Charis 1 | Trugbild

Aus dem Markus-Evangelium
An einem anderen Ort
Dienstag, 17. Juli 2037

Es wird nicht mein Tod sein, sondern meine Auferstehung. Daran glaube ich fest. Ich danke dir, Herr, dass du mich durch dieses dunkle Tal führen wirst und bis hier geführt hast. Gelobt sei deine Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Holen Sie ihn! Das ist meine Bitte, meine Anweisung! Gehen Sie schnell! Seien Sie nicht zögerlich! Tun Sie das Notwendige. Lassen Sie sich von Ihrem festen Glauben leiten. Dann wird sich alles fügen.

Donnerstag, 30. Juli 2037

Viertel vor sieben. Madame Colombiers Bäckerei betrete ich eine Stunde später als üblich und fühle mich als Schuljunge, der sich etwas hat zuschulden kommen lassen. Sie steht hinter der Theke, adrett gekleidet, gepflegt wie jeden Morgen und sortiert Baguettes in die Holzkästen. Man sieht ihr die siebzig Lebensjahre an, aber auf eine sehr angenehme Weise. Alter und Schönheit sind keine unvereinbaren Elemente. Madame Colombier führt die Bäckerei seit nunmehr fünf Jahren allein, denn ihr Mann verstarb damals mitten in der Backstube und seither bezieht sie die Baguettes von einem Bäcker in La Garde. Madame Colombier will einfach nicht aufhören mit dem Verkaufen von Brot und Croissants. Es ist ihr Leben.

Ich bleibe eine Weile vor der Theke stehen und mustere die Auslage. Vielleicht werde ich heute anstatt eines Baguette ein paar Croissants mitnehmen. Mit einem Räuspern trete ich einen Schritt vor, direkt an das Glas, beuge den Kopf über die Kante. »Guten Morgen, Madame Colombier. Wie geht es Ihnen heute?« Sie dreht sich um, stellt eine Kiste mit frischen Baguettes auf eine Holzablage.
»Ah, guten Morgen, Monsieur Bernheimer. Danke, mir geht es sehr gut. Und Ihnen?« Sie weiß, dass sie langsam reden muss. Obwohl ich schon fast zwanzig Jahre hier lebe, fällt mir manch schnell gesprochener Satz noch schwer.
»Ich habe heute Morgen verschlafen, eine Stunde, und fühle mich jetzt ein wenig schuldig.« Sie lacht.
»Sie sind eben ein Deutscher, nicht wahr? Mein Mann hat immer gesagt, dass die Deutschen sogar pünktlich zu ihrer eigenen Beerdigung kommen. Ja, mein Mann, Gott habe ihn selig.«
Für einen Moment geht ihr Blick zur Wand rechts von mir, an der eine Fotografie von ihm hängt. Der Klassiker eines Südfranzosen. Etwas gedrungen, kompakt, ein großer Schnauzer und eine Baskenmütze auf dem Kopf. Aber ein gutmütiger, großherziger Blick. Direkt unter der Fotografie stehen auf einem kleinen Regal mehrere vergilbte Auszeichnungen für das beste Baguette der Region Alpes-de-Haute-Provence. Die Erinnerungen verschwinden aus ihrem Blick und sie sieht mich wieder lächelnd an. »Darf ich Ihnen ein Baguette einwickeln?«
»Heute sogar zwei Baguettes und geben Sie mir bitte vier Croissants.«
»Ohlala, Sie wollen doch heute kein Fest feiern? Haben Sie vielleicht Geburtstag?«
»Nein, nein, ich habe nur das Gefühl, dass ich heute mehr kaufen müsste als sonst.«
»Vielleicht bekommen sie Besuch?« Sie wickelt meine Bestellung in dünnes Papier und steckt alles in eine Tüte, die sie vor mich hinstellt.
»Nicht, dass ich wüsste. Aber sie dürfen mich gerne besuchen, Madame Colombier.« Sie kneift ein Auge zu, legt den schmalen Kopf schräg und lächelt.
»Vielleicht mache ich das sogar einmal. Ich verabrede mich gerne mit jungen Männern.« Ich muss lachen.
»Vielen Dank, zu viel der Ehre. Immerhin bin ich 66. Aber gegen Ihren Besuch hätte ich nichts. Ich würde Sie sogar abholen. Es ist immerhin ein Stück zu mir raus.« Die Türglocke bimmelt, ein junges Pärchen kommt herein. Ich lege zwanzig Euro auf die Theke und zwinkere Madame Colombier zu. »Sehen Sie, Madame, das ist jung«, und deute auf die beiden. »Da müssen wir uns anstrengen, um wieder so zu werden. Auf Wiedersehen, Madame Colombier.« Ich nehme die Tüte und verlasse den Laden.
Ihr Lachen verstummt mit dem Schließen der Tür. Auf dem kleinen Platz ist kaum was los. Die Sonne steigt bald über die Bergkuppen und es wird wieder heiß werden. Quer über dem Platz ist ein Gemüsehändler. So schnell ich kann, wechsle ich die Seite. Ein Blick auf die vielen Auslagen verschafft mir Vorfreude auf das Abendessen. Trotz dass ich allein wohne, kaufe ich Gemüse für eine ganze Familie. Tomaten, Paprika, Gurken, Artischocken, Knoblauch, Zwiebeln, wunderschöne Brechbohnen und viel frisches Obst. Nach dem Bezahlen besorge ich im Kiosk die wöchentliche Ausgabe der Nice-Matin. Immerhin gibt es die noch auf Recyclingpapier gedruckt. Hin und wieder kaufe ich eine. Vollbepackt schleppe ich alles zum Wagen, lade ein und klemme mich hinters Steuer, aktiviere den Elektroantrieb. Es wird Zeit. Bevor es zu heiß wird, will ich daheim sein.

