. Das Brummen ist um einiges lauter geworden. In Buchs Bauch kribbelt es. Kommt es vom vibrierenden Boden? Rechts und links stehen Metallkästen, deckenhoch. Lichter sind zu sehen in unterschiedlichen Farben. Ro geht mit schnellem Schritt hindurch zu einem Türrahmen ohne Schott. Ein zweiter Raum. Der Gang wird zu einem zweiten Stock. Ein Deck tiefer ist ein halbrunder Kasten.
»Der Elektromotor«, sagt Ro. »Siehst du das, was vorne rauskommt und sich dreht?« Buch staunt. Er kann nur nicken. »Die Welle. Dazwischen ist ein Getriebe. Eine Übersetzung. Aus schnell wird langsam. Mehr Kraft. Wir haben alles aus einer der alten Windturbinen ausgebaut. Funktioniert auch anders herum. Verstehst du?«
»Nein«, sagt Buch wahrheitsgemäß. Er versteht nicht. Ro winkt ab und geht weiter. Auf beiden Seiten sind große Blöcke zu sehen aus denen viele rote und blaue Stöpsel herausragen. Buch sieht so etwas wie Seile, die aus einem glänzenden Material bestehen und auf die Stöpsel aufgesteckt sind.
»Das sind die Batterien. Tagsüber laden wir sie auf.«
»Aufladen?« Buch denkt an die schwarze Folie. »Mit so einer schwarzen Folie? Licht von der Sonne?« Ro zieht eine Schnute. Eine anerkennende Geste. Er kennt sie von Bestemur, die das nur dann tat, wenn ihm etwas Hervorragendes gelungen war.
»Sehr gut, Junge. Wir sind eines von drei Schiffen, das elektrisch fahren kann. Aber wir schaffen nur zehn Knoten und bleiben meist dicht unter Land. Die einzig gefährliche Strecke ist die über die Gälische See. Einen Sturm würden wir nicht überstehen. Bleiben wir dicht unter Land, sind wir recht sicher.« Buch verkneift sich die Erlebnisse um Magellan. Schweigen war die Anweisung Magas gewesen. Wer schweigt, lebt länger.
»Ist das Schiff noch aus der untergegangenen Welt?« Ro sieht ihn für einen Moment fragend an, dann hellt sich ihr Gesicht auf.
»Untergegangene Welt … ich verstehe, was du damit meinst. Große Teile des Rumpfes, ja, aber der technische Kram ist von überall her. Allerdings wirst du dir denken können, dass es Wissen und Können braucht, um das Leben des Schiffes zu erhalten. Menschen, die das können, findet man selten. Man muss wissen wo.« In Buch öffnet sich eine Truhe. Gedanken, Ideen, Fragen, alles auf einmal sprudelt hervor. Ro beobachtet wie Buchs schwarze Augen hin und her springen. Von den Batterien, zum Motor, den Kabeln folgen. Er zittert. Als würde ein Mensch zum ersten Mal die Sonne sehen. »Die Antwort auf deine nicht gestellte Frage ist ‚Nein‘! Ich werde dir nicht verraten, wo diese Menschen sind. Die Ordensmänner mögen keine Technik. Dort, wo sie Macht und Einfluss haben, gibt es keine Technik.«
»Also muss es ein Geheimnis bleiben?«
»Solange wie möglich. Aber nichts bleibt ewig ein Geheimnis. Der Orden breitet sich aus, und damit wird er unweigerlich auf die Menschen treffen, die über die Technik Bescheid wissen.«
»Aber wie habt ihr es dann geschafft? Haben die Ordensmänner keinen Einfluss auf der Insel?« Ro lacht, dann endet es abrupt. In ihrem Gesicht zeigen sich Falten und noch etwas, das Buch bei Tausch gesehen hat, als er in Johannas Kabine stürmte. Ein verzerrtes Gesicht. Es muss Wut gewesen sein.
