Charis 2 | Für immer

Samstag, 1. August 2037

Im Schlafzimmer schließe ich den Rollladen, lasse die Kleider dort liegen, wo ich sie ausziehe und spüre einen Sog aus Erinnerungen kommen. Soll ich noch lektorieren? Oder Musik hören? Was kann ich tun, um dem auszuweichen? Das Leben hier hat mich gut behütet. Canard hat es mir verdorben! Ein Schlag auf den Lichtschalter und es ist dunkel. Nur die Notleuchte in der Steckdose lässt mich ein paar Umrisse erkennen. Die Klimaanlage steht auf 22 Grad. Ihr Luftstrom streicht über mich hinweg. Langsam lege ich mich aufs Bett. Die Schachtel fällt mir ein. Eine völlig vergilbte Schuhschachtel, sicher schon vierzig Jahre alt. Voller Fotos und Postkarten. Analoge Erinnerungen. Wie Madame Colombiers Bild ihres Mannes. Noch nicht mal ein Staubkorn in dieser Welt. Soll ich die Bilder ansehen? Ich entscheide mich dagegen und wechsle in einen unruhigen Schlaf.

Die Nacht war kurz und voller grauenhafter Träume. Ich auf der Suche nach meinem Sohn. Sehen konnte ich sein Gesicht immer, aber so weit weg, dass mein Ruf verhallte. Das Kissen ist schweißgebadet. Ich ziehe den Bezug ab und stecke ihn mit dem Kissen zusammen in die Waschmaschine. Da ist ein fader Geschmack in meinem Mund nach verlorenen Lebensjahren. Leicht schwankend gehe ich ins Bad, dusche und lasse mich von der Raumtemperatur trocknen. Dann der Spiegel. Grauer Vier-Tage-Bart, eine Menge Falten auf braun gegerbter Haut. Die Augen ohne Glanz. Und so soll ich Madame Colombier begegnen? Rasier dich! Mach dich fein! Freu dich auf Abwechslung! Der Kommunikator summt. Seufzend gehe ich ins Schlafzimmer. Er liegt auf der Fensterbank. Ich aktiviere nur Audio.
»Hallo? Monsieur Bernheimer?«
»Ja. Und wer sind Sie?«
»Warum schalten Sie kein Video dazu?«
»Weil ich nackt bin.«
»Oh, tut mir leid. Hier ist Monsieur Guerlaine. Erinnern Sie sich noch an mich?«
»Wie könnte ich Sie vergessen.«
»Haben Sie es sich überlegt?«
»Sie sind ein Arschloch.« Ich beende die Verbindung und drehe mich um. Es summt wieder. Das ist doch nicht zu fassen! Mit dem Daumen aktiviere ich wieder Audio. »Ja?«
»Warum haben Sie aufgelegt?«
»Es gibt keinen Guerlaine in der Präfektur. Noch nicht mal der Hauch eines Planes existiert dort für eine touristische Erschließung. So, und was jetzt?«
Er ist für zwei Sekunden still.
»Na gut, ich habe Sie etwas angeschwindelt. Ich bin ein freier Investor und dachte mir, wenn ich gleich mit der Tür ins Haus falle, hören Sie mich gar nicht erst an. Klar, hätte ich damit rechnen müssen, dass Sie bei der Präfektur anrufen. Tut mir leid, Monsieur Bernheimer. Dumm von mir …«, wieder eine kleine Pause. »Können wir uns trotzdem noch einmal treffen?«
»Nein. Wenn Sie noch einmal anrufen oder hierherkommen, werde ich ungemütlich! Leben Sie wohl!« Ich beende wieder und setze die Nummer auf den Filter.

Es ist schon gegen elf Uhr, als ich endlich den ersten Milchkaffee zubereite und ein Müsli aus Hafer, Rosinen und frischem Obst mache. Die Nice-Matin von vorgestern liegt immer noch auf dem Tisch und ich versuche auf dem Foto meines Bruders eine Besonderheit zu entdecken, vielleicht einen grausamen Zug um seine Mundwinkel, denn laut Canard ist er so was wie ein Monster. Im Artikel steht, dass der Präsident der EU die Reise nach Russland angetreten hat, um die Beziehungen wieder etwas aufzubessern. Aha, offenbar sind die Beziehungen zu Russland schlecht. Wie soll ich mich da nur wieder zurechtfinden? Während ich früher jede Nachricht aufsog und genauestens über die Welt Bescheid wusste, hat mein Interesse nach dem Tod meiner Frau und der abrupten Trennung von meinem Sohn so stark nachgelassen, dass ich mich Robinson auf der Insel sehr nahe fühle. Es machte einfach keinen Sinn, all diese Dinge zu wissen. Und im Laufe der Jahre trat Gewöhnung ein. Eine Eigenschaft, die ich früher an anderen Menschen verdammte. Und was ist nun mit ihm? Meinem Bruder? Ich lege den Löffel auf Seite und meine Hand aufs Bild. Jahrzehnte sind zwischen uns. Die Gefühle nur noch Schatten von alten Möbeln auf noch älteren Teppichen. Ich schüttle die Gedanken ab und mache mich an den Teig für die Flammkuchen.

Gegen halb sechs bin ich fertig mit allem. Der Teig ruht seit einigen Stunden im Kühlschrank. Dazu gibt es Tomatenscheiben mit Mozzarella und Basilikum. Speck und Knoblauch für den Belag, dünne Lauchringe, gehackte Habaneros. Der Backofen hat Temperatur. Jetzt fehlt nur noch Madame Colombier. Ich schnappe nach der Chipkarte für den Wagen. Es ist sehr warm, aber immerhin eine trockene Wärme. Etwas Wind aus dem Norden macht es erträglich. Ich fahre los. Knapp 20 Minuten nach Castellane. Die Klimaanlage bleibt deaktiviert, lieber mit offenem Verdeck unterwegs sein. Der Elektromotor schnurrt beruhigend und der abendliche Duft von Kiefern und Pinien liegt schwer im Talgrund. Dazwischen immer wieder wilder Rosmarin und Thymian. Dieser typische, spätsommerliche Geruch, den ich so liebe an dieser Landschaft. Madame Colombier wird sicher schon warten.

In der Nähe des Marktes finde ich einen Parkplatz. Rechts neben der Bäckerei ist die Haustür. Durch ein kleines Fenster mit Windkreuz spähe ich ins Innere. Ein dunkler Flur, kaum was zu sehen. Die Turmuhr der Kirche zeigt eine Minute vor sechs, also warten und den Menschen auf dem kleinen Platz zusehen. Ein paar Touristen, zwei oder drei Familien, ein spielender Hund. Der Brunnen plätschert vor sich hin. So habe ich es in Erinnerung, dieses kleine, abgelegene Städtchen. Als ich vor mehr als vierzig Jahren mit dem Motorrad während eines Urlaubs staunend durch die Verdon-Schlucht fuhr und Castellane erreichte, habe ich mich sofort in diese Gassen verliebt und mich möglicherweise unbewusst entschlossen, hierher zu ziehen, wiederzukommen. Es ist mir gelungen. In diesem Moment schlägt die Kirche die sechs Uhr an. Zeit zu klingeln. Nach einer kurzen Weile geht das Licht an und Madame Colombier öffnet die Tür.
Ich bin angenehm überrascht. Sie hat sich fein gemacht. Ihr Lächeln strahlt mir entgegen und im warmen Abendlicht kommt ihr orangefarbenes Kleid richtig zur Geltung. Ich finde sie umwerfend und breite die Hände vor ihr aus. »Madame Colombier … wenn ich nicht wüsste, dass die Sonne links von mir ist, würde ich meinen, sie stünde vor mir.« Sie hält inne und sieht mich erst überrascht an, bevor heftiges Lachen aus ihr heraussprudelt.
»Monsieur Bernheimer …«, gluckst sie. »Sie überraschen mich immer wieder. Ich habe gar nicht geahnt, dass Sie so ein Charmeur sein können.«
»Das war ich auch schon lange nicht mehr, ein Charmeur. Aber es fällt mir nicht schwer.«
Sie grinst, schließt die Tür ab und nimmt meinen Unterarm. »Gehen wir. Ich habe Hunger.«
»Aber gerne.«
In einer Hand hat sie eine Stofftasche, die offenbar einiges wiegt. »Was haben Sie denn in der Tasche? Darf ich sie Ihnen abnehmen?« Sie blickt zu mir hoch. Zum ersten Mal wird mir richtig bewusst, dass sie mehr als einen Kopf kleiner ist als ich.
»Natürlich«, sagt sie und reicht mir die Tasche, »aber was drin ist, verrate ich nicht. Das wird eine Überraschung.« Als wir beim Auto ankommen, frischt der Wind plötzlich auf. Es ist zu spüren, wie er eine Abkühlung mit sich bringt. Madame Colombier zieht unwillkürlich die Luft in ihre Nase und stößt sie wieder aus. »Ah, das riecht nach Mistral … aber den gibt es ja gar nicht mehr.« Für einen kurzen Moment legt sich ein trauriger Ausdruck auf ihr Gesicht.
»Kommen Sie! Steigen wir ein.« Ich öffne die Tür, warte geduldig, bis sie sitzt, angeschnallt ist und klemme mich hinters Lenkrad. Wir fahren nach Le Bourguet.

