Charis 7 | In die Eifel

Noch am gleichen Tag

Eine wundervolle Fahrt. Erst mal aus Köln draußen, genieße ich mit geschlossenen Augen das Ruckeln, die Stimmen um mich herum, die sich mehr und mehr entfernen, immer gedämpfter meine Wahrnehmung erreichen, je tiefer ich in mein Inneres versinke. Die Gedanken kreisen um meinen Sohn. Und die Augen meines Bruders. Wenn ich ihn schon kaum erkannt habe, wie wird es dann mit meinem eigenen Nachwuchs sein? Werde ich den erwachsenen Mann erkennen, den ich als Kind in den Armen hielt, zum Kindergarten brachte, von der Schule abholte. Jeder Winkel in mir ist voller Angst. Angst vor Zurückweisung, einer Absage, der erneuten Niederlage. Unter den geschlossenen Lidern drücken Tränen ans Licht. Was soll ich dagegen tun?
»Alles in Ordnung?«, fragt eine Frauenstimme.
»Nein, nicht wirklich«, gestehe ich und traue mich nicht mal, die Augen aufzumachen. Eine Hand legt sich auf meinen Unterarm. Eine kleine Hand, kaum Kraft. Sie bleibt dort liegen. Wir schweigen. Dann sagt die Lautsprecherstimme ‚Godorf, Ausstieg rechts‘. Daraufhin verlässt mich die kleine Hand, es wird kühl an der Stelle.
»Ich muss aussteigen, aber ich denke an Sie.« Mir bleibt nur ein Nicken. Abbremsen, Türen zischen. Sie ist weg. ‚Nächster Halt: Wesseling Nord‘. Ich werde sterben, ist mein nächster Gedanke. Oder mehr eine Erkenntnis. Vielleicht eine Hoffnung? Das wünsche ich mir wohl, zu sterben. Nur das kann meine Fehler tilgen, die Feigheit, das Versagen beseitigen. Station um Station, abbremsen, beschleunigen. Viertel nach neun sind wir endlich in Bad Godesberg und meine Stimmung ist auf dem Tiefpunkt, antriebslos, unter einer schweren Wolke aus Lethargie und Hoffnungslosigkeit gefangen. Auf einem Blumenkübel gegenüber des alten Godesberger Bahnhofs sitzend, esse ich zwei Brezeln, trinke eine Flasche Wasser und beobachte in dieser Zeit die drei Taxen vor dem Gebäude. Zwei Männer und eine Frau. Fahrgäste kommen keine mehr und um zehn Uhr verabschiedet sich einer der Männer. Es ist fast dunkel. Die Frau steigt aus, zündet sich eine Zigarette an, inhaliert tief und pustet eine große Rauchwolke gen Himmel. Ich vermute, dass die Leute meines Bruders nicht rauchen, kratze eine Stelle an meinem Hinterkopf und gehe auf sie zu. Kurz vor ihr wirft sie die Kippe auf den Boden, tritt die Glut aus. Ich gehe um den Wagen herum und steige vorne ein.
»Bin weg«, ruft sie ihrem Kollegen zu, setzt sich auf den Fahrersitz, schließt die Tür. Eine seltsame Stille umgibt uns.
»Wohin?«
»Nach Ilkenrath. Das ist bei Dahlem.«
»Okay, aber da kommt einiges zusammen.« Ich bin erstaunt. Sie ist weder beeindruckt noch überrascht. Als würde sie diese Strecke täglich fahren.
»Kein Problem. Wie viel wird es kosten?«
»Hm, rund 160 Kilometer hin und zurück, meine zusätzliche Zeit, weil ich demnächst Feierabend machen wollte …« Sie legt den Kopf in den Nacken, murmelt leise einige Zahlen. »Sagen wir 350 €.«
»Einverstanden.«
»Aber im Voraus. Versteht sich von selbst.«
»Natürlich.« Aus der Hosentasche ziehe ich fünf Hundert-Euro-Scheine, fächere sie auf und stecke sie zwischen Display und Klimaanlagensteuerung in den Spalt.
»Stimmt so.«
Sie sieht mich an und macht eine anerkennende Geste. »Dafür dürfen Sie auch Marion zu mir sagen.«
»Okay, Marion. Ich bin Frank. Dann nichts wie los.«
Wir verlassen das abendliche Bad Godesberg in Richtung Meckenheim.
»Lieber Autobahn? Oder Landstraße?«
»Landstraße ist gut.«
»Sieht man aber nicht viel, wenn es dunkel ist«, gibt sie zu bedenken.
»Egal, ich mache die Lehne nach unten, wenn es recht ist, und die Augen zu.«