»Nein. Wir lassen sie nicht auf die Insel und auch an vielen anderen Orten sind sie nicht erwünscht. Doch sie werden von Jahr zu Jahr stärker. Die Menschen folgen ihnen zunehmend. Die Dummen sterben nie aus, merk dir das, Junge.« Ro tut einen Schritt hin zu Buch, dreht ihn um und schiebt ihn aus dem Raum. Zurück zu Maga und Martin.
»Ich verstehe nicht, warum diese Ordensmänner, etwas nicht wollen, was allen Menschen helfen kann?«, fragt Buch auf dem Gang.
»Weil es nicht gottgefällig ist. Technik ist der Teufel, predigen sie. Und sie sei am jetzigen Zustand der Welt schuld«, sagt Ro, schiebt Buch in den Raum, hebt die Hand und schließt das Schott.
»Das macht keinen Sinn«, sagt Buch zu sich selbst.


Buch hat schnell herausgefunden, dass dieses Ding ‚Knopf‘ genannt wird. Alles Ding hat einen Namen. Ob Bestemur sich hier zurechtfinden könnte? Diesen Knopf an der Wand neben der Tür kann man drücken, und das Licht geht an. Noch einmal drücken, es geht aus. Nach mehrmaligem Ausprobieren gibt Martin ein knurrendes Geräusch von sich.
»Buch! Ich bitte dich! Das macht mich ganz nervös!«
»Gut, ich hör auf.« Er schaltet das Licht aus, geht zum Vorhang, hebt ihn an und schaut hinaus. Keine Armlänge unter ihm gleitet das Wasser vorbei. Wenig Dünung und kaum Wolken am Himmel, dafür ein heller Mond. Das Glitzern seines Lichts auf dem Wasser erinnert Buch an den sehr kalten Winter, den aufgefrorenen Schnee, der das Licht in viele Farben brach und Berg vom Tod geholt wurde. Maga hat die Augen zu, aber sie schläft nicht. Das hört Buch an ihren Atemgeräuschen.
»Maga, ist Cork landeinwärts oder hat es einen Hafen?«
»Einen Hafen.«
»Warum legen wir dann nicht dort an?«
»Wer mit uns Handel treibt, wird von den Ordensmännern verfolgt. Das kann die Geschäfte stören. Wir handeln nur mit Händlern vom Kontinent.«
»Dann sind die Ordensmänner eure Feinde?« Maga dreht die Beine aus dem Bett, setzt sich auf und streckt die Arme in die Höhe. Sie gähnt ausgiebig.
»Es ist andersrum. Sie sehen uns als Feinde. Sie sehen alle Menschen als Feinde, die noch Technik nutzen und nicht nach ihrem Ideal leben.«
»In Åndalsnes habe ich noch nie von diesen Ordensmännern gehört.«
»Sei froh«, wirft Martin ein. »Mit denen ist nicht zu spaßen.«
»Åndalsnes ist zu unbedeutend, als dass es jemanden interessiert«, sagt Maga und steht auf.
»Bestemur hat gesagt, alles Ding hat einen Namen und eine Bedeutung.« Maga tritt an die Seite Buchs, legt den Arm um dessen Schulter.
»Sie hat recht, Buch. So ist es auch. Aber nicht in den Augen der Ordensmänner. Nicht alle Menschen denken wie Bestemur oder Kraut oder du. Die wenigsten tun das. Und am allerwenigsten die Männer des Ordens. Für sie hat nur ihr Gott ein Existenzrecht. Und das gewährt er denjenigen, die an ihn glauben. Alle anderen versucht man zu überzeugen. Zwei oder drei Mal. Lassen sie sich nicht überzeugen, sind sie das armselige Leben nicht wert, das sie führen. Es darf beendet werden.« Maga schnippt mit zwei Fingern. »Einfach so.«
Einfach so, wiederholt Buch im Stillen. Er sieht vor sich die Bilder der Menschen, die Magas Weg kreuzten und nun nicht mehr leben.
