Buch | Kapitel 1

Damals

Alles Ding hat einen Namen. Das waren Bestemurs Worte am Beginn eines neuen Tages. Komm zu mir, Namenlos, sagte sie und zeigte auf etwas. Folge meinem Finger. Dieses Ding, wie heißt es? Bestemurs allmorgendliches Ritual und Namenlos wusste, dass ohne eine richtige Antwort der Teller leer blieb; was ihn nicht kümmerte, denn er vergaß nie. Eines Tages wird aus ihm etwas Großes. Das sagte Bestemur zu Tal, der zu jedem vollen Mond heraufgestiegen kam, ein Schaf mitbrachte, dem sie gemeinsam das Fell abzogen, zerlegten und Bestemur aus einer der Haxen ein famoses Abendessen zauberte. An diesen Hellmondtagen stieg nicht nur Tal herauf, sondern Berg kletterte herab, weil er ebenfalls ein Stück vom Fleisch des Schafes ergattern wollte; und auch bekam, denn Bestemur wusste um Bergs ewigen Hunger. Berg hieß nicht umsonst Berg; und Tal nicht umsonst Tal. Menschen müssen heißen, wie das was sie tun oder wo sie wohnen. Und außerdem waren sie Bestemur ans Herz gewachsen. Ihre Familie. Zusammen mit dem kleinen Namenlos.

Namenlos musste nie vor einem leeren Teller sitzen. Alles blieb in seinem Kopf, Worte und Bilder. Wie mit dem Messer ins Holz geritzt. Bestemur erklärte, es sei besser, Menschen nach Dingen zu benennen, die schon einen Namen besaßen, denn Dinge und Namen sind ewig wie Sonne und Mond; Menschen nicht, also werden die Namen wieder frei, nachdem das Leben die Leiber verlassen hat. Namenlos verstand, dass wenn Tal stürbe, es bald einen neuen Tal gäbe. »Große Dinge sind unveränderlich«, sagte Bestemur. »Etwa die Sonne oder der Mond. Menschendinge aber gehen kaputt. Deswegen brauchen wir Menschen keine eigenen Namen. Nur Ewiges verdient das.«
Bestemur setzte sich früh in den Kopf, aus Namenlos ein Buch zu formen. Sie hatte die Tage seit dem Auffinden des Kleinen gezählt. Als es genug waren, zog sie ihn am Kragen zu sich. »Du wirst ein Buch auf zwei Beinen«, sagte sie, langsam nickend, um ihren Worten Kraft zu geben. »Als ich dich entdeckt habe zwischen den toten Menschen, vielleicht Mutter und Vater, überkam mich das Mitleid. Deswegen lebst du«, erklärte sie ihm und hob Namenlos auf den Schoß. Mutter und Vater, überlegte Namenlos, was könnte das sein?

Morgen und Abende vergingen, da zeichnete Bestemur eines Tages mit dem Messer lange Linien und Striche in den Grund vor dem Haus. Dann formte sie Namen wie Tag, Woche, Monat, Jahr. Ein Finger, ein Tag. Sieben Finger, eine Woche. Jetzt wusste Namenlos, warum Bestemur ihn Zahlen und zählen gelehrt hatte.
»Jetzt bekommen die Zahlen einen Sinn«, sagte sie feierlich. Einen Sinn. Bald zehn, zwei mal zehn, dreißig zu einem Monat und eines Abends wusste Namenlos alles über das Jahr und wie es das Leben der Menschen beherrschte. Er erinnerte sich deutlich und himmelsklar an den Morgen, als Bestemur an sein Bett trat und das Wort Zeit aussprach. Wie ein Donnergrollen hinter den Bergen. »Zeit ist unser aller Beherrscher«, erklärte sie, »und sehen kannst du sie nur, wenn du beobachtest und erkennst.« Seine Zeit bestünde nun aus 1.825 Tagen, vielleicht ein paar mehr oder weniger. Jetzt sei es an der Zeit, das Wort Namenlos abzulegen und dem kleinen Ding auf zwei Beinen einen wahrhaftigen Namen zu geben, der genau erklärt, was Namenlos kann. Aus ihm wurde nach 1.825 Tagen Buch.