Marion ist eine exzellente Fahrerin. So stelle ich mir das in einem Zeppelin bei Windstille vor. Ein Dahingleiten über Landschaft. Oder durch Dunkelheit. Schlafen geht nicht, also verfolge ich die rote Linie auf dem Navigationssystem. Die Dörfer werden seltener; und wenn wir durch eines fahren, ist kaum Licht in den Häusern. »Ziemlich einsam hier. Das war früher aber nicht so ausgeprägt«, stelle ich fest.
»Wann war früher?« Sie hat eine angenehme Stimme.
»In meiner Kindheit. Zuletzt war ich hier um die Jahrtausendwende. Eine Beerdigung. Das Drumherum war mir egal.«
»Da habe ich aber jetzt mehrere Fragen«, sagt sie grinsend.
»Nur zu, wenn ich antworten kann, tu ich das.« Sie dreht kurz den Kopf her, achtet aber wieder auf die Straße, denn eine scharfe Kurve wird angekündigt.
»Okay, Kindheit. Das war wann?«
»1971 geboren in Köln. Mutter aus der Eifel, aus Ilkenrath. Wir haben meine Großeltern sehr oft besucht, bis sie Anfang der Achtziger starben.«
»Und die Beerdigung?«
Meine Mutter. 1999 gestorben und in Ilkenrath beerdigt. Sie hasste es, in Köln zu wohnen.«
»Aha.« Eine Rechtskurve folgt und Marion lenkt präzise hindurch. »Und was hat deine Mutter daran gehindert, vor ihrem Tod wieder nach Ilkenrath zu ziehen?« Wer hat sie daran gehindert? Eine gute Frage. Habe ich mir diese Frage schon mal gestellt? Ich erinnere mich nicht.
»Gute Frage. Wer hat Mutter daran gehindert … auf jeden Fall mein Vater. Aber der starb schon 1989. Also hätte sie noch Zeit gehabt.« Wir erreichen Hilberath. Es ist wie ausgestorben. »Nach dem Tod meines Vaters … ich weiß auch nicht. Vielleicht Gewohnheit?«
»Also ist sie in Köln gestorben?«
»Ja. Wir … also meine Frau und ich haben sie dann in die Eifel bringen lassen. Sie wollte nicht verbrannt werden. In Ilkenrath war das noch möglich.«
»Außerdem war es ja ihre Heimat«, ergänzt sie. »Und jetzt besuchst du das Grab deiner Mutter?«
»Morgen ist ihr Todestag.«
Marion nickt. Kaum sichtbar im schwachen Licht des Displays. »Ich komme auch aus der Eifel, will da aber nicht mehr wohnen. Alles tot. Viele Firmen sind in die Insolvenz oder weg. Wassermangel, Wald gibt es so gut wie nicht mehr, kaum noch Tourismus, die Jugend schon lange in den Städten, ach was, auf ganz Europa verteilt. Wer noch hier lebt, ist meist alt und wird bald sterben. Andererseits … so kann die Natur wieder ein wenig aufatmen, nicht wahr?« Wir fahren durch Todenfeld und biegen links ab. Zwei entgegenkommende Fahrzeuge. Das war es an Verkehr.
»Ich muss dir etwas gestehen, Marion.« Sie beschleunigt und schaut für eine Sekunde her.
»Du bist ein Strafgefangener auf der Flucht und ermordest bevorzugt Taxifahrerinnen?« Ich muss lachen.
»Nein, natürlich nicht. Ich lebe seit einem Vierteljahrhundert in Südfrankreich und habe mich weder für die Natur noch das Leben noch irgendeinen Menschen interessiert.« Marion schweigt und kontrolliert den Ladezustand des Akkus, schaltet dann wieder zur Straßenkarte. Warum schweigt sie? Vielleicht ist es ihr ja ähnlich ergangen …
»Du warst also ein egoistisches Arschloch?«, fragt sie nach einigen Minuten. Es trifft mich nicht. Weder Ärger noch Wut spüre ich kommen, nur einmal tief durchatmen. Die Klimaanlage arbeitet hervorragend. Warum vertraue ich ihr?
»Das bin ich immer noch.«
Sie summt ein mir unbekanntes Lied und ich denke an meinen Sohn. Im Schein der LED-Lampen tauchen Baumgerippe vor uns auf. Ich komme mir vor wie auf dem Styx. Aus einem Impuls heraus versuche ich den Obolus unter der Zunge zu entdecken, den mir Marion am Ende der Fahrt als Bezahlung abnehmen wird.
»Sag mal, Frank, verzeih meine Neugier, aber … nach 25 Jahren zum ersten Mal wieder zum Grab deiner Mutter … warum ausgerechnet jetzt?«
Ich ahnte, diese Frage würde unweigerlich auftauchen.

Für einen Augenblick kommt mir in den Sinn, dass diese Taxifahrerin, Marion – wenn sie überhaupt so heißt –, ebenfalls zu meinem Bruder gehören könnte. Oder zum Widerstand. Ich denke an Aliens, die das alles nur inszenieren, um ein Live-Theater zu erleben. Dann sehe ich sie von der Seite an. Spiegelungen und Reflexe der vielen Leuchten im Gesicht, im Auge, das ich von hier sehe. Sie ist konzentriert. »Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht magst.« Warum sagt sie das? Schon dieser Satz macht mich wieder halb wahnsinnig. Will sie mir ein schlechtes Gewissen machen? Nein, das glaube ich nicht. Sie ist interessiert. Neugierig. Mehr nicht. Mit mir in einem Taxi zu sitzen, ist schon gefährlich genug. Alle um mich herum sind in Gefahr, wie man an Richard sieht. Ich habe das Bedürfnis, mit der Hand fest über mein Gesicht zu streichen, hin und her. Um wach zu werden, klar im Kopf, mich abzulenken. Marion steuert souverän in eine langgezogene Linkskurve. Verdorrtes Gras auf der rechten Seite, ein umgefallener Leitpfosten.

»Wenn ich es dir erzähle, bedeutet es mit hoher Wahrscheinlichkeit Gefahr für dein Leben.« Sie klopft mit dem Zeigefinger ein paar Mal aufs Lenkrad und knabbert auf der Unterlippe. »Es sind schon Menschen gestorben, Marion. Alleine dass wir in diesem Auto sitzen, ist Gefahr genug«, setze ich nach.
»Warum hast du mich ausgesucht und nicht meinen Kollegen?«
»Bauchgefühl. Aber ich hätte überhaupt niemanden aussuchen sollen und mich lieber in mein Schicksal ergeben.« Marion wiegt den Kopf hin und her. Ich meine ein Grinsen zu sehen.
»Jetzt bin ich hier, Frank. Zu spät also. Dann können wir auch den letzten Schritt gehen.« Den letzten Schritt … was ist der letzte Schritt? Ich verstehe und fange an zu erzählen.