Unterwegs kommt mir auf der Straße nach Le Bourguet in schneller Fahrt der Postwagen entgegen. Der Fahrer blinkt auf, hupt kurz und wedelt mit der linken Hand. Ich hupe ebenfalls. Als ich von der Straße in das kurze Stück Weg zum Haus abbiege, kann ich schon den Wagen sehen, der auf der kleinen Stellfläche vor der Garage steht. Besuch? Unmöglich. Niemand besucht, da ich meinen Namen nicht preisgebe. Lediglich mein Verleger und die Gemeinde kennt mich mit korrektem Namen. Für die Menschen hier bin ich einfach Monsieur Bernheimer. Also wird es sich hier um Touristen oder Wanderer handeln, die meinen, hier parken zu können. Die wahrscheinlichste Lösung. Immerhin steht der Wagen so, dass ich bequem vorbeikomme, um in die Garage zu fahren, wobei Garage übertrieben ist. Unterstand trifft es eher. Ein kleiner Felsüberhang. Auf der hausabgewandten Seite erreicht er den Boden, gegenüber habe ich mit Kreuzrahmen und Schalbrettern eine Wand eingezogen.
Ich steige aus und trage den Einkauf ins Haus; nicht ohne einen Blick auf den Wagen zu werfen. Ein blauer Renault, das Modell mit Brennstoffzellen. Auf der Windschutzscheibe klebt am rechten, unteren Eck das Label einer Autovermietung in Marseille. Wahrscheinlich sind die Touristen mit dem Zug gekommen, um mit dem Renault den Seealpen einen Besuch abzustatten. Unklug bei dem vorhergesagten Wetter.

Im Haus ist es kühl. Und das den ganzen Sommer durch. Der Hauptgrund, warum ich es gekauft habe. Zweistöckig, mit fünf Zimmern, aus massiven Kalksteinen gemauert. Wie an den Felsen geklebt. Zwei der Zimmer wurden in den Kalkstein hineingetrieben. Das Grundstück zieht sich bis hoch zum kleinen Pass, wo der Vorbesitzer Solarzellen installieren ließ. Auf dem Vordach sind Kollektoren und im Technikraum arbeitet eine Wärmepumpe. Das Ganze ist ein perfekter Kreislauf. Für dieses Kleinod habe ich in Deutschland alles aufgegeben und verkauft, was nur irgendwie an den Mann zu bringen war.
Baguettes und Croissants lege ich auf den Tisch, trinke ein Glas kalten Fencheltee und räume das Gemüse in die kühle Speisekammer am Ende des Flurs. Dann bereite ich einen Milchkaffe zu und setze mich an den Küchentisch. Madame Colombier und ihr herzliches Lachen fallen mir ein. Eine Einladung zum Wochenende würde ihr sicher gefallen. Flammkuchen mit Schmand und Lauch oder vielleicht Chili und Rosmarin. Eine gute Idee. Aus der Tüte greife ich ein Croissant und beiße hinein. Köstlich! Mein Blick wandert zur Zeitung. Die Schlagzeile … FRONTEX bekommt Feuerbefehl im westlichen Mittelmeer! Wie viele Afrikaner sollen es noch werden?! … Wassernot im Mezzogiorno! Region bekommt zwei Meerwasser-Entsalzungsanlagen … Wiederaufforstungsprogramm in Region Makedonien stockt – wegen Waldbrandgefahr! … eine Seite weiter das Regionale. Präfekt hat sich an seiner Sekretärin vergriffen und steht vor Gericht – Tiefengrundwasser unter Narbonne entdeckt! Probebohrungen laufen! … Interessanter ist da schon der Artikel zu der Idee, die D962 von Castellane nach Moustiers-Sainte-Marie zu einer gut ausgebauten Straße zu machen. Beleuchtete Tunnel, Parkplätze mit Aussicht auf die Schlucht. Eine Raststätte … warum? Die Straße ist gut so wie sie ist. Nur für Touristen? Die brauchen Wasser und Wasser ist Mangelware. Eine Seite weiter. Politik. Ich hätte besser keine Zeitung gekauft, denke ich, als ich das Foto sehe. Mein Bruder blickt mich an.