»Fortan wirst du Buch heißen!«, so Bestemur und legte ein Stück Hammelbein auf den Tisch, vom Feuer gebräunt. »Alles Gute, Buch!«
»Warum Buch? Ist Namenlos nicht gut?«
Bestemur nickte schwach. Dafür stand ein kräftiges Lächeln auf ihren Lippen. Sie riss ein Stück vom Bein ab, faseriges, glänzendes Fleisch, stopfte es in den Mund und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Als ich dich entdeckte, wusste ich, du bist etwas Besonderes, und ich hatte recht. Alles kannst du dir merken. Jedes Ding, jeden Namen. Niemand ist wie du.«
»Und das ist Buch? Niemand wie ich?«
Bestemur steckte einen Finger ins Ohr, kratzte einen Brocken gelben Schmutz hervor, musterte was auf der Fingerkuppe klebte und schnippte es an die Wand, wo es, wie viele andere Brocken, trocknen würde. »Ein Buch ist ein Ding. Ich werde dir ein solches Ding zeigen.«
Einer flachen Holzkiste unter ihrem Bett entnahm sie einen Block Papier, abgerissene Ecken an vielen Blättern und obenauf fehlte die Hälfte; dafür war es viel dicker und stabiler als der Rest. Und ein Bild war darauf zu sehen. Bestemur setzte den Finger aufs Bild. »Was ist das?«
»Ein Mann.«
»Und was siehst du noch?«
»Eine Frau und ein Kind wie ich.«
»Sehr gut.«
»Sie haben keine Namen«, stellte Buch fest.
»Doch. Aber die Namen stehen in diesem …«, Bestemur hob den Papierblock hoch, »in diesem Buch.«
»Das ist also ein Buch?«
»Ganz genau.«
»Und ich bin auch ein Buch?«
»Du wirst zu einem Buch werden.« Bestemur sah die Schnute des Kleinen, seinen zweifelnden Gesichtsausdruck und das Lachen brach aus ihr heraus. »Ich muss sagen, mein Kleiner, das Leben macht sehr viel Spaß mit dir. Du bringst mich zum Lachen.«
»Aber ich will kein Buch werden«, hörte sie und in der dünnen Stimme schwang etwas Widerspenstiges. Wie der alte Schafbock von Tag, wenn er auf die Weide sollte.
»Du musst keine Angst haben. Du bist ein Mensch und wirst einer bleiben. Und trotzdem kannst du ein Buch sein.«
»Wie?«
Bestemur entkam eine Träne als sie tief in die fast schwarzen Augen des Kleinen blickte, groß und rund wie der volle Mond.
»Indem du alles liest und in deinem kleinen Kopf behältst, was in so einem Buch steht. Du musst lesen lernen.«
»Lesen?«
»Du kennst die Zahlen, nicht wahr?«
»Stimmt«, nickte Buch stolz. »Die Eins, die Zwei …«
»Nun lernst du die Buchstaben. Sie sind wie Zahlen. Aus ihnen werden Worte gebaut und aus Worten alle Sätze der Menschen. Aus ihnen sind die Namen aller Dinge.«
Buch schwieg. Er starrte auf den Block Papier, Mann, Frau und Kind. Eine Idee stieß gegen eine Wand in seinem Kopf. Er wollte sie denken. Wieso entschwand sie immerzu? Bestemur legte den Block auf den Tisch, schlug das Bild um, zwei weitere Papiere, dann sah Buch etwas auf dem Schmutz.
»Da steht, wer das Buch geschrieben hat. Ein Mann namens John Steinbeck. Und das Buch heißt Die Perle. Der Mann erzählt die Geschichte einer kleinen Familie. Papa, Mama und Kind …«
»Was ist eine Familie?«
»Ich bin deine Familie, Buch. Und Berg und Tal sind natürlich auch deine Familie. Du wohnst in meinem Herzen und ich hoffentlich auch in deinem.« Der Gedanke, den Buch nicht fassen konnte, verschwand. Was ist ein Herz? Ich wohne in Bestemurs Herz? Und sie in meinem?