Es ist schon gegen neun Uhr, als ich den letzten Flammkuchen aus dem Ofen hole und auf den Tisch stelle. Mit dem Rollmesser zerteile ich ihn in kleine Stücke und setze mich wieder.
»Darf ich noch etwas Rotwein einschenken?«
»Oh ja, sehr gerne. Sie haben mir noch gar nicht gesagt, woher Sie diesen feinen Wein haben?« Sie hebt ihr Glas und ich gieße es halbvoll. Mit einer eleganten Bewegung hält sie den Wein vor die Lampe über dem Tisch und dreht ihn hin und her. »Eine interessante Farbe. Tiefrot und doch irgendwie durchsichtig. Er schmeckt ganz köstlich. Ist es ein Languedoc?«
»Nein, und wenn ich es Ihnen sage, werden Sie mir kaum glauben.«
»Jetzt machen Sie mich aber neugierig.«
»Es ist ein Dornfelder, ein Wein aus Deutschland.«
Sie nimmt einen tiefen Schluck, schwenkt ihn ein paar Mal im Mund hin und her und schmatzt genüsslich beim Schlucken. »Alle Achtung. Der Winzer versteht etwas von seiner Arbeit. Jetzt haben Sie mich schon wieder überrascht. Das man in Deutschland so guten Wein machen kann, hätte ich nicht gedacht.«
»Der Wein wächst ja schon in Schweden und Norwegen.«
»Ja, das schon, aber zwischen dem Wachsen der Rebe und dem fertigen Produkt, liegt ja noch viel an Erfahrung und Können. Das beherrscht man nicht einfach so.«
»Das ist richtig.«
Sie setzt das Glas ab und nimmt ein weiteres Stück vom Flammkuchen. »Und Ihr Flammkuchen, Monsieur Bernheimer, der ist einfach wundervoll. Meinen größten Respekt vor Ihren Kochkünsten.«
»Vielen Dank.«
»Mir ist aufgefallen, dass ich den Flammkuchen mit Speck ganz alleine gegessen habe. Essen Sie kein Fleisch?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein. Ich bin seit über zwanzig Jahren Vegetarier.« Madame Colombier zieht die Augenbrauen hoch.
»Seit über zwanzig Jahren? Und warum, wenn ich fragen darf?«
»Aber ja, sicher dürfen Sie fragen. Ich bin gegen das Töten der Tiere. Ich bin gegen die Massentierhaltung, die Tiermassentransporte …«
»Ah, Sie sind ein Idealist, Monsieur Bernheimer.«
»… Tierfutter aus Tiermehl, den Masseneinsatz von Antibiotika, die Verschwendung von Ackerfläche für Tierfutter.« Ich trinke einen Schluck Wein. »Ein Idealist war ich früher. Das ist schon lange vorbei. Idealismus ist wie die Spanische Grippe. Entweder man überwindet sie oder stirbt daran.«
Madame Colombier steht auf.
»Oh, habe ich Sie irgendwie verletzt?«
»Aber nein, nein!« Sie lächelt. »Mir scheint, unser Gespräch geht langsam in die Tiefe. Lassen Sie uns draußen auf der Bank weiterreden. Nehmen Sie den Wein mit und … wäre es zu frech, wenn ich Sie um einen Pullover bitten würde?«
»Warten Sie einen Augenblick …«
Ich gehe nach oben, um einen Pullover aus dem Schrank zu nehmen als der Kommunikator summt. Unentschlossen, ob ich nun dran gehen soll oder nicht, vergehen einige Sekunden. Schließlich nehme ich den Anruf an.
»Bernheimer.«
Nur die weibliche Stimme des Operators, die mir mitteilt, dass der Anrufer schon wieder aufgelegt hat, sie mir aber die Nummer übermitteln wird, damit ich zurückrufen kann. Auf dem Display erscheint aber keine Nummer. Stattdessen meldet sich erneut die Operatorstimme mit einer Entschuldigung, dass die Nummernübertragung aus einem unbekannten Grund abgebrochen wurde. Ich lege auf und setze mich aufs Bett. Tja, wer war das jetzt? War das nun jemand von Canards Kollegen? Oder von der Gegenseite? Vielleicht tatsächlich nur verwählt, aber die Möglichkeit zur Unterdrückung der Rufnummer hat niemand, außer die Provider. Also bleiben doch nur die ersten beiden Möglichkeiten. Ich beschließe, es gelassen zu sehen und gehe wieder nach unten.