Mit den Knien schiebe ich den Stuhl zurück, stehe auf und gehe zum Fenster, das Bild meines Bruders im Kopf. Ich kaufe nicht oft eine Zeitung, und ausgerechnet heute ist ein zweiseitiger Artikel über meinen Bruder drin! Einen Fernseher habe ich nicht. Die wenigen Informationen zur Welt da draußen bekomme ich über das Internet. Selbst da lasse ich die Nachrichten links liegen. Dass es immer wärmer und trockener wird, dass die Stürme zunehmen, das kann ich fast täglich beobachten, dazu benötige ich weder Zeitung noch Internet. Die Ellenbogen lehne ich auf den kühlen Kalksteinsims und schaue hinaus. Plötzlich fällt mir auf, dass etwas anders ist. Das Auto ist weg. Kein Renault mehr im Hof. Ich gehe nach draußen und vergewissere mich, dass er wirklich verschwunden ist. Er muss den Platz völlig geräuschlos verlassen haben. Seltsam, bei dem vielen Kies der hier liegt. Ich zucke mit den Schultern, gehe wieder ins Haus und setze mich an den Küchentisch.
Da ist es wieder. Das Bild meines Bruders. Mit einer unwirschen Handbewegung blättere ich um und schiebe sie beiseite. Das kann mir den ganzen Tag versauen. Jemand klopft an die Haustür. Ich bin so verblüfft, dass ich einfach sitzen bleibe und darüber nachdenke, ob es nun wirklich geklopft hat oder mein Verstand mir einen Streich spielt. Es klopft wieder. Es ist jemand vor der Tür, ganz klar. »Moment! Ich komme gleich!« Schnell springe ich auf, wische Croissantbrösel vom Hemd, gehe zur Haustür und öffne.
»Bonjour, Monsieur Bernheimer.«
»Ja, auch guten Tag, Herr, äh …«
»Guerlaine. Monsieur Guerlaine von der Präfektur in Digne-les-Bains. Darf ich kurz reinkommen?«
»Wenn es bei kurz bleibt, bitte sehr …« Ich mache ihm Platz. Monsieur Guerlaine drückt sich an mir vorbei und geht schnurstracks in die Küche, als wäre dies seine gewohnte Umgebung. Ich gebe der Haustür einen Schubs mit dem Fuß und folge ihm. Er ist einen Kopf kleiner als ich, elegant gekleidet und eine Wolke aufdringlichen Parfums schwebt im Raum. Mit einem kurzen Blick erfasst er, auf welchem Stuhl ich saß und wählt den gegenüberliegenden.
»Möchten Sie einen Milchkaffee, Monsieur Guerlaine?«
»Ja, bitte. Da sage ich nicht nein.«
»Vielleicht ein Croissant?«
»Nein, vielen Dank.«
Ich schäume Milch und gieße den Kaffee hinein. Etwas Zimt darauf, dann stelle ich ihm die Tasse vor die Nase, setze mich und schiebe die Zuckerdose in die Tischmitte. »Zucker?«
»Ja, gerne.« Er tut sich zwei gehäufte Löffel Zucker in den Milchschaum. Langsam sinkt er nach unten. Guerlaine rührt um und sieht mich an. »Sie werden sich fragen, warum ich hier bin?«
»Ich frage mich, wie sie hierhergekommen sind.«
Sein Blick zeigt kurzes Erstaunen. »Mit dem Auto natürlich.«
»Draußen steht kein Auto.« Er lachte kurz auf und nimmt einen Schluck.
»Ja, stimmt, das Auto ist weg. Es ist der Renault. Meine Fahrerin und ich waren zu früh. Wir haben sie nicht angetroffen und sind spazieren gegangen. Dann sahen wir sie kommen. Meine Fahrerin musste weg, einige Sachen besorgen in Castellane.« Er setzt die Tasse ab. »Sie sind ein aufmerksamer und misstrauischer Mensch, Monsieur Bernheimer.«