»Darf ich raus? Ich muss mal.«
»Geh nur. Wir machen morgen weiter.«
Buch rutschte von Bestemurs Schoß, sprang zur Tür und als er sie öffnete, war der Gedanke wieder da. Wie ein Blitz am dunklen Himmel. Er drehte sich um. »Dann ist in einem Buch alles drin, was ich draußen sehen kann?«
Bestemur zog die Augenbrauen hoch. »In einem Buch ist eine ganze Welt. In jedem Buch. So viele Welten gibt es, wie es Bücher gibt.« In Buchs Unterleib zwickte es, er wollte was sagen, rannte aber lieber hinaus.


Buch lernte. So schnell und gründlich wie der Herbstwind die Spreu vom Korn trennte. Wirf es in den Wind, schon fällt das Gute nach unten, alles Unnötige wird fortgetragen. Genau so fallen die Buchstaben in Buchs Kopf, bauen Worte und Sätze. Das Papier heißt Seite. Es ist Papier, aber in einem Buch heißt es Seite.
»Also haben Dinge zwei Namen?«
»Manchmal noch mehr«, sagte Bestemur.
»Warum?«
»Es kommt darauf an, was du damit tun möchtest, oder aus was es besteht. Der Zweck formt den Namen.«
»Der Zweck?«
Bestemur nickte lange und suchte nach Worten. »Denk an die warme Sonne. Wenn dir kalt ist, dann stellst du dich hinaus und sie wärmt dich, nicht wahr?« Buch denkt an die warme Sonne. Ohne uns Menschen gibt die Sonne Licht. Mit uns Menschen hat das Licht einen Zweck für uns. Es ist warm und das Licht lässt alles wachsen.«
Buch kniff ein Auge zu. Da war wieder ein Gedanke. Er bekam ihn zu fassen. »Aber dann hat die Sonne erst einen Zweck, wenn wir Menschen da sind.«
Bestemur lächelte, legte die Hand auf seine schwarzen Haare. »Lies! Wir haben noch viel vor.«
Buch blätterte eine Seite weiter, blinzelte in einem fort, starrte auf alle Worte und tat das mit allen Seiten. Die großen, schwarzen Augen zitterten, von links nach rechts und zurück, dann von unten nach oben und umgekehrt. Buch murmelte. Bestemur schrieb auf Seite 43 an den Rand der Zeile vier Zahlen und ließ Buch diese Seite lange betrachten. Am Abend fragte sie ihn: »Seite 43, Zeile sechs, sieben, acht und neun?«
Buchs Gesichtszüge erstarrten. Sein Blick fraß sich durch Bestemur, hinter ihr in die Wand hinein, vielleicht hinaus in den kühlen Abend, an einen entfernten Ort, an den nur Buch gelangte.
»Aber Keno sah sie nur starr an. Sein Entschluss war gefasst. »Wir haben keine andere Wahl«, sagte er. »Unser Sohn muss in die Schule gehen. Er muss die Mauer durchbrechen, die uns einschließt.«
Bestemur war zufrieden. »Das war sehr gut. Ich bin stolz auf dich! Du wirst ein gutes Buch werden. Ein Buch der Geschichten.« Buch erhob sich, kam um den Tisch herum und kletterte auf Bestemurs Schoß, legte den Kopf unter ihr Kinn.
»Warum muss ich denn überhaupt die Geschichten erzählen? Ich kann auch auf dem Joch wohnen wie Berg oder die Schafe hüten wie Tal oder wie du das Brot backen.« Bestemur trank einen großen Schluck Wasser aus dem Krug, bot Buch an ebenfalls zu trinken, aber der schüttelte den Kopf.
»Wenn ich dir eine Geschichte erzähle, vergisst du den Tag. Stimmt es, Buch?« Er nickte und lauschte dem Klopfen in Bestemurs Brust. »Und wenn ich dir keine Geschichte erzähle, weil ich müde bin, dann fehlt dir etwas. Eine kleine Faust in dir packt zu. Du bist traurig.«
»Traurig?«
Bestemur dachte an das Pferd. »Weißt du noch, vor einem Jahr, als Pferd starb. Alt und krank, so lag es vor uns. Ich konnte ihm nicht helfen.«
»Das weiß ich noch.«
»Natürlich weißt du das noch. Und du weißt auch, was ich getan habe.«
»Die Haut abgezogen und Leder gemacht. Für unsere Schuhe.« Bestemur hielt Buch von sich weg und schaute ihn an.