»Du tötest auch Menschen, einfach so.«
»Ich töte, wer uns, dich und mich, bedroht. Uns das Leben nehmen will. Einfach so. Ja, da hast du recht.«
»Dann gibt es ‚einfach so‘ zweimal. Einmal ist es richtig, einmal falsch.« Buch setzt zu einem weiteren Satz an, aber Maga legt den Finger auf seine Lippen. »Und ich töte, wer uns das Leben in Cork nehmen will, das wir über viele Jahrzehnte aufgebaut haben. Wer uns den Frieden nehmen will«, fährt sie fort.
»Hört, hört«, sagt Martin im Hintergrund. Maga wirft ihm einen Blick zu, den Buch nicht deuten kann.
»Buch«, beginnt sie von Neuem, »niemand muss unser Leben führen. Und niemand sollte das Leben der Ordensmänner führen müssen. Der Unterschied ist, wir lassen alle leben, wie sie wollen. Die Ordensmänner nicht. Sie sagen: Nur unser Weg ist der richtige Weg. Lebe danach oder stirb.«
»Ich kann das Leben der Ordensmänner sicher nicht leben«, erwidert Buch, »denn ich glaube nicht. Ich will wissen. Also werde ich dein Leben kennenlernen, Maga.« Sie legt den Kopf auf Buchs Schulter. Inzwischen ist er bald einen halben Kopf größer als sie. Er lässt den Vorhang los und fasst um Magas Hüfte. Der Boden beginnt stark zu zittern. Jemand klopft ans Schott.


»Ich gebe euch das kleine Ruderboot. Von der Mannschaft kann ich niemand entbehren.« Ros Haut glänzt im Mondlicht. Es ist warm und die Luft feucht. Martin steigt über die Reling, klettert die Strickleiter hinab. Buch folgt ihm.
»Was machen wir mit dem Boot?«, will Maga wissen. Ro winkt ab.
»Ist nur ein kleines Boot. Ich denke sowieso daran, meine Dienste in Richtung Kontinent zu verlegen. Der Orden breitet sich zunehmend aus. Neben sich lässt er kaum jemand existieren. Schon gar nicht Seeleute wie uns, die zu niemand gehören wollen.«
Maga bewegt den Kopf. Ein Nicken im Mondlicht. Die länger werdenden Haare zu einem kleinen Zopf gebunden. Mit einem Bein steigt sie über die Reling. Sie spürt Buchs Hand unter dem Fuß. Er stützt sie ab. Das zweite Bein folgt. Maga hat für einen Augenblick den Gedanken, einfach loszulassen, sich gewiss, dass jemand ihren fallenden Körper auffangen wird. Vielleicht Buch. An diesem Bild bleibt sie hängen und blinzelt zur hellen, runden Scheibe über dem Schiff. Dann klettert sie hinunter, setzt sich aufs schmale Brett am Bug. Martin stößt das Boot mit einem Ruderblatt ab, dreht und beginnt mit kurzen, schwachen Schlägen. Ro sagt etwas, aber es ist nicht zu verstehen. Das Schiff setzt sich in Bewegung. Ein leises Summen zieht vorbei, das Wasser verbindet sich in einer schäumenden Krone hinterm Heck. Sie sind allein und Martin bringt sie vorsichtig an die Küste. Buch sieht einen langen Strand, schwarze Felsen, in Furchen zerschnitten. Stück für Stück schälen sich mehr Details aus dem fahlen Licht. Ansteigendes Hügelland, vom wenigen Wind bewegtes Gras, das Anrollen der flachen Wellen auf den Sand. Martin springt aus dem Boot, taucht bis zu den Oberschenkeln ein, zieht es mit kräftigen Schritten auf den Sand und noch ein Stück weiter. Es knirscht. Maga steigt aus und kniet auf den nassen Grund und nimmt eine Handvoll Sand. Buch springt heraus, in eine anrollende Welle. Es platscht. Magas Nähe lässt zusehends und fast unbemerkt die schwarzen Abgründe auf seiner Weide verschwinden. Aber weder mit mit Sand noch Erde. Mit etwas, das Buch noch nicht beschreiben kann.