Als ich fertig bin, angefangen vom Tod meiner Frau, dem Verlust des Sohnes, einem evangelikalen Bruder, bis zu Canard und Brunos Ermordung in der Küche durch mich, bleibt mir nichts als schweigen. Hätte ich dem überhaupt entkommen können? Mich von vornherein weigern, diesen Irrsinn mitzumachen? Natürlich. Gäbe es da nicht diese tiefe Sehnsucht nach meinem Kind, den zwanghaften Drang, meine Schuld zu begleichen. Nun kann ich dieser Steinlawine nicht mehr entrinnen. Selbst schuld. Schon viel früher hätte ich mich um Verständigung bemühen müssen. Marion schüttelt den Kopf. Nicht sehr intensiv. Gerade so viel, dass klar wird, wie mein Geständnis wirkt.
»Tja, also … das klingt nach einer gewaltigen Räuberpistole. Seltsamerweise glaube ich dir. Keine Ahnung, warum.«
»Danke.« Zögerlich dreht sie den Kopf. Ihr Blick trifft mich.
»Du bist ein Feigling, Frank!«
»Das bin ich. In der Tat.«
»Es ist richtig, sich diesem Plan zu verweigern. Ich bin zwar keine Freundin der Abendländischen Erneuerung, aber, ehrlich gesagt, am Ende ist es mir egal. Mein Job wirft gerade so viel ab, dass ich einigermaßen davon leben kann. Und ich muss noch Unterhalt zahlen für zwei Kinder. Dein Geld kommt mir also gerade recht. Das Hemd ist mir näher als die Hose. Vielleicht schaffen wir es in Europa, dank deines Bruders. Die Millionen Klimaflüchtlinge können wir weder aufnehmen noch versorgen. Wenn du ihn also tötest, ist diese Chance weg. Auch wenn mir der Glaube am Hintern vorbeigeht.«
»Dann sind wir ja jetzt zwei egoistische Arschlöcher.« Marion kontrolliert den Akku. Füllstand bei 83%. Es wird keine Probleme geben. Ein paar Kilometer lang schweigen wir. Nach Schönau fällt mir wieder die Erwähnung von zwei Kindern ein. »Erzähl mir von deinen Kindern.«
Marion zieht die Schultern hoch, streckt sich im Sitz, drückt beide Arme durch. Ich habe keine Ahnung, auf welches Alter ich sie schätzen soll. Vierzig? Ihre Stimme ist jung und sanft. Wenige Falten im Gesicht. Was sie ausstrahlt ist zweifellos von viel Erfahrung geprägt. »Schwierig«, kündigt sie an. »Ganz schwieriges Thema. Ist nicht so mein Ding, da drüber zu reden.«
»Hm, das ist in Ordnung für mich. Aber du kannst mir erzählen, was du vor der Taxifahrerin gemacht hast. Das warst du ja sicher nicht seit jeher …«
»Nein. Taxi fahre ich seit fünf Jahren. Vorher war ich bei Frontex.« Das Wort trifft bis ins Mark. Weil es aus Marions Mund kommt? Meine rechte Hand zittert. Ich will etwas sagen, fragen, am besten alles auf einmal. Doch ich bleibe sprachlos. Wieso habe ich das Gefühl, schon Jahrzehnte neben dieser Frau zu sitzen? »Hat es dir die Sprache verschlagen?«
»Hat es«, sage ich wahrheitsgemäß.
»Komisch, oder? Was ich vorher getan habe, verbindet sich heute Abend auf seltsame Weise mit deiner Geschichte.« Marions Hand landet auf meiner und drückt sie. »In zwanzig Minuten sind wir in Ilkenrath, Frank. Was werden wir dann tun?« Aus der Hosentasche hole ich das Bündel Euroscheine und lege es in die Konsole.
»Sind 4.500 Euro. Lass mich am Ortseingang aussteigen und mach, dass du wegkommst.« Ihr Blick geht für eine Sekunde auf das Geld. Sie nickt. Das Ortsschild von Tondorf reflektiert unser LED-Licht.

Ilkenrath ist fast dunkel. Drei Straßenlaternen sind zu sehen. Vor dem Ortseingang ist ein Wanderparkplatz. Marion quert ihn und setzt das Taxi hinter eine Buschreihe, von der Straße nicht einzusehen. Sie schaltet E-Motor und Licht aus, bringt ihre Lehne per Knopfdruck in die Horizontale. »Ich muss ein bisschen ausruhen«, meint sie und schließt die Augen. Noch eine halbe Stunde bis Mitternacht. An Schlaf ist nicht zu denken. »Wenn du aussteigst, mach vorher die Innenraumbeleuchtung aus, damit es dunkel bleibt, sobald die Tür aufgeht.«
»Ich werde dran denken.«
Auf was sie alles achtet, nur um ihren Schlaf zu genießen. Mir wäre das nicht eingefallen. Nach einigen Minuten atmet Marion gleichmäßig. Ich werde an die frische Luft gehen. Zudem muss ich die Blase leeren. Neben dem Rückspiegel ist ein Schalter. Es piept als ich die Lichtautomatik abschalte und aussteige. Es hat sicher noch etwas über zwanzig Grad und ist windig. Leise drücke ich die Tür zu, gehe langsam zur Buschreihe, kümmere mich um meinen Harndrang und schaue in die Runde. Das Dorf ist keine hundert Meter entfernt. Nur wenig Licht reicht von den Laternen nach hier. Es genügt jedoch, um auf dem Boden Hindernisse zu erkennen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wo der Friedhof liegt. Aber Ilkenrath hatte damals nicht mehr als dreihundert Einwohner. Ich werde nicht lange suchen müssen. Außerdem kommt der Präsident der Europäischen Union. Das alleine nimmt mir jegliche Sorgen, den Friedhof nicht zu finden. Sollte ich überhaupt zu Leander durchdringen, biete ich an, alles zu erzählen über den Widerstand. Im Gegenzug möchte ich nur einmal in Ruhe mit meinem Sohn sprechen. Ich rede mir ein, das wäre nur fair, aber genau genommen ist nichts an all dem fair. Alkoholiker hin oder her, es gibt keine Ausrede für das, was passiert ist und mein Verhalten danach.

Ein paar Meter weiter entdecke ich eine Bank. Offenbar haben sich meine Augen genug an die Dunkelheit gewöhnt. Auf jeden Schritt achtend, gehe ich auf sie zu und setze mich, lehne an die duftenden Holzbretter. Wie seltsam doch alles verlaufen ist. Vor zwei Wochen war das einzige Problem in meinem Leben die Hitze. Vielleicht noch der wöchentliche Einkauf in Castellane und dass Richard meinen Kurzgeschichtenband nur aufgrund unserer gemeinsamen Vergangenheit veröffentlicht hätte; nicht etwa, weil er an den Erfolg glaubte. Ich bin ein sehr guter Lektor, aber ein mäßiger Schriftsteller. Françoises Bild schiebt sich zwischen die Gedanken, unser Flammkuchenessen, der Rotwein. Siebzig Jahre und eine Schönheit. Wie es ihr wohl geht? Ich könnte ihr ja einen Heiratsantrag machen … nein! Ein gepresster Lacher rutscht mir heraus. Sei kein Idiot, Johannes! Immerhin war sie mit dem besten Baguette-Bäcker des Departements verheiratet und liebt ihn immer noch. Vor allem aber bezweifle ich ganz stark, dass ich Castellane jemals wiedersehen werde. Der Ameisenlöwe fällt mir ein, ganz unten in seinem Trichter aus Sand lauernd. Gerät sein Opfer einmal über die Kante, rutscht es unbarmherzig tiefer hinein. Am Trichterboden lauert der Tod. Unausweichlich.