»Geweint habe ich. Tränen. Ich habe lange geweint. Pferd war uns immer eine große Hilfe bei allem. Ein Freund.«
Buch nickte. Bestemur hatte geweint. »Und das ist traurig, wenn man weint?«
»Traurig sein kann man auf viele Arten. Weinen ist eine Art.«
»Ich habe noch nie geweint«, sagte Buch. »Also war ich noch nie traurig.«
Zum ersten Mal kam Bestemur der Gedanke, dass Buch nicht nur im Lernen etwas Besonderes war. Etwas, über das sie unbedingt nachdenken musste. Und sich erinnern. Mit der flachen Hand schlug sie auf den Tisch. »So! Jetzt wird es Zeit fürs Bett. Morgen wollen wir unsere Kürbisse einlegen.«


Berg und Tal saßen am Tisch, tunkten Brotstücke in Soße, rissen Fleisch in langen Fasern vom Knochen, verkneteten es mit dem feuchten Brot und stopften sich alles genüsslich in den Mund. Schmatzten, als wäre es die letzte Mahlzeit. Bestemur trank einen Schluck Schnaps, hustete und starrte erst Berg, dann Tal für einen Moment an.
»Ich muss mit euch über Buch reden.« Sie nickten und aßen ungehemmt weiter. »Ihr kennt ihn ebenso lange wie ich. Du, Berg, hast viele Tage um deinen alten Hund geweint, als er in den Abgrund rutschte. Und du, Tal, weinst um jedes Schaf, das von der Blauzunge geholt wird. Hunde, Schafe, sie sind unsere Freunde. Bis in den Tod. Wie Pferd. Ich trage sein Leder an den Füßen.« Berg und Tal nickten. Nichts, was ihnen nicht bekannt wäre. Fleisch, Brot und Soße schmeckten, wie sie es von Bestemur gewohnt waren. »Niemand von uns hat je Buch weinen sehen. Nicht wahr? Oder lachen hören.«
Berg und Tal hörten auf zu tunken, zu schmatzen. Sie sahen sich an, dann zu Bestemur. In ihren Gesichtern zuckten Muskeln, war Stirnrunzeln. Sie dachten nach.
»Du hast recht«, stellte Tal fest. »Wenn er lacht, sieht es aus, als würdest du lachen. Sogar den Ton trifft er ganz gut.«
»Und ist das schlimm?«, wollte Berg wissen. »Er ist ein Kind. Weiß nicht, wie das ist als Kind. Ich habe es vergessen. Und wir beide haben keine Kinder. Woher sollen wir wissen, ob alles richtig ist?«
Bestemur nahm den Messerknauf, hob den schweren Stahl an und stellte ihn mit der Spitze auf die Tischplatte. Mit dem Daumen drehte sie es rundherum. Immerzu. »Was ist das für eine Frage, du Jochbewohner? Wir sind alle Menschen. Menschen lachen, weinen, sind traurig, wütend, wollen nicht aufstehen, wenn alles düster ist und Hund oder Schaf oder Pferd sterben. Das ist normal.«
Berg zog eine Schnute, dann steckte er ein Stück Fleisch in den Mund, kaute langsam und nickte dabei. Tal kratze Dreck aus dem rechten Ohr, schmierte es an der Hose ab. »Du willst sagen, mit Buch stimmt was nicht?« Bestemur sah ihn an. Tal wusste viel. Aber nichts über Kinder.
»Das will ich sagen. Das Ding heißt Gefühl. Ein unsichtbares Ding. Aber es existiert, denn wir weinen und lachen. Buch nicht. Also kann das nur bedeuten, da ist kein Gefühl.«
»Steht das in den Büchern unter deinem Bett?« Bestemur sah Berg an und wiederholte die Frage im Stillen.
»Das stimmt. Dort gibt es viel Weinen und Lachen und …« Sie stockt.
»Was und?«, wollte Tal wissen.
»… und Schmerz. Wenn du dein Bein an den Fels schlägst, kommen Tränen vor Schmerz. Wenn dein Zahn schwarz wird, fließen Tränen wie Regen vom Himmel. Ist das so?«
»Natürlich ist das so«, bestätigte Tal und Berg nickte kauend dazu.