Madame Colombier war fleißig, hat Wein, Gläser und die Reste des Flammkuchens nach draußen getragen. Sie sitzt bereits auf der Bank und ich lege den Pullover neben sie.
»Entschuldigen Sie, dass es etwas länger gedauert hat. Es kam noch ein Anruf. Hier, bitte …«
»Das macht doch nichts. Vielen Dank.« Sie zieht ihn über, streicht die Ärmel glatt. »Der ist flauschig. Und die Farbe passt zu meinem Kleid, finden Sie nicht?«
Ich sehe sie an. Selbst im Halbdunkel ist das intensive Gelb zu sehen. Es passt perfekt zu dem Kleid. »Ich muss gestehen, dass ich nicht an eine passende Farbe gedacht habe, als ich ihn aus dem Schrank holte. Er lag einfach oben auf …«
»Männer …«, sagt sie lachend.
»Darf ich mich neben Sie setzen?«
»Aber natürlich, es ist ja Platz genug.«
Ich nehme vorsichtig auf der Holzbank Platz, darauf bedacht, einen gewissen Abstand zu halten. Sie hebt das Glas und toastet mir zu. »Monsieur Bernheimer, wenn wir schon Seite an Seite vor Ihrem Haus sitzen und gemeinsam ein Fläschchen Wein trinken, sollten wir uns auch duzen, oder?«
»Sehr gerne, unbedingt«, stimme ich ihr zu. Wir sehen uns in die Augen, lassen die Gläser klingen und trinken einen großen Schluck. »Also, ich bin Frank.«
»Françoise.«
»Françoise … das erinnert mich an Françoise Sagan, Bonjour Tristesse, kennst Du das Buch?«
»Oh ja, ich habe es mit siebzehn gelesen und geradezu verschlungen. Genau in jener Zeit, in der die Neugier und die Lust erste ungeahnte Höhenflüge vollführten. Ich war wie im Rausch damals. Wie war es bei dir?«
»Mit 20 oder 21, glaube ich, das weiß ich nicht mehr so genau. Es lag auf dem Nachttisch meiner damaligen Freundin. Ich hab es aus Langeweile angefangen, aber dann in einem Rutsch durchgelesen. Die ganze Nacht hindurch.«
»Ich fand es ungemein energiegeladen. Die Sagan hat es mit 18 Jahren geschrieben. Das merkt man dem Buch an.«
»Wie ist eigentlich dein Mädchenname?«
Sie trinkt das Glas leer und sieht mich erstaunt an. »Du bist neugierig.«
»Ich würde gern wissen, ob er zu deinem Vornamen passt.«
»Carmille. Françoise Carmille.«
»Das klingt schön.«
Françoise beginnt zu lachen, hört gar nicht mehr auf. »Du bist ein komischer Kauz, Frank, wirklich.« Sie schaut auf den dunklen Weg gegenüber und reibt mit einem Finger entlang der Glaskante.
»Wie war er, dein Mann … dein Emile?«
»Tja, wie war er?« Sie wiegt den Kopf leicht hin und her. »Er war ein guter Mann, ein ganz lieber Mensch. Warmherzig, freundlich zu den Kindern die in die Bäckerei kamen, einen Lutscher oder ein Bonbon gab es immer …« Sie schweigt, als wollte sie lauschen, ob die würzig duftenden Pinien ihr noch etwas zuflüstern. »Wir hatten nie Kinder, Emile und ich. Es war nie Zeit dafür, es war sogar kaum Zeit für das, was man so gemeinhin eheliche Pflichten nennt. In der Früh um drei standen wir in der Backstube, Jahr für Jahr. Die wenigen Momente, die wir für uns hatten, waren wohl nicht genug, um Kinder in die Welt zu setzen. Natürlich haben wir uns auch Gedanken gemacht, ob nicht Emile keine Kinder zeugen kann oder ich keine bekommen. Aber immer, wenn wir uns entschlossen hatten, dies untersuchen zu lassen, kam uns etwas in die Quere. Emile war ein so verflixt guter Bäcker, dass er Baguettes für das halbe Departement buk. Zu großen Anlässen bestellte sogar der Präfekt bei uns. Ich war stolz auf Emile und bin es heute noch. Aber Kinder …«
»… hättest du schon gerne gehabt.«
»… hätte ich schon gerne gehabt«, nickt sie. »Jetzt ist es natürlich zu spät. Wie sollte eine 70jährige Frau noch Kinder bekommen?« Sie greift nach links und zieht ihre Tasche unter der Armlehne der Sitzbank hervor. »Das habe ich dir mitgebracht. Ein kleines Gastgeschenk. Ich würde mich freuen, wenn du es annehmen würdest.«
Ich nehme die Tasche und versuche etwas zu entdecken, aber es ist zu dunkel, also greife ich hinein. Etwas schweres. Vorsichtig hebe ich es raus und strecke es gegen das Küchenfenster. Eine Art Plastik. Das Material fühlt sich geschmeidig an. Es ist Kerzenwachs. Eine Figur aus Kerzenwachs. Ich stelle sie auf den kleinen Tisch.
»Toll, vielen Dank. Hast du sie geschnitzt?«
»Nein, mein Emile.«
»Aber … dann ist es doch eine Erinnerung an ihn. Warum schenkst du sie dann mir?«
»Ach, weißt du …«, sie seufzt, »wenn ich ehrlich bin, hat Emile fast wöchentlich eine von diesen Figuren geschnitzt. Nach dem Backen hat er die Restwärme des Ofens genutzt, um Kerzenwachs zu schmelzen. Die Leute aus der Gegend und die Pfarrer der Gemeinden brachten ihm ihre Kerzenreste und er packte sie in einen Stahlzylinder. Den legte er in den Ofen. Aus dieser Wachsstange hat er dann Figuren geschnitzt. Madonnen meist, die er dann wieder der Kirche gestiftet hat. Manche seiner Figuren wurden sogar geweiht. Die hier«, sie deutet auf mein Geschenk, »soll ich sein. Aber ich kann dich beruhigen. Es gibt mich fünfzig Mal. Die hier sieht mir aber am ähnlichsten, finde ich.«
Ich muss grinsen. »Hat sie einen Docht?« Françoise lacht laut los.
»Ihr Deutschen seid praktische Menschen, was? Nein, nein, sie hat keinen Docht. Sie ist nur …« Sie kann gar nicht mehr aufhören zu lachen und hält sich mit ihrer kleinen Hand an meinem Unterarm fest. »Luft …«, japst sie. Ich klopfe ihr leicht auf den Rücken. Françoise beruhigt sich. »… nur zum anschauen. Emile hat die Figuren nur zum Betrachten geschnitzt.«
Ich finde nicht, dass die Figur Ähnlichkeit mit Françoise hat, aber das Abstrahieren von bekannten Linien zu etwas Geschnitztem ist nicht mein Spezialgebiet. »Sie bekommt einen Ehrenplatz in meinem Schlafzimmer«, versichere ich Françoise.
»Oho, wenn das mein Emile wüsste …«
»Hatte dein Emile etwas gegen Deutsche?« Sie schaut mich verdutzt an.
»Ich weiß nicht. Für ihn standen die Unterschiede fest. Ein Deutscher ist ein Deutscher, ein Engländer ein Engländer und ein Franzose ein Franzose. Letztere waren ihm natürlich am liebsten. Emiles Großvater war im Widerstand. Ich nehme an, darüber muss ich dir nicht viel erzählen. Jedenfalls hielt er die jeweiligen Charaktereigenschaften für unumstößliche Wahrheiten. Bist du anderer Meinung?«
»Für mich hat das keine Bedeutung. Wenn es Unterschiede gibt, dann ob jemand ein Idiot ist oder nicht. Idioten gibt es überall. Typisch Engländer, typisch Deutscher und so weiter, da sind wir schnell bei Stereotypen. Kann ich nicht ausstehen, Stereotypen. Ich fühle mich hier zu Hause. Dort, wo es mir gefällt, ist meine Heimat.« Françoises Gesichtszüge spannen sich. Sie atmet tief ein.
»Was du sagst, klingt schön, aber unsere Wirklichkeit ist eine andere, oder?«
»Das sind gemachte Wirklichkeiten. Ergebnisse künstlich aufgeblasener Unterscheidungen. Zu gewissen Zeiten erzählen uns plötzlich seltsame Figuren, dass wir uns unterscheiden, zu unterscheiden haben, nur um eigene Ziele zu verfolgen. Egoisten und Machtbesessene sagen uns, wo unsere Unterschiede sind.« Françoise schweigt, schenkt sich nach und trinkt in einem Zug aus.
»Du hast recht«, sagt sie dann. »Aber das ist die Ebene darunter, nicht die Lebenswirklichkeit um uns herum. Du bist ein idealist.«
»Mein Idealismus ist gestorben, glaub mir. Ich werde auch nicht mehr wütend, weil ich die Welt seit mehr als zwei Jahrzehnten links liegen lasse. Ich möchte nur noch hier leben und auch hier sterben. Wer weiß, wie viele Jahre mir noch bleiben. Hier ist meine Heimat. Hier fühle ich mich wohl.« Ich nehme die Weinflasche und deute auf ihr Glas.
»Noch einen Schluck?«
»Ja, bitte.« Ich schenke ihr nach und kippe den Rest in mein Glas. »Du klingst verbittert. Was ich von dir sehe, ist nur die Oberfläche, das was du mir erlaubst zu sehen. Muss ich mich vor dem Rest fürchten?«
»Nein, schon lange muss sich niemand mehr vor mir fürchten«, stelle ich klar und überlege, ob das auch stimmt, angesichts Canards Besuch.
»Hast du Familie?«, fragt sie mich unvermittelt. Die Sekunde meines Zögerns lässt ihre Augen aufblitzen. Unmöglich, jetzt zu lügen. Ich habe mich bereits verraten.
»Hab sie sozusagen verloren. Meine Frau ist gestorben. Mit ihrem Tod hat sich mein Sohn verabschiedet.«
»Warum?«
Ich lache auf. Ein unmögliches Lachen. Ich hasse es, so zu reagieren. »Er gibt mir die Schuld am Tod meiner Frau.« Françoise stellt das Glas ab. Langsam bewegt sich ihre Hand zu mir, landet auf meinem Unterarm.
»Hat er recht?« Erst nicke ich. Kaum merklich. Vielleicht gar nicht zu sehen im Halbdunkel. Die Wärme ihrer Hand ist ein Sog. Eine Berührung, die in mich dringt.
»Er hat recht.« Sie erwidert nichts. Die Hand auf meinem Arm hat Kraft genug, meine Mauern einzureißen. Françoise muss nur warten, das weiß sie.
»Sie mussten sich fürchten. Immer. Vor dem Alkohol. Mit Alkohol am Steuer. Bei dem Unfall starb sie. Aber … ich weiß, dass der Scheidungsanwalt die Papiere schon vorbereitet hatte.« Die Hand bleibt liegen. Mehr noch, Françoises Finger drücken etwas kräftiger als zuvor.
»Wie hast du damals dein Geld verdient?«
»Ich war Verleger, mein eigener Verlag. Ich bekam nach dem Unfall zwei Jahre auf Bewährung. Den Verlag habe ich verkauft. Seither arbeite ich als Lektor. Zwischendurch schreibe ich selbst das eine oder andere.«
»War dein Verlag erfolgreich?«
»Sehr erfolgreich.« Trotz des spärlichen Lichts, kann ich deutlich den überraschten Gesichtsausdruck erkennen.
»Warum dann der Alkohol?« Ich atme tief ein und aus, schiebe einen Seufzer nach. Françoise fordert mich. Die Kraft der Hand schwindet und ich spüre den Widerstand wachsen. Als würden meine Gedanken zu ihren, setzt sie sich aufrecht, zieht die Hand zurück. »Das ist vielleicht ein wenig zu viel für unseren ersten Abend, oder?«, legt sie nach. Ich bin ihr dankbar und brenne doch gleichzeitig darauf, sie wiederzusehen, meine Erinnerungen vor ihr auf dem Tisch auszubreiten. Wir schauen uns an und schweigen. Eine Tür öffnet sich, nur einen Spalt weit. Spärlich dringt Licht in den schwarzen Flur meines Abgrundes. Im ganzen Pantheon der Türen in uns, sind doch die meisten verschlossen. Verschlossen durch die Jahre, verschlossen durch Missverständnisse und Zerwürfnisse. Die Schlüssel weit von uns geschleudert. Und plötzlich wieder eine offene Tür? Wir sind misstrauisch. Misstrauen uns selbst und haben beide diese Erkenntnis.
»Ja, etwas zu viel«, wiederhole ich. »Es fällt mir schwer, darüber zu reden. »Möchtest du nach Hause?« Françoise nickt und legt erneut die Hand auf meinen Arm. Sanft. Ich genieße die kurze Berührung. Dann steht sie auf. Ich weiß, was sie fragen wird.
»Kannst du noch fahren?«
»Ja. Zur Sicherheit habe ich eine von diesen neuen alkoholreduzierenden Tabletten genommen.«
Wir tragen die Sachen ins Haus, ich verriegele die Haustür und fahr Françoise nach Hause. Der Abschied ist kurz, ein Dankeschön … und Angst. Bei ihr und mir. In Gedanken versunken, mache ich mich auf den Heimweg. Obwohl niemand den anderen verletzt hat, stehen wir beide gleichzeitig vor dieser inneren Tür. Wir können sie nicht aufstoßen. Ich beschließe, sie wieder einzuladen, um mit ihr darüber zu reden. Dieser verdammte Canard! Er hat den Topf vom Deckel gehoben, diese Wunden wieder aufgerissen.
Als ich in Le Bourguet links abbiege, auf das Sträßchen hoch zum Pass, meine ich, den Renault von Guerlaine auf einem kleinen Parkplatz erkannt zu haben. Ich stoppe, setze zurück und versuche zu erkennen, was unterhalb für Fahrzeugtypen stehen. Da ist kein Renault. Ich schüttle unwillkürlich den Kopf. Leide ich jetzt schon an Paranoia? Ich mache, dass ich nach Hause komme.