Eine Hand berührt meine Schulter und ich springe auf wie von der Tarantel gebissen. »Scht!« Es ist Marion. »Ui, ich kann dein Herz schlagen hören. Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, flüstert sie, drückt mich wieder auf die Bank und setzt sich daneben. »Ist nix mit schlafen. Dauernd geht mir durch den Kopf, was hier passieren wird oder auch nicht.«
»Es wird nicht viel passieren«, äußere ich meine Vermutung. »Ich werde meinem Bruder vom Widerstand berichten und vielleicht schaffe ich es, mit meinem Sohn zu reden. Hoffentlich kann ich danach wieder nach Hause.«
»Hm …«
»Du hast Zweifel?«
»Deinen Schilderungen nach, ist dieser Widerstand gut organisiert. Du würdest zuhause keine Ruhe haben. Schließlich hast du ja versagt, in deren Augen.« Müde beuge ich mich vor und suche vergeblich nach einer Lösung auf dem dunklen Boden, scharre mit der Fußspitze kleine Steinchen auf die Seite.
»Dann müsste ich umziehen. Vielleicht hilft mir mein Bruder …«
»Ja, vielleicht …«
»Du glaubst nicht daran, oder?«
Ihr Schweigen ist mir Antwort genug. Marions Stimme passt nicht zu ihrer erfahrenen Art und Weise.
»Darf ich dich fragen, wie alt du bist?«
»Natürlich, Frank. 45 Jahre. Hab mich ganz gut gehalten, finde ich.«
»Das stimmt.« Ein Windstoß trägt ein Geräusch zu uns. Wie das dumpfe Knarzen eines alten Baumes, kurz bevor der Stamm splittert. Ich stelle mir vor, wir sind ein altes Ehepaar, auf einer Holzbank mitten in der Eifel unter spärlichem Sonnenschein. Zwischen uns vielleicht belegte Brote und eine Kanne Tee. Von diesem Ausflug haben wir uns mehr versprochen, ein Weg zurück in unsere Jugend möglicherweise. Es könnte unser letzter gemeinsamer Ausflug sein. Lieben tun wir uns schon lange nicht mehr, aber wir sind gute Freunde, was unter Umständen von größerer Bedeutung ist.
»Warum hast du Frontex verlassen? Kann man dort keine Karriere machen, wenn man älter wird?«
»Doch, natürlich. Es gibt zwei Laufbahnen, die zweijährige Verpflichtung oder die Berufslaufbahn, für die ich mich entschieden habe. Am Ende war ich Majorin und auf Kreta stationiert, zuständig für die libysche Küste von Tobruk bis Marsa Matruh.«
»Dann hast du eine sichere Existenz aufgegeben? Warum?«
Sie stößt die Luft aus. »Ich wollte nicht mehr die Drecksarbeit erledigen.« Die Drecksarbeit? Ich ahne, was sie meint.
»Hast du nicht vorhin gesagt, es wäre okay, wenn mein Bruder am Leben bliebe, weil er dafür sorgt, dass …«
»Ja!«, unterbricht sie mich. »Das habe ich gesagt. Ich denke nicht darüber nach, wenn ich im Taxi sitze und die Leute nach Hause fahre oder zur Arbeit oder ins Krankenhaus. Den Tod aus meinem Alltag zu verbannen, hat geholfen. Jetzt lebe ich. Okay?« Marions Stimme mündet in ein versiegendes Krächzen. Sie stützt den Kopf auf die Hände. Ich bin versucht, sie in den Arm zu nehmen, lasse es aber lieber bleiben. »Ich bin nicht anders als du«, redet sie weiter, »und du nicht anders als ich. Wir beide nicht anders als tausende um uns herum. Das Leid vor Ort können wir nicht ertragen. Vom Fahrersitz im Taxi aus ist es erträglich. Die Entfernung zum Elend ist unsere Entschuldigung.«
Sie hat recht und ich denke an schlafen. Bleierne Müdigkeit rollt über mich hinweg. Oder ist es Erschöpfung? Egal, wie sie reagieren wird, ich lehne mich an Marion und sie legt den Arm um mich. Ob alle Menschen irgendwann einsam werden? Oder schon immer einsam sind?
»Jeden Tag habe ich morgens den Tod organisiert und abends Einsatzberichte geschrieben. Zehntausende Menschen starben. Täglich. In meinem Zuständigkeitsbereich. Kinder, Frauen, Alte, Männer. Verhungert, verdurstet, an Schwäche oder durch unsere Waffen. Mein Job war es, keinen noch so kleinen Fuß europäischen Boden betreten zu lassen. Egal wie.«
»Und du warst sicherlich sehr gut in deinem Job«, flüstere ich in Marions Ohr.
»Sehr gut sogar, mit Auszeichnung.« Sie richtet sich auf, drückt den Rücken durch, streckt beide Arme und gähnt. Mir fällt es nicht auf oder ich übersehe es, weil kein vergleichbares Bild in meinem Kopf existiert, aber dann wird mir klar, was ich da sehe. Ein roter Lichtpunkt auf ihrer Brust.
»Marion!«, rufe ich noch. Ein leises Sirren folgt, wie von einer rasend schnellen Wespe. Dumpfes Ploppen. Es knirscht. Ein grässliches Geräusch. Sie sinkt vornüber, mit dem Kopf auf die Knie. Aus der Dunkelheit schälen sich zwei Umrisse, dann ist ein Lichtblitz in meinem Schädel.