»Buch hat Schmerz, sagt Aua, aber er weint nicht. Egal wie tief die Wunde ist. Er weint nicht, wenn ich Moos auf das offene Fleisch lege. Er sagt Aua, weil ich Aua sage, wenn so etwas passiert. Buch macht das, was ich tue, aber nicht das, was die Stimme in seinem Körper sagt.«
»Er wird es noch lernen. Kinder müssen doch alles lernen. Auch was du da mit diesem Gefühl sagst«, erklärte Berg und schlug sich auf die Brust, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen und Bestemur zu beruhigen. Er wollte noch vom Fleisch essen. Aber Bestemurs Gesicht war voller Sorge, ihre Stirn zeigte Falten wie das Hügelland unterhalb des Jochs. Also trank er Schnaps und schaute über den Krugrand zu Tal, der in der Nase bohrte. Schritte vor der Tür, ein Kratzen, Buch kam herein, den linken Arm emporgestreckt, in der Faust einen Faden an dessen Ende ein großer Fisch hing. »Schaut her«, sagte er. »Den habe ich vorhin gefangen und will ihn heute Abend essen.«
Bestemur, Tal und Berg sahen sich an. Jetzt wissen sie, was ich meine, dachte Bestemur. Die Stimme des Kleinen klang so flach wie die Tischplatte vor ihnen. »Ich bin stolz auf dich, Buch. Hilf mir, ihn auszunehmen.« Buch lächelte und Bestemur wusste, dass es ihr eigenes Lächeln ist.


»Ein Tag länger als ein Leben«, sagte Bestemur unvermittelt. »Seite 167, Zeile zwanzig bis sechsundzwanzig.« Sie standen am Brunnen und wuschen die Kohlblätter, das Hammelfleisch, ihre Wäsche. Buch hielt inne mit dem Auswringen der Laken. Mit den Augen im fernen Tal erinnerte er sich. Das Bild im Kopf, die Seite, unten eine Nummer, eins-sechs-sieben, da war sie. Zählte die Zeilen von oben, schon fand er die Worte.
»Da ging der Wolkenbruch nieder. Mit Macht. Die Erde zuckte zusammen, bedeckte sich im Nu mit Blasen und Pfützen. Der Regen fiel und fiel – ein wütender, wilder Regen, aus Vorräten an Kühle und Feuchte hervorbrechend, die er, falls das stimmt, auf den Schneerücken des Himalaja gesammelt hatte. Ach, dieser Himalaja! Welche Kraft. Edige rannte nach Hause. Wusste selbst nicht, warum. Einfach so.«
Bestemurs nasse Hand legte sich auf Buchs Rücken, klopfte ein paar Mal sanft.
»Was ist ein Himalaja?«, fragte er.
»Dachte mir, dass du fragst. Vor vielen Jahren war ich in einer großen Stadt. Dort gab es ein Haus mit Büchern. In einem davon nur Bilder mit wenigen Worten. Fotos, wie ein Mann sagte. Auf einem Foto sah ich große Berge. Sehr große Berge. Wirklich …« Bestemurs Augen wanderten hin und her, als würde sie mit ihrem Blick dieses Foto erneut betrachten. »Wirklich große Berge. Und auf den Gipfeln ganz weiß. Das ist der Himalaja, sagte der Mann. Bestimmt muss man mehr als ein Jahr wandern, bevor man ihn erreicht.«
Ein Jahr wandern, dachte Buch. »Bis zum Tal brauche ich einen halben Tag und noch einen weiteren halben Tag, dann bin ich sicher in der Stadt. Ein Jahr wandern ist dann … sehr weit.«
»Sehr weit«, bestätigte Bestemur. »Du brauchst also Zeit. Aber auf einer Reise dort hin kann man Geschichten erzählen, denn die Menschen brauchen Geschichten. Ohne Worte ist es wie ohne Getreide, ohne Fisch und Fleisch. Ohne Wasser. Wir sterben.«
»Ohne Worte sterben wir?«
»Ohne Essen und Wasser stirbt unser Leib. Ohne Worte unser Kopf. Wir verkümmern. Wie das Getreide unter der brütenden Sonne.«