Sonntag, 2. August 2037

Von Le Bourguet her höre ich die kleine Kirche läuten. Nachdem ich geduscht, aufgeräumt und gespült habe, setze ich mich mit dem Tablet nach draußen. Noch ist es recht angenehm. Ich trinke zwei, drei Schluck Milchkaffee, trenne das Gerät vom Router, indem ich den Netzadapter deaktiviere. Dann schiebe ich Canards Datenstick in die dafür vorgesehene Öffnung. Ein Programm wird aktiviert. Die Oberfläche ist weiß und nur ein Wort steht dort: Instruktionen. Ich tippe mit dem Finger auf das Wort. Es startet neu; offenbar ein neues Betriebssystem. Allerlei Konsolenbefehle tauchen für Millisekunden auf und verschwinden wieder. Dann begrüßt mich ein schwarzer Bildschirm mit wiederum nur einem Wort: Willkommen.
Ich tippte auf Willkommen. Es folgt ein kleiner Einführungstext. Darin steht in etwa, dass dieses Betriebssystem ein Linux-Derivat wäre, es meinen Flash-Speicher geleert hat und alles in ein gepacktes File abgelegt wurde. Das Derivat registriert, dass der Netzwerkadapter deaktiviert ist und stellt seinen Zustand wieder her, allerdings in einer virtuellen Umgebung, die ihm vorgaukelt, noch unter dem alten Betriebssystem zu laufen. Wenn ich mit der Sitzung fertig bin, sollte ein Neustart den alten Status quo wiederherstellen — so die Erläuterung. Um an das Derivat zu kommen, ist es nötig, ein Passwort in Kombination mit meinem Fingerabdruck einzugeben. Das Passwort ist *C§h!A$r7i#S&. Lasse ich mal Zahlen und Sonderzeichen weg, steht da ChAriS. Charis … das habe ich schon irgendwo gelesen.

Ich bin beeindruckt. Irgendwie knackt dieses Derivat die Zugangsdaten meiner Kommunikationsaccounts und richtet sie für eine virtuelle Umgebung ein. Schlussendlich zwackt es wohl vom Flash-Speicher eine Ecke ab und nistet sich dort dauerhaft ein, markiert aber den Speicher als unbelegt. Also kann ich nun den Speicherstick entfernen und auflösen. Ich nehme ihn aus der Buchse und gehe in die Küche. In eine Müslischale fülle ich weißen Balsamico-Essig und lege den Stick hinein; und tatsächlich … nach einer Minute beginnt er sich langsam und komplett aufzulösen. Weiß der Henker, wie das funktioniert.
Wieder draußen, muss ich zu meiner Überraschung feststellen, dass dieses Derivat den Rechner gesperrt hat. Es verlangt meinen rechten Ringfinger auf dem Scannerfeld und akzeptiert ihn. Ich bin baff. Woher haben diese Leute den Abdruck meines rechten Ringfingers? Soll ich jetzt Angst bekommen? Als hätte ich jahrelang in einem kleinen Käfig in irgendeinem Zoo gelebt. Jeder kann mich offenbar nach Herzenslust beobachten. Canard fällt mir ein … und das Glas! Er hat das verdammte Glas verwendet, um an meine Fingerabdrücke zu kommen! In was für einen Film bin ich hier geraten? Höchste Zeit mehr darüber herauszufinden.
Auf dem Bildschirm stehen mehrere Menüpunkte. Die ‚Infos zur Terminierung‘ nehme ich mir als erstes vor. Aber im Prinzip steht da lediglich, dass ich — um eine vollständige Datenlöschung auszulösen — meinen Ringfinger auf das Scannerfeld legen und zweimal das Escape-Zeichen auf dem Display antippen muss. Das kann ich mir merken. Ich lehne mich zurück und atme einige Male tief durch. Ein Gefühl von beobachtet werden stellt sich ein. Ich werde unruhig. Es könnten ja Satelliten über mir sein! Warum auch immer … ich beschließe, im Haus weiterzumachen, stehe auf, schaue mich um und gehe hinein. Die Tür verriegele ich. In diesem Augenblick empfinde ich das Alleinsein als unerträglich. Mir fehlt eine vertraute Person. Françoise fällt mir ein. Aber ich verwerfe den Gedanken gleich wieder. Es wäre unverantwortlich von mir, sie da hineinzuziehen.
Ich gehe die Treppe hoch ins Arbeitszimmer und aktiviere den großen Rechner, um nach dem Netzwerk zu sehen. Das Tablet in meiner Hand wird erkannt als das, was es immer ist. Keine Info, dass hier ein Derivat die Herrschaft übernommen hat. Diese Leute verstehen etwas von ihrem Geschäft. Ich setze mich und tippe auf den nächsten Menüpunkt. ‚Dossier Johannes Meissner alias Frank Bernheimer‘ ist er betitelt.