Sonntag, 9. August 2037

Immerhin ist es weich und kühl. Und nicht zu hell. Was? Bin ich jetzt vollkommen verrückt? Jetzt auch noch Stimmen. Englisch. Aber mit italienischem Akzent und so was wie ein polnischer oder tschechischer Akzent. Ich muss nur die Augen aufmachen, aber ich will nicht. Alles sträubt sich in mir. Es muss endlich Schluss sein mit dem Drama!
»Er wacht auf«, sagt eine Frau. »Lassen Sie uns alle bitte allein«, eine andere Stimme. Die Stimme! Ich weiß, wer das ist und muss die Augen aufmachen. Eine Tür geht auf, Tritte auf einer Metalltreppe. Dann ein dumpfes Klacken. Wir sind allein.
»Leander …«
Er sitzt neben mir auf einer Art Campingstuhl. Auf was liege ich? Einem Feldbett? In einem Raum aus Metall, Aluminium. Bildschirme an einer Seite, davor Tische, Tablets, Tastaturen und gedämpftes Licht. Möglicherweise ein Fahrzeug, so was wie ein Anhänger.
»Johannes …«
»Was ist mit Marion?!«
Er weiß sofort, wen ich meine. »Die Taxifahrerin … sie ist tot. Aber ich kann dich beruhigen, ihre Kinder bekommen eine gute Waisenrente.«
»Du …« Die Wut stiehlt mir Atem und Worte. Ich habe den Eindruck, wieder ohnmächtig zu werden. Derart sprachlos war ich selten. Mir wird schlecht. Der rote, leicht zitternde Punkt, das Sirren …
»Langsam einatmen … und wieder ausatmen, Bruder. Sie war Offizierin bei Frontex und hätte wissen müssen, was passiert. Am Ende aber warst du es, der ihr das Leben nahm, denn du hast sie mit hineingezogen in die Geschichte.« Ich will aufstehen, mich von der Liege reißen, aber etwas hindert mich daran. Zwei Gurte über meinem Körper. Kraftlos gebe ich auf. Jetzt bloß nicht weinen! »Es wird Zeit. Gleich ist es zehn Uhr. Es gibt einen kleinen Gottesdienst in der Kapelle, dann gehen wir beide zum Grab unserer Eltern.
»Unserer Eltern? Nur Mutter liegt hier. Vater haben wir in Köln beerdigt. So schlecht ist mein Gedächtnis nicht!«
»Nein, ist es wahrscheinlich nicht, aber ich habe ihn vor ein paar Jahren umbetten lassen. Sie haben nun beide ein schönes Grab hier, so was wie ein schlichtes Familiengrab.«
»Warum? Und warum hast du mir nicht Bescheid gegeben?«
Er lächelt mich an. Leander … im kalten Licht der LED-Flächenlampen wirkt sein Gesicht alt, eingefallen. Keine gesunde Hautfarbe. Ob ich ebenfalls so aussehe? Was ist passiert mit ihm? »Viele Fragen, Bruder. Warum? Die Antwort ist einfach: Image. Der Präsident lässt seinen Vater zur Mutter ins Grab legen. Das ist gute Werbung. Die zweite Frage gebe ich zurück. Wärst du denn gekommen?«
Nein, wäre ich nicht. Er hat recht. »Mach mich los, ich muss auf die Toilette und will mich waschen.«
»Gerne.«

Der Waschraum ist kalt. Steril. Aus Edelstahl. Umfallen kann man jedenfalls nicht, aber es gibt neue Kleider. Dem Vorhaben angemessen. Alles passt. Von den Sommerschuhen zu Hemd und Leinen-Sakko. Marion … warum geht sie mir nicht aus dem Kopf? Schließlich bin ich am Ziel … Als ich wieder in den Kontrollraum trete, sitzt Leander auf einem Stuhl, ebenfalls umgezogen. Eine junge Frau kümmert sich um seine Haare, die Gesichtsfarbe, macht ihn kameragerecht, vermute ich. Gottesdienst in der Kapelle … es fällt mir nicht ein, wann ich das letzte Mal in einer Kirche war oder an so etwas teilgenommen habe. Kann gut sein, dass es zu Mutters Beerdigung war. Leander winkt die Frau weg und steht auf, sieht mich an der Tür zum Waschraum stehen. Nur wir beide und die Visagistin sind im Raum. Wenn ich ihn töten wollte, wäre jetzt eine gute Möglichkeit. Marions schreckliches Ende scheint ein ausreichendes Motiv. Aber damit würde ich sie enttäuschen.
»Gut siehst du aus, Johannes.«
»Du auch, Leander.«
Er lacht gepresst. »Lügner oder Schmeichler. Ohne die Schminke bin ich nichts als ein alter, kranker Mann.«
»Du bist zwei Jahre jünger als ich. Dein Job wird dich über Gebühr fordern …«
»Das auch«, winkt er ab. »Aber ich mache ihn gerne, er ist sinnvoll. Wir sind auf einem guten Weg. Also müsste er sich positiv auf meine Gesundheit auswirken, nicht wahr?«
»Tut er nicht?«
»Lass uns gehen. Ich will nicht zu spät kommen.« Er tippt zweimal auf ein Gerät am Handgelenk. Die Tür geht auf und Kameras erwarten uns. Leanders Mimik wechselt zu aufrichtigem Lächeln, als gäbe es einen Marionettenspieler, der eine zweite Puppe auf die Bühne stellt. Als ich bei ihm bin, legt er den Arm um meine Schulter. Wir sind gleich groß und haben eine annähernd identische Figur. Bei den Gesichtszügen war ich mir nie sicher. »Lächeln, Johannes. Bitte …« Ich tue ihm den Gefallen.

Die Kapelle ist renoviert, ebenso die Wohnhäuser, Scheunen, eine kleine Bäckerei, das Restaurant ‚Zum Eifelblick‘. Das alles erinnert mich an potemkinsche Dörfer. Viel Platz ist nicht im Gotteshaus, aber es reicht für drei Kamerateams, den kleinen Altar, vor dem ein Mann im blauen Zweireiher den Gottesdienst zelebriert. Leander und ich sitzen auf der vorderen Bank und hören zu. Ich folge einfach der Liturgie, aufstehen, sitzen, singen – oder so tun – die Hände falten, der Predigt zuhören, Amen sagen und Halleluja rufen. Das Drehbuch ist perfekt. Irgendwo gibt es sicher einen Redaktionsraum, in dem ein Reporter die Bilder kommentiert, erwähnt, dass sogar der Bruder des Präsidenten gekommen sei, um die Mutter zu ehren. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Irgendwann bimmelt die kleine Glocke, Leander nimmt meine Hand, steht auf und zieht mich mit leichtem Drücken vor den Altar. Der blaue Zweireiher sagt etwas. Ich höre nicht zu. Die Hand meines Bruders wird feucht. Er schwitzt. Wie kleine Stiche prasseln die Bilder auf mich ein. Wir zwei, Hand in Hand vor dem Kindergarten, der Schule, neben dem Eingang zur Achterbahn. Auf dem Bahnsteig stehend, nach Mutter suchend, die nur Pommes holen wollte und uns nicht mehr fand. Leander begann zu weinen und ich wollte es ihm gleichtun, aber Vater hatte mir das Weinen verboten. Also tat ich es nicht, nahm den kleinen Blondschopf in meine Arme. Er war mein Licht und ich seines. Amen, sagt der Zweireiher und digitale Orgelklänge geleiten uns nach draußen, durch das Spalier der Kameras.