Buch schaute auf den Fisch, das rote Hammelfleisch, die Wäsche. Der Wind drehte die Eisenbleche über ihnen, das quietschende Metallgestänge verschwand im Boden. Daneben gluckerte Brunnenwasser. Ein Gedanke kroch heran. Buch schnappte nach ihm. Klar wie die Morgenluft stand er vor seinem inneren Auge. Bestemur war anders als er. Nein. Er war anders als Bestemur, Berg und Tal. Anders als die wenigen Menschen, die es bis hier hoch schafften. Und er, Buch, würde nie so sein. »Du möchtest, dass ich zum Himalaja gehe und den Menschen jene Geschichten erzähle, die du mich lesen lässt. Damit sie nicht verkümmern wie das Getreide unter der Sonne. Warum?«
»Nicht nur die Geschichten aus den Büchern in der Holzkiste unterm Bett. Es gibt noch viele Bücher dort unten.« Bestemur beschrieb einen Halbkreis mit dem Arm, die Finger blieben Richtung Talausgang gestreckt. »Dort unten und darüber hinaus.«
»Aber warum soll ich gehen?«
»Stell dir eine Welt ohne uns vor. Eine große Stille. Für Berg, Tal, mich oder alle in der Stadt, ist das Gestern vergessen, das Morgen egal. Niemand weiß mehr, was vor uns war. Wir sehen, dass Großes gewesen sein muss; aber was? Die Geschichten werden den Menschen zeigen, wer sie waren. Was sie verloren haben. Und vielleicht erinnern sie sich wieder.«
Buch dachte über Bestemurs Worte nach. Über die toten Menschen, zwischen denen er gefunden wurde. Er, ein Kind von Eltern, deren Namen für alle Zeiten unbekannt sind. Aber ist es denn so schlecht in Bestemurs Hütte? Es gibt Brot, Wasser, Fisch und Schaf. Es gibt Wurzeln und immer etwas zu tun. Immer etwas zu reden, immer ein Dach über Bestemur und Buchs Köpfen. Was macht es für einen Sinn, sich an etwas zu erinnern, das es nicht mehr gibt? »Ich verstehe den Sinn nicht, Bestemur.«
Sie seufzte ausgiebig. »Ja, ich glaube, das hat damit zu tun, dass du nicht weinst, mein Lachen nachmachst, fragst und redest in immer gleichem Ton; denke ich jedenfalls. Und dass du dir einfach alles merken kannst, egal was es ist.«
Buch machte große Augen. »Bin ich krank, Bestemur? Ist das eine Krankheit?«
»Das weiß ich nicht, mein Junge. Es ist jedenfalls was ganz Besonderes. Und gleichzeitig der Sinn, nach dem du fragst. Denn die Menschen fühlen sehr wohl, dass vor ihnen etwas sehr Großes existierte. Und es ist auch noch an vielen Orten zu sehen. Warte ab, bis wir in die Stadt gehen. Berg, Tal, du und ich, wir leben von Tag zu Tag. Werden wir krank, schlimm krank, ist das Sterben ganz nah bei uns. Aber es gibt ein Buch in der Stadt, in dem steht, was unsere Altvorderen gegen Krankheiten taten. Sie wussten viel. Wir nicht mehr. Was gibt es für einen besseren Sinn, als diese Geschichten zu verbreiten, so dass wir uns auf die Suche machen können, nach dem, was verloren ging.«
Buch zeigte mit dem Finger auf das Wasser vor sich, schloss die Augen und tippte im Kopf auf jedes von Bestemurs Worten. Auf jedes einzelne. Ein Sinn formte sich. Aus was? Bestemur kann lesen, schreiben und zählen. Buch kann jetzt auch lesen, schreiben, zählen. Berg und Tal können das nicht. Und wer kann noch lesen? Wenige? Ohne lesen zu können, bleiben die Geschichten in den Büchern. Bis alle tot sind. Das darf nicht sein.
»Du hast recht«, sagte Buch, öffnete die Augen und streckte sich, langes Gähnen folgte. »Ich sehe einen Sinn«, erklärte er dann. Bestemur lächelte, stand auf, nahm die Wäsche und ging zur Schnur. Buch trank einen großen Schluck Wasser.