Geboren am 18. August 1971, Name des Vaters, Geburtsort, Name der Mutter mit Geburtsort, Werdegang beider Eltern als Option einblendbar, meine Schulkarriere, die vielen Umzüge mit korrekten Adressen und den Telefonnummern. Sogar Jugendstrafen sind vermerkt … na, wenn es wichtig ist. Zivildienst, Studium der Germanistik, gejobbt und durch die Gegend getingelt, dann die Familie … da steht einfach alles. Und natürlich dürfen die Abschlussberichte aus zwei Entziehungskliniken nicht fehlen. Mein Leben in verschiedenen Jobs mit Beurteilungen, Steuernummer, Rentenversicherungsnummer; bis in die Gegenwart ist der Inhalt des Dossiers perfekt. Das bin ich!
Kaltes Entsetzen packt mich. Existenzangst. Ich weiß noch nicht einmal vor was? Vor dem Umstand, dass es Menschen gibt, die absolut alles über mich wissen? Oder dass dieses Wissen mit ein bisschen Geschick für Technik ganz einfach zusammengetragen werden kann? Ich schiebe das Dossier zur Seite, schließe die Augen und atme durch. Vielleicht kann ich einen Ausweg finden …
Der dritte Menüpunkt ist wohl am interessantesten: ‚Dossier Leander Meissner‘! Dicke rote Schrift auf einem weißen Hintergrund. Das sticht hervor. Will ich das öffnen? Ich habe Angst, den Menüpunkt anzuwählen und ziehe den Finger zurück. Was werde ich erfahren? Die tatsächliche Wahrheit? Oder die Wahrheit jenes ominösen Widerstands? Zurechtgebogen, um mich auf ihre Seite zu ziehen? Und werde ich dann zu einer Zielscheibe für irgendwelche Organisationen? Aber was habe ich schon für eine Wahl. Sie wissen genug über mich, um auch meine Neugier zu kennen. Ich tippe auf den Menüpunkt.
Leander Meissner, geboren am 12. Dezember 1973, Eltern, Kindergarten, Schule, soweit ist mir das geläufig. Ich versuche mich zu erinnern, wann ich meinen Bruder genau aus den Augen verloren habe … nach dem Tod unserer Mutter, im August 1999. Die Beerdigung war der letzte Zeitpunkt, an dem wir länger miteinander redeten.

Ich lege das Tablet auf den Schreibtisch, gehe in die Küche und reiße die Schranktür auf, hinter der die Spirituosen stehen, greife nach dem Talisker. Ein ganzes Glas voll wird es. Mit einem Zug trinke ich es aus. Der harte, moorige Geschmack brennt Klarheit in mein Hirn. Noch einmal rieche ich ins Glas hinein, versucht, von der Köstlichkeit nachzuschenken. Nein! Nein, stell das Glas ab! Ich gehorche mir und stütze beide Hände auf die Arbeitsplatte, schau auf die Haut meiner Unterarme. Alt ist sie geworden. Falten drücken sich auf ihr herum. Warum ist alles schon so weit weg? Was will man von mir? Dass ich meinen Bruder töte? Welch unglaublicher Unsinn. Ich versuche mich aus der Lethargie zu reißen. Mit Selbstmitleid ist keinem gedient, mir am allerwenigsten. Ich fülle eine Karaffe mit Wasser und gehe wieder nach oben.

Leander Meissner, heute der zweite Präsident der Europäischen Union. Gewählt am 30. Januar 2033. Seit dem Jahr 2021 Vorsitzender der europaweit agierenden Partei Abendländische Erneuerung und außerdem Mitglied im Europäischen Parlament seit 2019. Die Abendländische Erneuerung … nicht, dass ich von dieser Partei nicht schon gehört hätte, aber mehr als der Name fällt mir dazu nicht ein. Obwohl er schon eine gewisse Deutung beinhaltet. Was weiß ich noch von damals? Mein Bruder studiert auf Lehramt. Geschichte und Sport, wenn mich nicht alles täuscht. Wird er Lehrer? Ich weiß es nicht … Ich bin damals schon zu weit weg, schwenke langsam auf eine Umlaufbahn um den Alkohol ein, denke trotzdem an Hochzeit. Mitten im Studium. Ich Idiot! Eines Tages kommt Mutter und erzählt mir, mein Bruder sei ein anderer Mensch, wie ausgewechselt. Sie merkt nicht, dass auch ich ein anderer Mensch geworden bin.

Ich lehne mich zurück, schließe die Augen. Langsam beginnen sich meine Erinnerungen wieder zu strukturieren. Details tauchen auf. Mitten im gedanklichen Sortieren spüre ich starken Drang auf die Toilette, deaktiviere das Tablet, stehe auf, schaue kurz aus dem Fenster auf den Hof, sehe aber nichts Ungewöhnliches und haste auf die Toilette. In diesem Moment meldet sich die Kommunikations-Software des Hauptrechners und kündigt eine Videoverbindung an.
»Moment!, rufe ich aus dem Bad, springe hoch. Spülen! Hände waschen! Schnell eile ich zum Bürotisch. »Verbindung herstellen.« In einem kleinen Fenster erscheint das Profil von Richard Aumann, für dessen Verlag ich die Lektorarbeiten erledige. Mit kräftigen Handbewegungen erteilt er einer nicht sichtbaren Person Anweisungen. Seine Stimme ist markant und herrisch wie immer. Dann dreht er sich zu mir.
»Johannes, wie schön dich zu sehen. Wie geht‘s?«
»Ich kann nicht klagen. Wie immer ist mir etwas zu warm, aber die meiste Hitze haben wir ja geschafft für dieses Jahr. Wie ist das Wetter in Berlin?«
»Grauenhaft heiß. Überflüssig zu erwähnen, dass du durchaus in der Lage wärst, dir ein Bild von unserem Wetter zu machen. Aber lassen wir das. Weswegen ich anrufe«, er beugt sich vor und hält ein dickes Bündel Papier in der Hand. »Deswegen rufe ich an. Ein Roman. Ich habe ihn tatsächlich komplett gelesen. Von Anfang an war ich fasziniert. Leider existiert er nur in Papierform. Aber das ist noch nicht alles.« Richard beugt sich noch weiter vor, die Kamera muss nachjustieren. Er wedelt mit dem Papierbündel. »Stell dir vor, der Autor hat ihn auf einer Schreibmaschine geschrieben. Schreibmaschine!«, schüttelt er den Kopf. »Du kennst das ja noch. Jedenfalls will ich ihn veröffentlichen und du sollst ihn lektorieren. Moni scannt ihn gerade und schickt dir die Datei. Ist das in Ordnung?«
Ich stülpe die Lippen nach außen. »Völlig in Ordnung. Es wird mal wieder Zeit für einen richtigen Roman. Kommt er als Buch raus? Oder als E-Book?«
»Je nach Papierpreisen erst mal als Buch. Nach der Messe in Leipzig als E-Book und Hörbuch. Ich habe übrigens mit unserer Technik gesprochen, wegen deines Anrufs. Unsere Mailserver arbeiten einwandfrei. Keine Ausfälle, Verluste oder Übergriffe in der letzten Zeit. War wohl einfach ein Knoten in der Leitung.«
»So wird’s gewesen sein.«
»Ich werde in den nächsten Tagen das Geld für die letzten drei Monate auf deine Bauernbank da unten überweisen.«
»Vielen Dank, Richard.«
»Übrigens habe ich vor, Weihnachten in Nizza zu verbringen. Du zeigst mir ein bisschen die Gegend da unten. Wir gehen gut essen, besuchen die eine oder andere Tabledance-Bar und lassen uns von den Mädchen verwöhnen. Wär das was?«
»Klingt gut. Das mit den Mädchen überlasse ich dir.« Er verdreht die Augen.
»Mensch, du Sauertopf! Seit Ewigkeiten telefonieren wir nur. Fast zehn Jahre haben wir uns nun nicht mehr persönlich gesehen. Triffst du dich überhaupt noch mit Menschen? Na, egal! Ich bin zwar so alt wie du, aber meine Eier funktionieren noch. Wie lange kennen wir uns schon? Du kannst doch nicht ewig deiner Frau nachhängen! Meinst du wirklich, sie hätte das gewollt?« Wenn Richard redet, ist es wie eine Invasion der Worte. Ich überlege einen Augenblick, ertappe mich dabei, dass ich mir gar nicht mehr genau vorstellen kann, was sie gewollt hätte.
»Nein, wahrscheinlich nicht, denke ich mal«, gebe ich lapidar zur Antwort. Er zieht die Kamera vors Gesicht. Das Nachjustieren kommt an die optische Grenze.
»Ich rate dir: Geh wieder unter Leute! Niemand hat was davon, wenn du ein Eigenbrötler bleibst. Am wenigsten du selbst. Irgendwann leidet deine Arbeit darunter. Dein Urteilsvermögen. Eines Tages lektorierst du nur noch Scheiße. Dann kann ich dir nichts mehr rüberschieben. Es ist in deinem eigenen Interesse.«
»Wahrscheinlich hast du recht.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, äfft er mich nach. Dann setzt er sich zurück und weiß wohl plötzlich nichts mehr zu sagen. Ihm fehlen die Worte und er schüttelt leicht den Kopf, was mich amüsiert. Mir fallen meine Kurzgeschichten ein.
»Richard?«
»Was gibt es noch?«
»Ich werde dir demnächst ein Manuskript mit zehn Kurzgeschichten schicken. ‚Das Buch vom Wahnsinn‘. Ich würde es als angenehm empfinden, wenn du es lesen und mir deine Meinung mitteilen könntest. Vielleicht passt es ja ins Programm.« Er presst die Lippen zusammen und nickt.
»Okay, Johannes. Eine Hand wäscht die andere. Ich werde sie lesen, deine Kurzgeschichten. Am liebsten wäre mir natürlich ein Roman. Schreib mal wieder einen Roman! Du kannst es doch! Mit einem guten Roman verdient man jedenfalls Geld. Kurzgeschichten … naja, aber gut, ich werde sie lesen.«
»Danke, Richard.«
»Schon gut«, er winkt ab, »aber wenn sie Schrott sind, lege ich mir damit die Winterschuhe aus.«
»Damit kann ich leben. Schick ich sie halt zum nächsten Verlag.«
»Oh Mann, du Träumer …« Er hebt die Hand zum Gruß und schaltet ab. Das Videofenster verschwindet vom Bildschirm.