»Willkommen in Irland, in Ballycroneen«, sagt Maga, steht auf und wirft den Sand weg. Schnurstracks marschiert sie auf den Einschnitt im Hügel zu, aus dem in einer gebogenen Linie Wasser fließt. Ein kleiner Bach, den man durch das Rauschen der schwachen Brandung nicht hört. Sie geht schnell. Den Weg muss sie kennen, vermutet Buch. Martin schnauft. Seine Schritte sind nicht leise.
»Ich bin kein Landmensch«, stellt er fest. »Mal sehen, ob ich einer werden kann.« Weder Maga noch Buch antworten etwas. Der Bach teilt die Wiesen. Sie gehen an seinem Lauf entlang. Auf der rechten Seite ist ein verfallenes Haus zu sehen. Glänzende Steine im Mondlicht, die bald hinter ihnen liegen. Martin atmet heftiger, schneller. »Wie weit müssen wir laufen?« Keine Antwort von Maga. »Können wir bitte langsamer gehen? Ich bin ein Rudergänger, kein Pferd.«
In der Tat folgt Maga Martins Bitte. Sie reduziert die Geschwindigkeit. »Um es einfacher zu machen für dich, statten wir Carlisle einen Besuch ab und nehmen dort ein Boot«, beruhigt sie ihn.
»Danke.«
»Bis Carlisle sind es etwa zwei Stunden Marsch bei diesem Tempo.« Martin sagt nichts, aber Buch hört ihn schwer ausatmen. Buch kennt das Wort ‚Carlisle‘ nicht. Es wird ein Ort sein.
»Ist Carlisle eine Stadt?«
»Nein«, sagt Maga in die Nacht hinein. Ihre Stimme ist leiser als üblich. »Es ist ein altes Fort, eine befestigte Anlage zur Verteidigung. So was wie eine Burg. Dort ist der Zugang vom Meer in die Bucht von Cork Harbour. Auf dem östlichen Felsen ist Fort Carlisle, auf dem westlichen Fort Meagher und nördlich davon liegt Fort Mitchel auf einer Insel. Alle drei schützen den Hafen.« Buch beschließt, abzuwarten, bis er sieht, was Maga meint. Er muss erst sortieren. Neue Töpfe öffnen. Die Namen der ‚Forts‘, drei Burgen, die eine Bucht bewachen. Während er Martins Schnaufen hinter sich hört, fällt ihm etwas ein.
»Du hast gesagt, ich erinnere dich an jemand. Und wenn Zeit ist, wirst du mir davon erzählen. Jetzt haben wir Zeit und ich höre dir zu.«
»Puh«, sagt Martin und hustet. Maga wird noch ein wenig langsamer. »Danke«, kommt es von hinten. Kurz dreht sie den Kopf. Buch sieht ihre Augen.
»Stimmt, ich habe dir versprochen, zu erzählen, an wen du mich erinnerst. Das ist wohl schnell gesagt, aber es fällt mir schwer.«
»Meine Hand auf deiner Schulter, Maga«, sagt Buch. Sie nickt und blickt nach vorne. Jetzt kann man den Bach hören. Die Geräusche der Dünung sind verschwunden. Die Wiesen verströmen einen herben Duft.
