Eine kurze lange Reise | Kapitel 1

Zuhause

Es beginnt in einem Reisebüro. Kaum zu glauben, aber mein erstes Mal in einem Reisebüro nach nunmehr vierzig Lebensjahren. Vier Beratungsplätze, alle ohne Kundschaft. Ich blicke nacheinander in die Augen der vier Damen, die mich lächelnd anstarren, mit dem Kugelschreiber klicken, die Maus zurechtrücken. Keine Ahnung, warum ich ausgerechnet sie auswähle. Maria steht auf dem Namensschild. Sie erhebt sich, reicht mir die Hand, was ich verwundert registriere. Macht man das so in einem Reisebüro? Maria ächzt und nimmt wieder Platz. Dehnbundhose, Knöpfe statt Reißverschluss und ein enormer Bauch, der eine perfekte Kugel unter der lilafarbenen Bluse formt, so weist ihre Hand auf den Stuhl neben mir. Sie auf die fortgeschrittene Schwangerschaft ansprechen, beglückwünschen, ist sicher nicht passend in so einer Umgebung.
»Bitte, nehmen Sie Platz. Möchten Sie einen Kaffee?«
»Nein, vielen Dank.«
»Gut, also dann …« Sie klickt ein paar Mal auf der Maus, vertieft sich in etwas auf dem Monitor, tritt für einen Augenblick hinüber in eine andere Welt, eine innere Welt wohl, stülpt bedächtig Unter- über Oberlippe, schiebt die Zunge hinterher. Von links nach rechts. Langsam. Was für Zungen ich auch immer bisher gesehen habe, diese ist faszinierender. Welches Rosa für sich in Anspruch nimmt, die Königin unter seinesgleichen zu sein, Marias tiefes Zungenrosa ist eindeutig der Maßstab für alle anderen. Ich konzentriere mich auf den Wandkalender hinter ihr und Marias Bewusstsein taucht wieder auf, erreicht das Hier und Jetzt. Die Zunge verschwindet. Vielleicht mache ich einen verwirrten Eindruck.
»Alles in Ordnung?«
»Ja«, presse ich mühsam hervor, »alles in Ordnung.«
»Wo soll es denn hin gehen?«
Wo will ich hin? Weswegen bin ich hier? Warum ist mir das jetzt entfallen? Wegen Maria, nehme ich an. Ich habe keine Ahnung. »Kuala Lumpur«, rutscht mir raus.
»Kuala Lumpur! Malaysia ist ein wunderschönes Land.«
»Malaysia?«
Maria zieht eine Augenbraue hoch. Ihr Gesicht ist schmal, brünette Haare über einer Schulter, die andere frei und kantig. Augen groß wie Victoriablätter und eine fast schon obszön große Nase dazwischen, aber absolut passend. Ihr Aussehen ist mit sich im Reinen. Was habe ich gesagt? Kuala Lumpur? Geplant waren vier Wochen nach Castellane, Südfrankreich, um meinen Roman fertigzustellen. Warum habe ich das gesagt?
»Kuala Lumpur, die Hauptstadt von Malaysia. Sie werden begeistert sein.«
Mir schwant Übles. »Wie warm ist es denn da gerade?« Maria leckt über beide Lippen. Ganz klar eine Konzentrationsübung, etwas wie Nasenflügel oder angestrengt einen Finger reiben. Schließlich durchforstet sie gerade das Netz nach den Temperaturen in Kuala Lumpur.
»Ach«, seufzt sie, »tolle 35 Grad.«
»35 Grad?!«
»Wie lange möchten Sie denn bleiben?«
»Vier Wochen?«
»Und ab wann beginnt Ihr Urlaub?«
»So schnell es geht.«
»Gut«, meint sie und beginnt zu tippen. Vorsichtig mustere ich ihre schlanken Finger, sauber geschnittenen Nägel, kein Lack. Lange, sehnige Unterarme und wieder die Zunge, die in Zeitlupe komplexe Figuren formt. Höhere Mathematik. Ich weiß nicht, was ich hier tue. Warum passiert mir das? Ganz unmöglich, dass ich das bin. »Hier, ein tolles Hotel. Vier Wochen all inclusive, fünf Sterne. Mit Flug lediglich 8.500 Euro. Fast geschenkt.«
»Klingt gut.« Ich bin verrückt. Maria lächelt. Ein ehrliches Lächeln? Lächelt sie auf diese Art ihre Liebsten an? Oder ist es das Provisionslächeln?
»Haben Sie einen gültigen Reisepass?«
Ich starre auf ihre Nase und versuche ein Bild meines Reisepasses in den Kopf zu bekommen. Dann fällt mir ein, dass ich erst letztes Jahr einen neuen habe ausstellen lassen; für eine USA-Reise. »Reisepass habe ich. Vor einem Jahr ausgestellt.«
»Sehr gut. Mehr brauchen wir nicht. Als Deutscher benötigen Sie kein Visum. Soll ich buchen? Oder möchten Sie noch eine Alternative?«
»Buchen«, höre ich mich sagen und ziehe die Mastercard Platinum. Ich werde einen guten Roman schreiben müssen, um das wieder reinzuholen. In dieser Sekunde fällt mir ein, dass ich Maria vorschlagen könnte, mit nach Kuala Lumpur zu fliegen. Wir beide am Strand, der Sonnenuntergang, das Blau des Wassers wird dunkel, bald schwarz und die Cocktail-Bar sendet einen Ruf zur Nacht. Sie nimmt die Karte, tippt dies und das. Auf ihrem Babybauch könnte man einen Kaffeebecher abstellen. Wie lange darf man eigentlich arbeiten in der Schwangerschaft?
»So! Es gibt nur noch eines zu beachten, nämlich die erforderlichen Impfungen. Deutsche Standard-Impfungen sind zwar völlig ausreichend, daneben gibt es aber Empfehlungen für Hepatitis A, B und Dengue-Fieber. Das bekommen Sie in der Regel innerhalb einer Woche.« Hepatitis A, B und Dengue … ich erinnere mich an den Aufenthalt in Angola vor zwei Jahren.
»Dagegen wurde ich vor zwei Jahren geimpft.«
Marias Augen leuchten auf. Ihr Lächeln wird breiter. »Super! Ich mache alles fertig, Herr Konstantin«, sagt sie, notiert, tippt. »Gehen Sie doch gegenüber einen Kaffee trinken«, schlägt sie vor. »Ich bin oft in diesem Café. Es ist erstklassig. In einer halben Stunde ist alles erledigt.«
»Klar. Kein Problem. Bis gleich.«
Das Lächeln verschwindet gar nicht mehr.