»Bestemur?«
»Hm?« Sie legte ein Stück Leder auf ein Loch in Buchs Hose, setzte die Ahle an, stach hinein und führte den dünnen, ledernen Riemen hindurch. Das andere Ende des Riemens spleißte sie auf und verknotete die beiden Teile. Dann hob sie den Kopf. Buch hatte geduldig gewartet. »Was gibt’s denn, mein Junge?«
»Menschen sterben, wenn sie alt werden. In den Büchern können Menschen siebzig oder achtzig Jahre alt werden. Viele, sehr viele Tage sind das. Wie alt bist du?« Bestemur drehte den Kopf ganz leicht zum Fenster, dann zum Feuer in der Esse. Es knisterte, ein kaum hörbarer Knall, ein Prasseln. Ihr Blick verlor sich in den Flammen. »Bestemur?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie nach einem Moment. »Wirklich nicht. Hab noch nie drüber nachgedacht.«
»In den Büchern haben die alten Menschen graue Haare. So wie Tal. Also ist Tal alt«, stellte Buch fest.
»Ja, ich glaube schon, dass Tal alt ist. Er geht auf jeden Fall gebückt und schafft es kaum noch auf die oberen Weiden.« Buch kam um den Tisch herum, stellte sich neben Bestemur und musterte ihre Schläfe. Sie hielt still und ließ ihn schauen. »Und? Was siehst du?«
»Ein paar graue Haare.«
»Dann werde ich wohl alt.«
»Wirst du bald sterben?«
»Niemand weiß, wann er stirbt.«
»Das steht nicht in den Büchern, nicht wahr?«
Bestemur nickte. »Du hast recht. Aber wenn in den Büchern Menschen sterben, sind es nur Geschichten. Ich glaube, Menschen haben sie erfunden, um etwas zu erzählen, was passieren kann oder passiert ist. Auch Geschichtenschreiber können nicht wissen, wann wir sterben. Also haben sie überlegt, wann der Mann oder die Frau in ihrer Geschichte stirbt.«
»Dann ist eine Geschichte eine Lüge?«
»Nein. Keine Lüge, nur eine Idee. Wenn ich in die Stadt gehe und die Geschichte von Berg und Tal erzähle, dann kann ich sie von einem Menschen erzählen lassen, den es gar nicht gibt. So ist das Erzählen einfacher. Verstehst du?«
Buch überlegte. Er spürte den Gedanken aus dem Dunkeln auftauchen, ins Licht seiner Welt. Die Gedanken kamen immer schneller, von Buch zu Buch. »Ich habe das verstanden. Wenn Tal ein Schaf bringt, bindet er es auf Pferd. Schaf ist die Geschichte und Pferd trägt sie zu uns.«
Bestemur streckte den Zeigefinger nach oben. »Ja, ich glaube, so kann man das erklären. Menschen, die Bücher geschrieben haben, mussten sicher viel denken und hatten viele Einfälle. Schließlich wollten sie ja, dass wir ihnen zuhören und nicht vor Langeweile sterben.«
»Es waren bestimmt schlaue Menschen.«
Bestemur kraulte Buchs schwarze Mähne. »Wenn wir mal in der Stadt sind, wirst du sehen, was die Menschen früher alles hatten, gebaut haben, wie groß alles aussieht, obwohl das Meiste kaputt ist. Sie hatten bestimmt eine Menge im Kopf. Mehr als wir.«
»Aber sie sind alle tot«, sagte Buch leise. »Und ihre Bücher werden bald verschwunden sein, das Papier ist alt und schwach.« Bestemur legte das Flickzeug auf den Tisch und setzte sich Buch auf den Schoß. Er lehnte sich an. Der Torfbrocken war fast heruntergebrannt. Es wurde Zeit, schlafen zu gehen.
»Hast du Angst, dass ich sterben könnte?«
»Ich habe keine Angst. Nur weiß ich nicht, was ich dann tun soll, wenn es so weit ist.«
Keine Angst zu haben, keine Trauer, das war Bestemur unheimlich. Buch würde nicht um sie weinen. Um niemanden. Das stand niemals klarer vor ihrem inneren Auge als in diesem Moment. Sie spürte die Tränen kommen. Buch fing sie mit dem Handrücken auf und leckte daran. Er verzog das Gesicht und Bestemur musste schmunzeln. Durch Buch wurde ihr bewusst, wie wenig von dem geblieben war, was in den Büchern geschrieben stand. Und warum. Das Vergessen erinnerte sie an Fisch. So wie er das Netz übers Wasser wirft, so hatte die Zeit eine dunkle Decke über das Gestern gelegt.