Was lässt mich jetzt weinen auf dem Kiesweg zum Grab von Mutter? Hand in Hand mit meinem kleinen Bruder. Das Schniefen kann ich nicht unterdrücken und fluche innerlich. Leander zieht aus der Innentasche ein Tuch, reicht es mir. Ich blicke nach rechts und entdecke seine Tränen. Meine und seine Tränen, wir hätten sie vor langer Zeit zusammen weinen sollen. Die Kameras sind hinter uns. Niemand sieht es. Nur wir. Dann werden die Stimmen leiser. Sie fallen zurück. Auf der kleinen Anhöhe erkenne ich endlich das Grabmal. Es hat sich verändert. Ein großer Stein aus Granit ist es geworden, mit einem Kreuz darauf. Beide Namen eingemeißelt, geboren und gestorben am … und drunter noch ‚Vater‘, ‚Mutter‘, und ‚Danke‘, nur diese drei Worte. Dieses ‚Danke‘ holt mich wieder in die Realität.
»Ist das dein Ernst, Leander? ‚Danke‘? Bei Mutter gebe ich dir recht. Bei ihm? Nein, niemals!« Ich schnäuze ins Tuch.
»Johannes … willst du mir etwas sagen?«
Ich atme tief ein. Der Morgen ist recht kühl, die Luft frisch. Nur die kahlen Hügel um uns herum mit dem trocken-braunen Boden vermiesen die friedliche Stimmung.
»In der Tat. Das will ich.« Wieder hole ich Luft. »Ich wurde kontaktiert von einem Mann, der sich Canard nennt und behauptet hat, einem Widerstand anzugehören. Dieser Widerstand will, dass ich dich töte. Genau jetzt und hier. Ich nehme an, sie wissen, dass nur ich dir an so einem Tag nahe genug kommen kann. Aber …«
»Aber?« Leander sieht mich von der Seite an. Unerschrocken und gar nicht beeindruckt.
»Aber ich werde das nicht tun. Du bist mein Bruder!« Er nickt, als hätte ich ihm vom Neubau meiner Garage erzählt. Ist er so abgebrüht? »Sie wollen mich erpressen mit meinem Sohn, von dem sie behaupten, du hättest ihn manipuliert. Und ich würde doch sicher gerne mein Enkelkind sehen …« Er schweigt, die Lippen aufeinandergepresst. »Stimmt das? Werde ich Großvater? Hast du …«, erst jetzt fällt mir auf, dass ich immer nur von ihm als ‚meinem Sohn‘ rede, aber schon sehr lange nicht mehr seinen Namen ausgesprochen habe. »Weißt du, wo Marc lebt? Wie es ihm geht?«
»Ja, ich weiß, wo er lebt. Es geht ihm gut. Ihm und seiner Frau. Und es stimmt, Johannes. Du wirst Opa!« Mir wird schwindelig. Schwankend halte ich mich am Grabstein hinter uns fest. Leander winkt und zwei kräftige Männer bringen eine Sitzbank, stellen sie vor Mutters Grab in den Kies und helfen mir die paar Schritte dorthin. Einer zieht eine Flasche Wasser aus der Jacke und legt sie in meine Hand. Leander nimmt dicht neben mir Platz und winkt die beiden weg. Sie verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind. Ich trinke einen kräftigen Schluck.
»Danke.«
»Kein Problem, Johannes. Wir sind eben nicht mehr die Jüngsten.«
»Ich werde Opa …«
»Ja«, sagt er lachend, »du wirst Opa. Wer hätte das gedacht. Mein einsamer Bruder. Ein Vierteljahrhundert ohne irgendwelchen Kontakt. Sühne leistend, aber nie die Schuld loswerdend, seine Frau getötet zu haben. Ich gebe dir die einmalige Chance, diese Schuld aus deinem Leben zu verbannen. Endlich frei zu sein.«
»Wie?«
»Ich bin krank, Johannes. Krebs im Endstadium. Sogar schon überfällig. An jedem Morgen danke ich Gott, dass er mich noch einen weiteren Tag die Sonne sehen lässt. Aber ich will keine Medikamente, keine Maschinen, denn dann vegetiere ich irgendwo und kann nicht mehr Präsident einer Vision sein. Und doch …« Er schweigt und richtet den Blick auf den polierten Granit. »… und doch bin ich müde. Ich will nicht mehr. Deswegen bitte ich dich, mich zu töten.«
»Was?!« Schnipsel auf Schnipsel klebe ich in meinem Kopf die Geschehnisse der letzten Tage zusammen. Ein Fünftausend-Teile-Puzzle. Das entstehende Bild gefällt mir nicht. »Dann … dann gibt es gar keinen Widerstand?«
»Nein. Es gibt keinen Bruno aus Nancy, keinen Canard. Es gibt kein Opfer islamistischen Terrors, einen toten Charis-Beamten in Chorweiler, von dem die Polizei noch nicht weiß, wer ihn getötet hat, weil Charis die Spuren verwischte …«
»Charis … deine Geheimpolizei! Die haben alles geplant und organisiert?«
»Das ist sehr profan ausgedrückt, aber ja, alles ist von Anbeginn an so gelaufen wie erdacht. Diese wunderbaren Menschen sind Gottes Schwert, so möchte ich es sagen.«
Ich rücke von ihm ab, stehe auf, gehe um das Grab herum. Auf dem hinteren Sockel liegt ein Messer. Ein ordinäres, großes Küchenmesser. Ein Messer? Teil des Plans. »Warum, Leander?«
»Bist du wütend?«
»Wütend?! Dafür gibt es kein Wort, für diese Wut! Du hast mich benutzt! Von Anfang an! Du hättest einfach anrufen können und fragen …«
»Was?!« Er steht ebenfalls auf, geht zügig ums Grab herum auf mich zu. »Was hätte ich fragen sollen? Johannes, mir geht es nicht gut … kommst du vorbei und tötest mich? Ich will nicht dahinsiechen, ich bin doch der Präsident und habe eine Aufgabe …«
»Nein! Natürlich wäre ich nicht gekommen … oder doch! Ich wäre gekommen! Scheiße. du bist doch mein Bruder!«
»Ich glaube nicht, dass du gekommen wärst. Du warst viel zu sehr mit dir selbst beschäftigt. Aber jetzt brauche ich dich und deine vergrabene Wut! Und damit du nicht zögerst, habe ich dir alle Menschen genommen, die dir etwas bedeutet haben! Richard Aumann! Die Frau in Friedrichshafen! Christian Schmitz, Paul Wertheimer, Marion, die Taxifahrerin … und eine alte, siebzigjährige Bäckersfrau aus Castellane …« Weiter kommt er nicht. Dort, wo das Messer lag, ist es nicht mehr. Ich sehe es in meiner Hand und dann in Leanders Brust. Wieder in meiner Hand. Rot. Dann in seinem Bauch. Er sackt weg. Seltsam verrenkt. Als ich genau hinsehe, steckt es seitlich im dünnen Hals. Er sieht mich an mit den Augen des kleinen Leander auf dem Bahnsteig. Dankbar, dass ich bei ihm bin und ihn festhalte. Es gurgelt aus seinem Mund. Dann formen seine Lippen ein schwaches Lächeln, ein Wort. Ich kann es nicht hören. Das Leben verlässt ihn und jemand drückt mich auf den Boden.