»Sehe ich dich, Buch, sehe ich meinen Bruder. Nicht mein leiblicher Bruder. Meine Familie hat ihn aufgenommen. Ein Waise. Wie du. Seine Eltern sind beide an einer Krankheit gestorben. Er war fünf Jahre alt. Ebenso wie ich. Egal. Für mich war er mein Bruder. Keine meiner Schwestern stand so dicht bei ihm wie ich. Unsere Tage waren gemeinsame Tage.«
Maga schweigt und Buch wartet. Martin hat sich beruhigt. Sie verlassen den Bachlauf, gehen den Hügel hinauf und folgen einem kleinen Pfad. Der Mond steht nur noch zwei Handbreit über dem Horizont.
»Wie war sein Name?«
»Sean.«
»Sean ist tot, nicht wahr?« Wieder ein Schweigen. Ein anderes Schweigen. Maga sucht nach Worten. Buch ist erstaunt, wie gut er sie schon kennt und ahnt, was in ihr vorgeht.
»Sean hat uns verlassen. Oder anders gesagt: Von einer Reise ist er nicht zurückgekehrt. Es hat ihn zum Orden gezogen. Zu einem Gott, der ab da seine Familie wurde.«
»Also bist du jetzt wütend auf ihn?«
»Ich bin wütend auf mich.« Martin räuspert sich, hustet erneut. Buch hört ihn einen Schluck Wasser trinken.
»Das verstehe ich nicht, Maga.«
»Da gibt es nicht viel zu verstehen. Als ich etwas über zwanzig war, begann der Orden sich auszubreiten. Mit Gewalt. Auch uns wollten sie bekehren. Sie schickten Sean und einige seiner Mitstreiter. Der Orden nahm an, ein Familienmitglied zu senden, wäre von Vorteil für ihre Sache. Sie töteten unsere Anführer. Wir töteten sie.« Buch denkt über Maga nach. Wie schnell sie ist, lautlos. Und dass ihre Stimme sich gerade wieder zu Eis verwandelt hat.
»Du hast Sean getötet.«
»Das hast du richtig erkannt, Buch.«
»Deswegen bist du wütend auf dich.«
»Seit mehr als sechzehn Jahren.«
»Ich verstehe.« Sie gehen auf Moos, das sich großflächig auf dem Hügel ausgebreitet hat. Weich wie das Fell eines Lamms und es schluckt alle Geräusche. »Aber warum erinnere ich dich an Sean?« Maga atmet tief ein und aus. Sie bleibt abrupt stehen und dreht sich um. Buch läuft gegen sie, geht zwei Schritte zurück.
»Weil du er bist. In allem. Bis auf deine Gefühlswelt. Aber deine Stimme, die Haare, das Gesicht, als wäre er wiederauferstanden …«
Martin stellt sich neben Buch und Maga. »Lass mich raten, du warst in ihn verliebt.«
»Und er in mich«, bestätigt Maga.
»Scheiße …«, rutscht es Martin heraus. Buch legt die Hand auf Magas Schulter.
»Meine Hand auf deiner Schulter, Maga«, sagt er und versucht im gelblichen Mondlicht etwas in ihrem Gesicht zu erkennen. Tränen, die schimmern.
»Könnte das da hinten ein Problem für uns werden?« Maga und Buch schauen zu Martin, folgen seinem ausgestreckten Arm. Er zeigt auf etwas, das bei langem Hinsehen heller wird, flackert wie eine Kerze. »Das ist Westnordwest, denke ich.«
»Cork«, sagt Maga. »Es brennt!« Sie sinkt auf die Knie.


»Herrje«, entfährt es Martin, als er Maga aufspringen sieht. Noch einen Atemzug zuvor auf den Knien, die Hände ins Moos gekrallt, schnellt sie hoch wie ein Brett unter Spannung, wirft alle Last von sich und rennt. Buch staunt. »Wir müssen ihr nach!«, ruft Martin und ist sich im selben Moment bewusst, dass er dafür der Falsche ist. »Du musst ihr nach!«, verbessert er sich.