Der Kaffee ist in der Tat sehr wohlschmeckend. Auf dem Handy tippe ich die Nummer von Friedrich, meinem Verleger. Er nimmt sofort ab. »Roman fertig?«
»Auch einen guten Tag.«
»Du sollst mich nur anrufen, wenn der neue Krimi fertig ist. Buchmesse ist das Zauberwort.«
»Ich fliege nach Kuala Lumpur.« Jemand stößt gegen meinen Tisch. Etwas Kaffee schwappt aus der Tasse. Keine Entschuldigung. Nur ein kurzer Blick. Eine Frau. Ich sehe sie nur noch von hinten, schon hat sie das Café verlassen. Ich lausche, aber Friedrich schweigt. Aufgelegt hat er nicht. »Hallo? Hast du gehört? Ich fliege nach Kuala Lumpur.«
»Ich dachte grad, du hättest Kuala Lumpur gesagt.«
»Hab ich auch.«
»Moment …« Es raschelt, dann poltert etwas zwei Mal. »Das ist ja Malaysia!«
»Sogar die Hauptstadt von Malaysia.«
»Also …« Stille nach dem Also. Friedrich wird sich anlehnen, die Schuhe auf den Schreibtisch legen, seine Zigarre suchen. Es klickt im Hörer und er pafft offensichtlich Rauch in die Luft. »Sag das noch mal.«
»Ich fliege nach Kuala Lumpur. Vier Wochen. Recherche und tippen. Muss noch paar Sachen erkunden.«
»Scheiße, ich dachte, dein Roman spielt in Südfrankreich. Nach Südfrankreich wäre ich zur Not mit dem Auto gefahren, aber Kuala Lumpur?! Wieso tischst du mir so einen Mist auf?«
»Beruhig dich. Hab noch einen Schlenker eingebaut. Familienbande und so, Tragik aus kolonialen Zeiten. Wirst schon sehen …«
»Ich zahl das aber nicht. Spesen für Malaysia kannste vergessen!«
»Behalt dein Geld. Ich nehme Maria mit.«
»Was?! Wen?!«
»Mein neues Tagebuch. So hab ich das genannt.«
»…«
»Bist du noch dran, Friedrich?«
Tiefes ein- und ausatmen. Fast ein gedehnter Stoßseufzer. »Ruf mich an, wenn du zurück bist oder lass den Arzt anrufen, falls du in der Klapse landest. Denk an den Abgabetermin! Noch zwölf Wochen!«
»Klar. Kein Problem.«
»Heinrich?«
»Hm?«
»Wenn dir was zustößt oder du dir irgendwas einfängst, bist du auf dich gestellt.«
»Keine Sorge.«
Er legt auf. Ich trockne den Unterteller mit der Serviette, trinke leer und bestelle einen zweiten Kaffee. Maria fällt mir ein. Wie ein Trottel saß ich auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Ein kleiner, pubertärer Trottel. In den Bann gezogen von Äußerlichkeiten, die es millionenfach auf diesem Planeten gibt und mich bisher nicht hinter dem Ofen hervorgelockt hatten. Warum jetzt? Vielleicht werde ich alt und peinlich. Ich bin unsicher, bezahle gleich und trinke die Köstlichkeit schneller als gewöhnlich. Kein Genuss dabei. Der herrliche Geschmack des ersten Kaffees ist verschwunden. Etwas muss passiert sein in diesem Reisebüro. Es ist keine Begierde nach Marias Schönheit. Ich schaue von Mensch zu Mensch, Frauen und Männer allen Typs. Kleine, große, alte, junge, schöne und durchschnittlich schöne. Hässliche? Nein, eher gezeichnet. Ganz eindeutig unterscheidet Maria sich von allen hier drin; und vielleicht auch von allen draußen. Aber wie? Als käme am Ende einer langen Fahrt über scheinbar endlose Straßen eine mächtige Gebirgskette. Weit vorne am Horizont. Das ist Maria.