Unbekanntes Datum

Weinen. Das ist es, was ich den halben Tag tue. Kann mich einfach nicht dagegen wehren; ab und zu mit den Fäusten gegen die Wände hämmern oder dagegentreten. So viele Gesichter in meinem Kopf. Meine Frau, tot und blutend im zertrümmerten Fahrzeug. Richard, vielleicht kein Freund, aber ein treuer Wegbegleiter. Marion, die ruhige Frontex-Offizierin. Françoise, die lebenslustige, ihren Emile vermissende Bäckersfrau. Die Frau, die geopfert wurde, um den Menschen weiszumachen, wie sehr das Abendland vom Islamismus bedroht sei. Und der, dem ich stets verhasst ein Dorn im Auge war. Schließlich mein kleiner Bruder Leander. Von ihm sehe ich nur das Gesicht des Siebenjährigen, voller Angst. Sein erfülltes Lächeln in der Sekunde seines Verwehens. Was hatte er gesehen? Ihn und mich auf der Wiese vor dem Haus? Im Schwimmbad mit einer Cola und Pommes Frites? Lachend vor dem Fernseher bei Laurel & Hardy? Ich glaube, ich weine wegen aller Gesichter, aller Leben, aber vor allem aufgrund der verlorenen Zeit. Sie ist einfach weg. Nichts bringt sie zurück. Überall habe ich Spuren hinterlassen, die der Sand schon lange wieder zugeweht hat. Und jetzt?

Jetzt sitze ich in diesem Gefängnis. Ein schönes Gefängnis. Wie eine kleine Wohnung. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Luxuriös ausgestattet. Einmal am Tag kommt ein Mann, bringt Essen, eine Zeitschrift, ein Buch. Fenster gibt es nicht, dafür ein wandgroßer Bildschirm, der mir Tag und Nacht zeigt, Morgendämmerung, Abendrot, grüne Wiesen, bewaldete Hügel. Landschaft aus dem Prozessor. Lediglich die Uhrzeit kenne ich. Fünf Tage sind vergangen. Selbst wenn ich wollte, könnte ich mich nicht umbringen. Während ich esse, sitzt der Kerl mir gegenüber und liest in der Bibel. Alleine das ist schon Strafe genug. Meine Fragen und Provokationen lässt er unbeantwortet. Vielleicht haben sie ihm die Zunge herausgeschnitten. Trotz allem ist er stets wachsam. Es ist sicher nicht ratsam, ihn überrumpeln zu wollen. Vor allem vermute ich hinter jedem Gemälde, in jeder Lampe Kamera und Mikrofon. Selbst auf der Marmor-Toilette.

Kein Besteck, kein Geschirr, kein Gürtel, keine Schnürsenkel, Bettlaken aufgenäht, noch nicht mal Steckdosen. Für Selbstmörder denkbar ungeeignet. Es muss der zehnte oder elfte Tag sein, als das Türschloss außerhalb der regulären Zeit summt. Ein Mann kommt herein. Es ist mein Bruder! Das letzte Mal, dass ich an meinem Verstand zweifelte, war vor 35 Jahren, als ich während einer nächtlichen Alkoholfahrt zahllosen Dobermännern und Doggen ausgewichen bin und im Straßengraben endete, aber niemand sonst die Hunde gesehen hat. Kurz vor meinem ersten Entzug. Der Stift fällt aus meiner Hand, das Tablet mit dem Kreuzworträtsel sinkt auf den Tisch. Mein Bruder kommt näher. Seine Gesichtszüge sind angespannt und er hat viel mehr Haare auf dem Kopf.
»Hallo, Vater«, sagt er. Ich will aufspringen.

»Ich werde nicht näherkommen und du wirst dich mir nicht nähern«, betont der Mann, der aussieht, wie mein Bruder, aber mein Sohn ist. Meine Hände zittern. Falsch. Alles an mir zittert. Ich bin das Epizentrum eines Bebens. Ein dunkler Vorhang schwebt vorbei, eine kurze Ohnmacht, kaum einen Atemzug lang. »Marc …« Er setzt sich an die gegenüberliegende Stirnseite des Tischs und zieht eine Fernbedienung aus der Tasche. »Marc …«, wiederhole ich wie hypnotisiert. Ich muss diesen Namen aussprechen. So viele Jahre habe ich ihn aus meinem Wortschatz verbannt, sogar aus meinen Gedanken. Kein Foto hat mich auf dieses Gesicht vorbereitet. Vierzig Jahre sind vergangen, seit dem ersten Schrei in den Armen seiner Mutter. Siebzehn Jahre später hatte er sich verabschiedet. Nach dem siebzehnjährigen Gesicht krame ich in meinen Erinnerungen. Mir gegenüber sitzt mein Bruder. Marc und Leander gleichen sich fast wie ein Ei dem anderen.