Mir ist nicht klar, ob es ein Fehler war, über den Hauptrechner mit Richard zu telefonieren. Hätte ich das übers Tablet tun sollen? Aber letztendlich ist es mir egal. Nichtsdestotrotz nehme ich mir vor, die Mails nur noch über das mobile Gerät zu verwalten. Eine Weile denke ich über Richard nach. Er war es, dem ich meinen Verlag angeboten habe. Und er hat zugeschlagen. In einem Anfall von geistiger Weitsicht vereinbarten wir anstatt einer einmaligen Zahlung ein monatliches Salär. So hat er eine Menge Geld gespart, das er in Projekte stecken konnte, und ich vermied es, alles auf einmal in Alkohol umzusetzen. Manche der Autorinnen und Autoren waren zu dieser Zeit noch nicht so viel wert, aber Richard hat eine Nase dafür. Er unterstützte sie, verlieh auch mal Geld, schaffte sich eine außergewöhnliche Lektorentruppe an. Und setzte von Anbeginn auf Hörbücher, später Podcasts, E-Books. Das Geschäft entwickelte sich prächtig. Die Bestseller purzelten reihenweise aus dem Offset. Trotz dass Richard der einzige ist, mit dem ich noch Kontakt habe, ist er doch nie ein Freund geworden. Ein guter Bekannter, ein Kumpel, wie auch immer man das nennen möchte. Vielleicht meine Verbindung in die Vergangenheit. Zumindest bis zu einer gewissen Tiefe.

Ich seufze und habe das Gefühl aufstehen zu müssen. Mein Blick geht zur Uhr. Schon nach zwei Uhr am Nachmittag. Vielleicht ist es gut, einen Happen zu essen. Das Tablet in der Hand, gehe ich runter in die Küche. Vielleicht ein Omelette? Gerade als ich die Eier aus dem Kühlschrank nehmen will, höre ich draußen eine Autotür. Also die Eier wieder hinein. Was ist denn nur los in den letzten Tagen? Was habe ich getan, um meinen Frieden zu verlieren? Ich stöhne laut und schaue aus dem Fenster. Guerlaine! Er kommt auf die Haustür zu. Sofort werde ich wütend, räume den Sims frei und öffne das Küchenfenster. Die Hitze überwältigt mich, was mich noch wütender macht.
»Monsieur Guerlaine!«, schreie ich ihm entgegen. Er duckt sich fast unter der Lautstärke und kommt zögerlich auf meinen Kopf zu.
»Monsieur Bernheimer … ich weiß, bitte …«
»Habe ich nicht gesagt, Sie sollen sich nicht mehr blicken lassen?! Nicht mehr anrufen?! Keinen Brief, keine Mail, nichts! Ist das so schwer zu verstehen?!«
»Doch, doch, ich meine: Nein, das ist natürlich nicht schwer zu verstehen. Ich wollte mich doch bloß bei Ihnen entschuldigen …« Er steht jetzt vor dem kleinen Tisch und blickt zurück zum Renault, der an der Hofeinfahrt parkt. Als müsste er sich der Unterstützung des Fahrers vergewissern. Ganz klar ist eine Person auf dem Fahrersitz zu erkennen. Ob es dieselbe Person ist wie neulich, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Kurze Haare meine ich zumindest zu sehen.
»Keine Entschuldigung Guerlaine. Ich schließe jetzt das Fenster und mache mir ein Omelette. Wenn ich wieder aufstehe und Sie sind noch da, rufe ich die Gendarmerie.«
Fester als geplant, schließe ich das Fenster. Es gibt einen lauten Knall. Mein Hunger ist verschwunden. Also nehme ich eine Flasche Wasser, gehe nach oben und setze mich vor den Rechner. Wenn mein Bruder einen Trottel wie Guerlaine schickt, ist es um ihn schlecht bestellt. Jedenfalls rede ich mir das ein. Guerlaine ist sicherlich nicht mehr als ein Immobilienhai. Dazu noch ein ziemlich schlechter. Nicht abgeklärt, schnell aus der Fassung zu bringen. Nur eines bleibt wie eine Reißzwecke in meinem Kopf haften: Der Fahrer oder die Fahrerin. Etwas an der Art des Wartens, des ruhig Sitzens, hat mein Misstrauen geweckt. Guerlaine könnte einfach eine Marionette sein. Ein armseliger Lockvogel. Draußen fährt der Renault ziemlich forsch vom Hof. Die bin ich los. Nur für wie lange? Ich starre auf das Display des Rechners. Keine Nachrichten. Das analoge Uhrsymbol zeigt kurz vor drei. Wie kann ich mit Canard oder diesem Widerstand Kontakt aufnehmen? Ihnen mitteilen, was hier so passiert? Gar nicht, natürlich. Ich bin allein.

Mir kommt es vor, als wäre mein Leben auf eine besondere Weise zu Ende gegangen. Als wäre genau dieser Tag heute das Ende. Aber das Ende von was? Das Ende eines Traumes, einer Illusion? Zu viele Gedanken machen mir Angst. Immer wenn zu viele Gedanken kommen, lese ich ein Buch. Links auf dem Nachttisch liegt der Stapel Bücher, die ich noch lesen will. Das oberste ist ‚Der weiße Dampfer‘ von Aitmatow. Ein beeindruckender Schriftsteller. Sein Umgang mit Worten ist außergewöhnlich. Doch ich lege das Buch wieder zurück. Stattdessen greife ich unters Bett und hole die Schachtel mit den Fotos hervor, kippe sie auf der Matratze aus. Nichts als verblichene Ansichten aus der Vergangenheit. Kinderlachen, freche Schnuten, blitzende Augen, greifende Hände, gefrorene Bewegungen im Wald, am Strand, eingepackt in dicke Jacken, die Gesichter umschlossen von kleinen Kaspermützen aus Wolle, mit der behandschuhten Kinderhand Schnee auf den Fotografen schmeißend. In Zeitlupe ziehen die Erinnerungen vor meinem inneren Auge vorbei. Langsam werden die Bilder deutlicher, ein Riese hebt sie aus dem Nebel der Zeit, wischt sie sauber. Mein Blick fällt auf das kleine Tagebuch. Ich packe zu und werfe es gegenüber an die Wand. Woher die plötzliche Wut? Auf was? Auf das Warum? Es gibt kein Warum. Die Frage danach ist völlig sinnlos. Ich lege vorsichtig alle Fotos wieder in die Schachtel, bis auf ein Bild. Mein Sohn. Da muss er knapp zwei Jahre alt gewesen sein. Auf der Rückseite habe ich nichts vermerkt, aber ja, zwei Jahre ungefähr. Pures Glück. Intensive und bedingungslose Zuneigung. Liebe. Zumindest in den alkoholfreien Zeitfenstern. Was hatte Canard gesagt? Er will Leander und ich kann meinen Sohn retten? Vor was? Er ist jetzt vierzig Jahre alt. Wenn er jetzt noch nicht gerettet ist, was kann ich da noch machen? Vorsichtig stecke ich das Foto wieder in die Schachtel, mache den Deckel drauf und stelle sie unter das Bett.
Meinen Bruder töten! Idioten! Und ich soll meinen Sohn retten. Vor was? Ich habe keine Ahnung, was mein Bruder ihnen getan hat. Aber ich will es wissen. Aus irgendeinem Grund will ich es wissen. Ein Mörder werde ich nicht, aber wenn ich mich auf diese Sache einlasse, kann ich ihn warnen. Ihm sagen, was dieser Widerstand vorhat. So oder so komme ich nicht mehr aus der Sache raus. Beim Präsidenten der EU bin ich dann wohl sicherer aufgehoben als hier. Aber warum hat er Guerlaine geschickt? Ein Anruf genügt doch, ‚Hallo, hier das Büro des Präsidenten. Moment, ich verbinde …‘ Aber ja, es geht ihm genau wie mir. Er kennt mich nicht mehr. Misstraut mir vielleicht … Völlig erschöpft sinke ich zurück und falle in einen unruhigen Schlaf voller quälender Träume.