Sie hat alles ausgefüllt, ausgedruckt, in eine mit Südsee-Motiv bedruckte Mappe sortiert und notiert handschriftlich ein paar Punkte auf einen Merkzettel. Aus einer Ablage zieht sie eine Art offizielles Dokument und legt es vor mich hin. Das Logo des Auswärtigen Amtes ist im Briefkopf. »Das sind Infos zur Expositionsprophylaxe …«
»Zur was?«
Marias Lächeln ist dauerhaft. »Klingt sehr schlimm, ich weiß, aber die Hinweise dienen lediglich dem Schutz vor Insektenstichen. Was können Sie tun, um das zu vermeiden – so gut es geht eben. Das Hotel hat in jedem Raum Klimaanlagen, das hilft schon mal. Zudem sehr gute Moskitonetze über den Betten, dazu Anleitungen zum Gebrauch. Und des Weiteren bekommen Sie Tipps, welche Mittel zum Einreiben der blanken Hautstellen Sie verwenden bzw. vermeiden sollten.«
Das klingt gruselig. Ich hasse Mücken. Und zudem bin ich noch bis zu einem gewissen Grad allergisch.
»Ich werde mich nur im Zimmer aufhalten«, versichere ich ihr nickend. Sie legt den Kopf schief, runzelt die Stirn.
»Nein, das müssen Sie nicht. Wir prüfen unsere empfohlenen Hotels einmal im Jahr persönlich.« Aus der Mappe nimmt sie ein Blatt mit wunderschönen Fotos. Blaues Meer, tolle Speisen, bunte Cocktails und schöne Menschen. »Das Palatan Lemak Sea Lodge ist ins Meer hinaus gebaut. Das Salzwasser sorgt schon für einen gewissen Schutz, die Klimaanlage im Zimmer für den Rest. Und wenn Sie abends draußen sind, reiben Sie sich mit den empfohlenen Mitteln ein. Das wirkt. Ich war schon dort und bin nicht gestochen worden.«
Ich schaue auf die Fotos. Zu schön, um wahr zu sein. »Sehr beruhigend, Maria …« Habe ich ihren Vornamen genannt?! »Entschuldigung, ich wollte Sie nicht duzen.«
»Kein Problem. Es steht ja nur mein Vorname auf dem Schildchen.«
»Gut, also, was muss ich noch beachten?«
Maria atmet geräuschvoll ein, streckt sich und legt eine Hand auf den Kugelbauch. Vielleicht bewegt sich das Baby gerade. Ich schweige. »Die religiösen Gepflogenheiten. Es ist ein islamisch geprägtes Land. Nackte Haut wird also nicht gerne gesehen. Zurückhaltung beim weiblichen Geschlecht. Rufen Sie, wenn möglich, private Taxidienste, keine offiziellen. Das könnte sonst teuer werden. Und bei der Einreise kann es sein, dass Sie das Rückflugticket zeigen müssen.« Maria hebt den Zeigefinger. »Alkohol nur im Hotel und keine Drogen!«
»Meine einzige Droge sind Buchstaben.«
»Wie?« Sie schaut konsterniert.
»Haben Sie schon meine Karte durch den Scanner gezogen?«
»Ach so, ja, ist alles erledigt. Beleg ist in der Mappe. Hier die Karte.«
»Danke, Maria.«
Sie lächelt erneut. Oder ist es jetzt ein ehrliches Grinsen? Sie packt zusammen, gibt mir die Mappe. Ich stehe auf und reiche ihr die Hand, greife zu. Marias Griff ist fest und doch sanft. Ihr Bauch stößt fast eine Wasserflasche um.
»Machen Sie’s gut, Herr Konstantin. Vielen Dank, dass Sie uns gewählt haben.«
»Ab sofort immer.«


Es gibt niemand, dem ich Bescheid sagen muss. Die Wohnung wird vier Wochen ohne mich auskommen und in den Tagen bis zum Abflug, habe ich mich an den Gedanken gewöhnt, anstatt in Südfrankreich den Großteil des neuen Romans zu schreiben, ich das ebenso gut in Kuala Lumpur erledigen kann. Warum auch nicht? Ein Zimmer. Meerblick. Funktionierende Klimaanlage und ausreichend Getränke. Nur eines geht mir nicht aus dem Kopf. Maria. Ich komme mir vor wie ein Weltraumreisender, seit Äonen einsam in einem Raumschiff, ohne Hinweise auf Kurs oder Ziel und eines Tages ist da plötzlich ein Neutronenstern, ein Pulsar, mit einem rotierenden Röntgenstrahl, ein Leuchtturm, der es mir ermöglicht, eine Position zu bestimmen, einen Kurs festzulegen. Ein seltsamer Moment, wenn ich auch keine Ahnung habe, inwieweit er mein Leben beeinflussen wird.

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