»Wir bleiben zusammen«, sagt Buch, sammelt Magas Tasche und den Koffer auf, dann marschiert er los. Martin folgt ihm, so gut es geht. Der Mond hängt knapp über dem von hier oben gut sichtbaren Meer. Sein oberes Rund ist noch gelb, das untere hat die Farbe von rostigem Eisen. Wolkenschlieren und Dunst sammeln sich um sein Licht. Buch geht schneller. Martin keucht. Magas Umrisse sind verschwunden. Jeder Schritt lässt das Flackern anwachsen, den brennenden Horizont breiter werden. Nichts, was Buch je schon einmal gesehen hat. Und doch ahnt er, was es bedeutet. Noch einmal wird er schneller. Es wird leicht abschüssig, eine alte Straße kommt von rechts, voller Löcher, uneinsehbarer Risse. Geh immer auf dem Gras, riet Bestemur. Ein gebrochener Fuß kann den Tod bedeuten. Martin keucht inzwischen.
»Wir sollten in dieser Richtung wieder aufs Meer treffen. Maga sagte, Fort Carlisle bewacht die Einfahrt vom Meer zur Bucht. Hören wir auf das Rauschen der Wellen.«
»Ich höre nur mein Herz schlagen und die Lungen pfeifen«, erwidert Martin japsend. Buch ignoriert es. Er sieht das wachsende Loch in sich. Doch anders als bisher, kann er den Grund sehen. Weder ist er bodenlos, noch schwarz. Stattdessen spürt Buch sein Herz schlagen; nicht weil das Marschieren anstrengend ist. Er denkt an Maga. Hat ihre stets kurzen Haare vor Augen. Sein Bauch schmerzt, als lägen tausend Kiesel in ihm, um bei jedem Schritt hin und her zu rumpeln. Buchs Hand lässt ihn Magas Hüfte spüren, auf die er sie gelegt hat.
»Da! Rechts sind große Türme!«, ruft Martin. Der Hang wird steiler. Sie folgen einem Steinwall. Tatsächlich! Turm an Turm, die meisten kaputt, eingefallen. Buch weiß nicht, was das ist, aber wie das Foto einer Burg sieht es nicht aus. »Das Meer!« Buch dreht sich zu Martin und folgt seinem Blick. Eine Bucht auf der linken Seite. Martin stürzt und Buch versucht ihn aufzufangen, aber er ist viel zu schwer.
»Lass mich liegen, Buch! Geh du weiter. Ich komme nach.«
»Wir gehen zusammen oder gar nicht.« Er stützt Martins Arm so gut es geht. Als der wieder auf zwei Beinen steht und schwer atmet, sind die ersten hellen Streifen im Osten zu sehen. Der Tag beginnt.
»Ich kann die andere Burg sehen! Dort drüben. Gezackte Linien.«
Buch kneift die Augen zusammen. »Du hast recht. Um von beiden Seiten einen Eingang zu bewachen, muss Carlisle der anderen Burg direkt gegenüber liegen. Gehen wir etwas nach rechts.«
»Nordwest«, verbessert Martin. Buch zieht ihn ein Stück, dann lässt er los. Vor ihnen ist ein Weg der quert. Kaum noch erkennbar, eine Buschreihe entlang. Sie klettern über einen Steinwall und sehen vor sich eine ebenso gezackte Linie, Mauerreste. Die Wiese ist schnell überquert und Buch steht vor einem Abhang, gemauert aus Steinquadern. Löchrig, fast zerfallen. Er klettert hinab, hört Martins Rufen, doch in seinem Kopf ist nur noch Maga. Unten angekommen, steht er in einem breiten Graben, von Büschen und behauenen Steinen durchzogen. Ihm gegenüber eine zweite Mauer. Ebenso verfallen. Buch klettert hinauf, greift über den letzten Stein und zieht sich hoch. Eine kleine Straße, aus Steinen gelegt und ein Mann in seltsam verrenkter Form darauf. Unter sich Blut. Das war Maga, denkt Buch. Sie ist hier! Und wenn es einen Mann gibt, dann sicher noch mehrere. Buch duckt sich. Martin greift über die Kante, sieht Buch, den Toten und atmet tief ein. Dächer sind zu sehen, rechts eine kleine Ebene mit zwei Gebäuden, vor ihnen geht es nach unten.