Montag, 3. August 2037

Aufwachen, noch vor den wenigen Vögeln da draußen. Dass es überhaupt noch welche gibt, bei diesen Temperaturen und der Insektenarmut. Das Licht des neuen Tages gibt sich Mühe, die Nacht zu vertreiben. Mein Kopf schmerzt auf unangenehme Art, von innen heraus, so habe ich jedenfalls den Eindruck. Die Bilder meiner Träume wollen sich nicht verziehen, selbst mit offenen Augen sehe ich sie direkt vor mir, fühle ihre Anwesenheit unmittelbar um mich herum. Voller ungestümer Angst springe ich aus dem Bett und versuche sie abzuschütteln. Beide Flügel der Balkontür sind offen. Lediglich das fast transparente Fliegengitter muss ich aufdrücken, um nach draußen zu gelangen. Dämmerung im Osten, die Nacht im Westen. Und tiefes Atmen. Das buschige Gelände mit den paar Bäumen liegt vor mir und zieht sich links den Hang hinauf, zu den schroffen Kalkfelsen. Den drohenden Schatten. Die Welt wartet. Auf was? Dass ich mich auf den Weg mache? Wohin? Bin ich jemals zur Ruhe gekommen? Nein. Nie wirklich. Aber die Würfel sind gefallen. Ich glaube, es gefällt mir sogar, unterwegs zu sein. War mein Leben hier ein langer Selbstbetrug? Meine Gedanken ziehen Zugvögeln gleich durch die Jahre. Ich gehe wieder ins Bett. Die Traumbilder verschwimmen und bald schlafe ich ein. Im Traum ist jemand, der mir davon erzählt, wie ein Auto auf den Hof fährt, der Kies unter den Reifen knirscht. Zwei Türen werden zugeschlagen, aber ich sehe keine Personen dazu und außerdem klingelt es plötzlich, aber niemand steht vor der Tür. Wieder klingelt es. Das gibt’s doch nicht, denke ich und öffne die Augen. Es ist hell. Die Uhr auf dem Rechnerdisplay zeigt halb elf. Schon halb elf?! Jedenfalls ist das Kopfweh weg. Wieder klingelt es. Ich erschrecke. Also doch kein Traum. Gleichzeitig werde ich wütend. Es gibt keine Ruhe mehr! Sie haben mich entdeckt und beschlossen, mein Leben umzukrempeln. Wer auch immer sie sind …