»Wir sind dir zu Dank verpflichtet … ich bin dir zu Dank verpflichtet«, sagt er mit einer mir unbekannten Stimme. So dunkel und voluminös. Nicht die eines Pubertierenden.
»Zu Dank verpflichtet?« Er nickt und drückt einen Knopf auf der Fernbedienung. Die ganze Wand wird zu einem Friedhof. Ilkenrath. Die Beerdigung des Leander Meissner im Grab seiner Eltern. Irgendein TV-Sender überträgt die Prozession, kommentiert, blendet die Tat ein. Da bin ich, der Bruder des Präsidenten steht da. Mit einem Messer in der Hand. Dann steckt es in Leanders Brust. Etwas trifft mich. Ich blute? Breche zusammen? Was passiert da? Sicherheitsleute haben den Mörder des Präsidenten erschossen. ‚Kain tötet Abel‘ steht da tatsächlich. Der Neid des Alkoholbruders trieb ihn zu dieser Tat, viele Entzüge gemacht, aber der Satan Alkohol hat Besitz von ihm ergriffen.
»Du bist natürlich nicht tot«, flüstert Marc. »Es ist lediglich ein Deep Fake.« Wieder ein Bildwechsel. Die Menschen weinen. Überall in Europa, so die Kommentatorinnen und Kommentatoren aus europäischen Hauptstädten. Bilder aus Paris, Rom, Prag … ich bin eine Berühmtheit. Und außerdem tot.
»Marc …«, ein erneuter Versuch. Er zeigt mit der Fernbedienung auf die Bildschirmwand.
»Sieh hin, Vater. Das Wichtigste kommt jetzt.« Da ist wieder der Friedhof in Ilkenrath, die Kapelle. Und eine unglaubliche Menge an Menschen. »Das sind alles Pilger, die zu Onkel Leanders Grab wollen«, erklärt er. »Wir haben extra Busse organisiert. Sie kommen von überall«, berichtet er. Da ist nicht wenig Stolz in seiner Stimme. Der Morgen des drittenTages nach der Beerdigung des Präsidenten, sagt eine weibliche Stimme. Der Strom der Menschen sei ungebrochen. Zwei Frauen kommen schreiend aus der Kapelle gerannt, dann drei Männer. Ein paar Reporter rennen zur Tür, zwei Kameras. Jemand stolpert unbeholfen aus dem Eingang und alle weichen zurück. Dieser Jemand ist nicht gerade gut gekleidet, eher wie ein Lumpensammler. Dann zoomt die Kamera heran. Das ist …
»Das bist du! Du bist da aus der Kapelle gekommen, Marc! Warum?!«
Er lächelt schmal und schaltet aus. Die Stille ist unheimlich. Nichts als sein Lächeln. Das irgendwohin geht. Weder zu mir noch zu sich selbst. Er muss an etwas denken. »Denkst du an Mutter?«, will ich wissen. Denn ich denke in diesem Moment an meine Frau. Das holt ihn zurück und ich sehe den Blick, der mich traf, als er siebzehnjährig ihre tote Hand im Krankenhaus hielt. Ein Blick ohne Vergebung. Ewige Schuld. Es war der letzte Moment unserer gemeinsamen Zeit. Er steht auf, steckt die Fernbedienung ein und hebt den rechten Zeigefinger.
»Sprich nie wieder in meiner Gegenwart von ihr. Erwähne niemals das Wort, wenn ich anwesend bin.« Mit keiner Silbe traue ich mich das zu sagen, was ich mir so lange zurechtgelegt habe. Alles wäre zwecklos. »Du hast deinem Onkel, mir und unserer Vision geholfen. Mehr oder weniger freiwillig. Trotz deiner Morde wirst du am Leben bleiben …«
»Marc! Was habe ich da gerade gesehen? Wenigstens zu einer kurzen Erklärung könntest du dich aufraffen …«
»Ich habe dich nie für dumm gehalten. Verstehst du das wirklich nicht?« Er setzt sich wieder.
»Nein, nicht ansatzweise. Man hat mich an der Nase herumgeführt. Das steht fest.« Marc stellt die Ellenbogen auf den Tisch, legt den Kopf auf Daumen, kreuzt die Finger vor dem Mund.
»Dein Bruder, mein Onkel, war für die Menschen wichtig. Er war so was wie ein religiöser Anführer. Ein Licht. Aber der Krebs …«, seine Stimme bricht ein. Er trauert um ihn. »Seit vielen Jahren bin ich Direktor von Charis und hatte Zeit, diese Idee zu entwickeln.« Marc sieht mich an. Fixiert meine Augen. Die Verachtung bricht wie eine Steinlawine aus ihm heraus, trifft mein Herz schonungslos.
»Der Messias ist tot. Es lebe der Messias. Nach drei Tagen kehrt er zurück. Das Grab des Herrn ist leer. Er ist wiederauferstanden. Ich bin Leander! Verstehst du?« Sprachlos wie ich bin, kann ich nur den Kopf schütteln. Wie Sand rieselt das Perfide dieser Idee in mein Bewusstsein.
»Die Menschen sind außer sich«, schildert er. »Überall. Sie denken, nein, sie glauben, sie wissen, die Zeit der Erlösung ist endlich angebrochen. Wir sind die Hoffnung. Unsere Umfragewerte steigen in astronomische Höhen. In zwei Monaten sind Wahlen. Es wird einen Erdrutschsieg geben. Absolute Mehrheit. Genau das, was wir brauchen, um die Verfassung anzupassen, um endlich unsere Vision umzusetzen …« In dieser Sekunde sehe ich meinen Sohn. Die Begeisterung für eine Sache. Sogar seine Stimme erkenne ich wieder.
»Marc …« Erneut steht er auf. Seine Gesichtszüge sind wieder eingefroren.
»Ich gehe jetzt. Morgen bringen dich meine Leute nach Norwegen …«
»Um zu sterben?«
Er schüttelt den Kopf. »Im Gegenteil. Ich weiß nicht, wie lange du noch lebst, hoffe aber noch sehr lange. Das wird deine Strafe sein. Du wirst in einem angenehmen, aber einsamen Haus wohnen. Es ist schön dort.« Er dreht sich um, geht zügig zur Tür.
»Marc?«
Abrupt bleibt er stehen, ohne herzusehen. Seine Schultern heben und senken sich deutlich. Ich höre ihn atmen. »Ich liebe dich.«

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