»Da geht es den Berg runter. Nur dort kann das Meer sein, also ist das Magas Ziel. Komm …«
Martin nickt und zieht sich unter Ächzen über die Kante. Buch geht voran, den schmalen Weg zwischen Mauern und einem steilen Rain den Hang hinab. Links die Dächer von Gebäuden, unten eine quer verlaufende Straße. Zwei Tote mit rotem Umhang liegen mitten drauf. Martin bückt sich, tastet sie ab. »Gründlich ist sie ja, das muss man ihr lassen«, stellt er fest und folgt Buch. Langsam gehen sie entlang einiger gut erhaltener Häuser aus flachen Steinen bis zu einer Treppe. Sie führt nach unten auf einen steilen Weg. Buch beginnt schneller zu werden. Martin schweigt. Er versucht zu folgen. Auf halber Höhe wechselt der Weg die Richtung. Entgegengesetzt zieht er sich bis kurz vors Meer. An seinem Ende ein vierter Toter. Roter Umhang. Dann entdeckt Buch endlich Maga, die über ein kleines Boot gebeugt ist. Als sie die Schritte hört, springt sie mit einem Satz auf den Steg, das Messer gezogen.
»Maga … wir sind es!« Martin zieht Buch mit einem schnellen Griff zurück an seine Brust. Kurz vor ihnen stoppt Maga und sie sehen ihre blutige Weste. Hände und Finger verschmiert. Noch hat das wenige Licht dem Blut nicht seine rote Farbe gegeben. Es ist schwarz. Viel Schwarz hängt an Maga. In ihrem Gesicht, überall.
»Ich musste die Batterie wechseln. Hab erst keine gefunden«, sagt sie schnell. »Aber jetzt können wir los … habt ihr den Koffer?«
»Wir haben alles, Maga, aber …«
»Ich denke nicht, dass es klug ist, in diese brennende Stadt zu fahren«, unterbricht Martin. »Da oben liegen schon vier Ordensmänner. Wie viele wird es dann in Cork geben? Denk mal nach!«
Maga sieht sie mit großen Augen an. Augen, die Buch fremd sind. Ein Blick, den er nicht kennt. Als ob das Schwarz des Blutes durch sie in Magas Innere gekrochen ist. Er legt die Taschen ab, den Koffer, macht einen Schritt auf Maga zu und schließt sie fest in die Arme. Buch drückt, streicht über Magas Hinterkopf, durch die kurzen Haare.
»Geh nicht, Maga. Ich habe Angst um dich«, bringt er gerade noch raus, dann spürt Buch nicht das Loch in sich, sondern etwas anderes. Tränen sind es. Buch weint. Er weint um Maga. »Wenn ich dein Bruder bin und du meine Schwester, dann bleibst du bei mir.«
»Buch …« Magas Beine geben nach. Martin tut zwei Schritte und fängt sie auf. Als wöge sie nichts, legt er sich Magas Körper über die Schulter.
»Komm, Buch. Steig in das elektrische Boot. Wir gehen. Meine erste Heuer habe ich in diesen Gewässern verdient. Aus dieser Zeit kenne ich einen Händler in Baltimore. Wenn wir Glück haben, sind dort keine Ordensmänner und von da aus schaffen wir es bestimmt mit einem Boot oder Pferden nach Galway.«
»Wie weit ist das?«
»Etwa sechzig Seemeilen. Keine Ahnung, wie weit wir mit diesem Boot kommen, aber Hauptsache weg hier.« Buch nickt, nimmt Taschen und Koffer und steigt in das elektrische Boot. Martin folgt ihm, Maga über der Schulter.

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