Es zahlt sich aus, dass ich mit Kleidern ins Bett bin, gehe die Treppe runter zur Haustür und öffne. Zwei Gendarmen stehen vor mir, was mich nun wirklich überrascht.
»Guten Morgen, Monsieur Bernheimer. Wir haben Sie hoffentlich nicht geweckt?« Für einen kurzen Moment bin ich sprachlos.
»Nein, schon gut. Was gibt es denn?«
»Dürfen wir reinkommen?«
»Ja, aber ja, bitte, kommen Sie in die Küche.« Ich trete zur Seite und lasse beide herein. Der eine von ihnen, der mich begrüßt hat, ist so groß wie ich, der andere fast einen Kopf kleiner. »Bitte, links durch die Tür.« Sie gehen in die Küche und stellen sich nebeneinander vor den Tisch. »Setzen Sie sich. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Vielleicht einen Saft?«
»Für mich gerne«, meint der Größere und setzt sich auf die Bank. Der andere nimmt den Stuhl an der Stirnseite und nickt nur. Also gebe ich beiden ein Glas Orangensaft und nehme vor dem Fenster Platz.
»So, meine Herren, was kann ich für Sie tun?«
»Monsieur Bernheimer«, beginnt der Große, zieht ein Bild aus seiner Jackentasche und schiebt es herüber, »kennen Sie diesen Mann?« Ich nehme das Bild. Das ist doch nicht möglich …
»Aber ja kenne ich den. Das ist Monsieur Guerlaine. So zumindest hat er sich mir vorgestellt.«
»Seit wann kennen Sie ihn?«
»Er kam vor ein paar Tagen, am Donnerstag war das, zum ersten Mal hierher. Er sagte zu mir, er arbeite in der Präfektur und solle sich im Auftrag des Büros für Tourismusentwicklung erkundigen, ob ich einen Teil meines Grundstücks an die Präfektur abtreten wolle, um eine Verbreiterung der Straße hoch zum Pass zu ermöglichen. Im Gegenzug würde ich hier unten ein Stück vom Wald erhalten. Ich sagte ihm, dass ich mir das durchaus vorstellen könne, bat mir aber noch Bedenkzeit aus. Dann ging er wieder und versicherte mir, dass er sich in ein paar Tagen melden würde.« Der größere Gendarm trinkt einen Schluck vom Orangensaft. Der Kleinere schaut mich nur unentwegt an und schweigt.
»Hat er sich wieder gemeldet?«
»Tags darauf habe ich bei der Präfektur angerufen und wollte ihn sprechen. Dort teilte man mir mit, es würde keinen Monsieur Guerlaine geben, auch kein Büro für Tourismusentwicklung und schon gar keinen Plan, hier irgend etwas an der Straße zu verändern. Es müsse sich wohl mit aller Wahrscheinlichkeit um einen Grundstücksmakler handeln, der auf diese Art an Informationen kommen wollte. Sie können sich vorstellen, dass ich nicht nur überrascht war, sondern auch sehr verärgert …« Der kleine Gendarm räuspert sich, als wollte er etwas sagen. Ich unterbreche meine Erzählung, aber er schweigt weiterhin. Da sein Kollege ebenso abwartet, fahre ich fort.
»Am Samstagabend, etwa gegen 22 Uhr, bekam ich dann einen Anruf von Guerlaine. Ich sprach ihn auf seine Lügen an, woraufhin er für einen Moment ruhig war, sich dann aber entschuldigte und damit herausreden wollte, dass dies alles nur ein nützlicher Vorwand war, um ruhig mit mir sprechen zu können, weil ich ihn – seiner Meinung nach – wohl gleich abgewiesen hätte. Ich sagte ihm, er solle mich nie wieder anrufen. Gestern, am frühen Nachmittag, tauchte er plötzlich hier auf. Ich rief ihm durchs Küchenfenster zu, er solle sich dünn machen. Ich drohte mit der Gendarmerie, würde er noch einmal hier auftauchen. Tja, nun sind sie ja sogar einen Tag später gekommen. Wegen was denn überhaupt, wenn ich fragen darf?«
Groß und Klein sehen sich an. Dieses Mal zieht der Kleine ein Foto aus seiner Jackentasche und reicht es mir. Ein großes Foto, sehr detailscharf, aber es ist kaum etwas zu erkennen. Ein völlig zerschmettertes Auto liegt auf dem Grund der Verdon-Schlucht. Es ist unschwer zu übersehen, dass es der Verdon ist. Vermutlich irgendwo zwischen La Palud und Moustiers. Vom Fahrzeug selbst ist nicht viel mehr übrig als einige zerfetzte Rahmen- und Karbonteile. Nur an einer Stelle sehe ich deutlich die Farbe, ein Silbergrau. Ganz eindeutig nicht der blaue Renault. »Auweia, das sieht nicht besonders gut aus. Und Guerlaine war da drin?«
»Guerlaine war da drin. Ganz eindeutig. Wir haben ihn anhand seines DNA-Abdrucks identifiziert«, bestätigt der kleine Gendarm.
»Aha, sie hatten seinen DNA-Abdruck?«
»Aber ja, Monsieur, seit dem ersten Januar diesen Jahres wird von jedem EU-Bürger der DNA-Abdruck genommen … haben Sie das nicht mitbekommen?« Sie schauen mich beide verwundert an.
»Das hab ich wohl vergessen.« Ich lege das Foto auf den Tisch und schiebe es dem Kleineren hin. Da fällt mir plötzlich ein, was mir Unbehagen bereitet, wenn ich an Guerlaines Tod denke. »Wie kommen Sie eigentlich auf mich?«
»Wir haben in seinem Wagen einen Terminkalender gefunden und dort ist ihre Adresse eingetragen. Für eben den letzten Donnerstag. Dazu noch einige andere Eintragungen, die wir aber nicht entziffern können, weil er es offenbar in einer, nur für ihn lesbaren, abgehackten Schrift festgehalten hat. Eine Art Steno vermuten wir.«
»Und Sie sind sicher, dass Guerlaine im Wagen saß?«
»Da sind wir absolut sicher. DNA lügt nicht.« Der kleine Polizist fixiert mich. Offenbar ist er der erfahrenere und misstrauischere von beiden. »Wieso fragen Sie?«, will er wissen.
»Weil das dort in der Schlucht nicht dasselbe Auto ist, das am Donnerstag vor meiner Tür stand.« Sie sehen sich an.
»Mit welchem Fahrzeug war er denn hier?«
»Es war ein blauer Renault. Eine Limousine. Meine Kenntnisse über Autos sind beschränkt, aber ich vermute ein Fahrzeug mit Brennstoffzellen. Es hatte getönte Scheiben. Und Guerlaine war nicht alleine. Ein Fahrer oder eine Fahrerin war dabei. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Die Person saß die ganze Zeit im Wagen, direkt vorne am Weg. Kurze Haare, sicher größer als Guerlaine. Gestern war er ebenfalls mit diesem Fahrzeug hier, und auch die Person war wieder von hinten zu sehen.«
Der Kleine macht sich Notizen. »Fällt Ihnen sonst noch etwas ein?«
»Ja. Es war ein Mietwagen, nehme ich mal an. Auf der Windschutzscheibe klebte das Etikett einer Mietwagenfirma aus Marseille. Das Kennzeichen war aber von hier.«
Der Kleine legt den Kopf schräg. »Sie sind ein guter Beobachter.« Ich meine in seiner Stimme so etwas wie Argwohn zu hören.
»Und noch eins …«
»Ja?«
»Gestern, als ich Guerlaine abgewimmelt habe, schaute er sich zum Fahrzeug um, entschuldigte sich bei mir, schaute sich wieder um, und … ich weiß nicht, aber mir drängte sich der Eindruck auf, er hatte Angst.«
»Angst? Vor was oder wem?«
»Vor der Person im Wagen.«
Beide sehen sich erneut an und schweigen. Meine Ausführungen haben zumindest den Kleinen stutzig gemacht. In meinem Kopf entsteht ein weiterer Bogen, eine Brücke zu einem anderen Gedanken, der mir in diesem Zusammenhang kommt. »Sagen Sie mal … wie ist er denn von der Straße abgekommen? Zu hohe Geschwindigkeit?« Der Kleine zieht die linke Augenbraue nach oben und fixiert mich.
»Das ist komisch, dass Sie das fragen? Ich meine, wenn Sie die Frage zuvor gestellt hätten, aber so … nach ihren Schilderungen und Eindrücken, ist das irgendwie komisch. Finden Sie nicht?«
»Nein, eigentlich nicht. Denn bisher habe ich dem wohl keine Bedeutung beigemessen. Ich frage deshalb danach, weil meiner Meinung nach hier etwas nicht zusammen passt.«
»Richtig«, bestätigt der Kleine. »Hier gibt es Ungereimtheiten. Und nun plötzlich interessiert Sie ein Detail?«
»Ich verstehe, dass Sie nachhaken … aber wenn ich etwas damit zu tun hätte, dann würde ich das wissen und deshalb nicht fragen, oder? Nur um freiwillig einen Verdacht auf mich zu lenken?« Gerade will er etwas erwidern, da legt der Große eine Hand auf seinen Unterarm und nickt ihm sachte zu, bevor er mir antwortet.
»Monsieur Bernheimer, aus Ihrer Sicht ist das nur zu verständlich, aus unserer Sicht leider auch. Wir sind Polizisten. Es ist unsere Arbeit, Ungereimtheiten nachzugehen. Um aber auf ihre Frage zu antworten, Guerlaine war schon tot als er am Grund der Schlucht ankam. Jemand hat das Fahrzeug über den Abgrund geschoben. Er wurde auf keine gängige Weise getötet, keine Kugel, Stiche oder sonst etwas. Tatsache ist, dass er wohl bereits zwei Stunden vorher nicht mehr am Leben war. Wenn er aufgrund eines körperlichen Gebrechens verstarb, wie kam er dann in das Fahrzeug und mit ihm auf den Grund der Schlucht?« Er sieht mich fragend an. Ich zucke mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Aber wenn ich Ihre Arbeit machen würde, könnte ich mir vorstellen, nun nach dem blauen Renault und diesem Fahrer oder einer Fahrerin suchen zu lassen.« Sie trinken die Gläser leer und stehen auf.
»Monsieur Bernheimer, wir müssen gehen«, sagt der Große. »Vielen Dank für die kleine Erfrischung. Sie haben uns sehr geholfen.« Ich schüttle seine überraschend weiche Hand. Dann legt er ein marineblaues Visitenkärtchen auf den Küchentisch. »Falls Ihnen noch etwas einfällt, zögern Sie nicht, uns anzurufen. Wir sind jederzeit für Sie da. Ich möchte mich auch im Namen der Gendarmerie für ihre Mitarbeit bedanken.«
»Ja, kein Problem, das mache ich doch gerne. Das ist der freundlichste Abschied eines Polizisten, den ich jemals gehört habe.«
Er lächelt. »Das gehört zu unserer neuen Charme-Offensive. Mit Freundlichkeit kommt man weiter.«
»In der Tat«, entgegne ich.

Endlich sind sie draußen und ich schließe die Tür. Dabei grüble ich, ob einfaches Abschließen ausreicht. Canard hatte es ja auch problemlos in meine Küche geschafft. Vorsichtshalber rücke ich beide Verriegelungen in die vorgesehenen Öffnungen und stelle zu guter Letzt den Kleiderständer vor die Tür. Das ist jetzt aber pure Paranoia, oder? Es wird immer mysteriöser. Guerlaine ermordet? Ich habe das dringende Bedürfnis, mit einer Person über all das zu reden. Aber mit wem? Mir fällt niemand ein. Madame Colombier, Françoise? Nein, völlig unrealistisch. Richard? Ebenso zwecklos. Es gibt tatsächlich niemanden dort draußen. Diese Erkenntnis, obgleich schon seit langem Wahrheit, trifft mich in diesem Moment umso intensiver. Vielleicht hilft ein Milchkaffee?

Ich schäume die Milch und schiebe Milchschaum mit dem Löffel in den Espresso. Dann setze ich mich und nehme das Visitenkärtchen des Polizisten in die Hand. Sieh an, ein Kommissar namens Yannic Montand aus Digne-les-Bains. Also nicht nur ein Verkehrspolizist aus dem Nachbardorf. Mit der Tasse gehe ich wieder hoch und aktiviere das Tablet. Für eine Millisekunde blendet die Konsole des Linux-Derivats auf, dann die gewohnte Oberfläche. Sogleich meldet sich das Mailsystem und überträgt die gespeicherten Nachrichten. Mein Filter löscht rigoros den SPAM. Übrig bleiben nur drei Nachrichten. Die erste betrifft meine Anfrage nach dem Nachnamen Guerlaine. Insgesamt gibt es 142 von ihnen im Umkreis von 100 Kilometern. Das hat sich ja erübrigt, also ziehe ich diese Info in den Mülleimer. Die zweite Nachricht ist die Bestätigung über eine Online-Überweisung der Commerzbank Berlin. Der korrekte Betrag. Auf Richard ist Verlass. Die dritte Nachricht ist ohne Inhalt. Damit meine ich, es ist kein Text dabei, nichts, nur ein Betreff: ‚Umzug am 4. August 2037‘. Der Absender ist ein gewisser Bruno Nancy. Bruno hat seinen Mailaccount bei MailAtlantique. Ich kenne weder einen Bruno Nancy noch den Provider. Mit dem Finger lege ich die Nachricht auf den Papierkorb. Als ich loslasse, startet das Linux-Derivat in der Konsole, allerlei Zeichen tauchen in schneller Abfolge auf. Dann ein Text. Sie beginnt mit ‚Guten Tag, Monsieur Meissner …‘

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