»Wenn man hier draußen wohnt, bekommt man nicht so oft Besuch.«
»Das ist wohl wahr. Es sei denn, man hat Familie.«
»Da kann ich nicht mit dienen, mit Familie.«
Er mustert mich einen Augenblick abschätzend. »Monsieur Bernheimer! Ich bin hier, weil ich Ihnen ein Angebot machen möchte. Die Präfektur überlegt, dieses wunderschöne Tal touristisch mehr zu erschließen. Ihnen gehört das Grundstück Nummer 214-Strich-96 am Pass oben. Dort steht ihre Strom- und Warmwasserversorgung. Wir würden ein Stück ihres Grundstücks gerne – wie soll ich sagen – tauschen. Gegen eine Erweiterung hier unten, links und rechts des Hauses.« Er sieht mich erwartungsvoll an.
»Was verstehen Sie unter touristisch mehr erschließen?«
»Nun, natürlich haben wir noch keine konkreten Pläne, mehr Ideen. Aber wir stellen fest, dass die Tourismusindustrie, und auch Privatleute, zunehmend an dieser Region Interesse haben. Bei einer Verbesserung der Infrastruktur würden wir natürlich Gelder aus Brüssel bekommen.«
»Was hat das mit meinem Grundstück zu tun?«
»Das Sträßchen hoch auf den Pass und rüber ins Tal ist nicht für schweren Verkehr geeignet. Wir würden die Straße gerne auf der gesamten Länge verbreitern, so dass auch Gegenverkehr für größere Fahrzeuge problemlos möglich wird. Dazu müssten wir aber ihr Grundstück stark beschneiden.«
»Verstehe. Als Ausgleich bekomme ich hier unten ein Stück dazu.«
Guerlaine lehnt sich erleichtert zurück. Endlich sind wir am Kernpunkt seines Anliegens. »Sie haben es erfasst, Monsieur Bernheimer. Im Übrigen würde die Präfektur Ihnen ein etwas größeres Grundstück hier unten überlassen, so dass Sie mehr als ausreichend entschädigt würden.«
»Was wird aus der Strom- und Wärmeversorgung? Die muss ja verlegt werden.«
»Nein, Monsieur Bernheimer. Da können Sie beruhigt sein, das haben wir schon geprüft. Lediglich die Zuleitungen nach hier unten müssten verlegt werden. Selbstverständlich auf unsere Kosten und auch in besserer Ausführung als momentan vorhanden.«
»Hm, das hört sich natürlich nicht schlecht an. Trotzdem muss ich es mir genau überlegen. Denn ich habe gerne meine Ruhe. Und wenn der Verkehr ins Tal stark zunimmt, wird davon nicht mehr viel übrig bleiben, von der Ruhe. Bis zur Straße sind es von hier nur hundert Meter. Da wäre vielleicht eine Mauer sehr hilfreich …« »Aber Monsieur Bernheimer, da bin ich mir fast sicher, dass die Präfektur Ihnen entgegen käme …« Er grinst über beide Ohren. Dabei fällt mir auf, dass Guerlaine ein völlig unscheinbares Gesicht hat. Eines, dass ich mir sicher nicht merken werde. Er trinkt den Milchkaffee in einem Zug aus und steht auf. »Der Milchkaffe war ausgezeichnet. Da muss ich Ihnen ein Kompliment machen. Dabei sind sie ja gar kein Franzose.«
»Monsieur Guerlaine, das habe ich natürlich geübt, bevor ich mich hier niedergelassen habe.« Er lacht und kommt um den Tisch herum.

»Ich muss leider wieder gehen. In einer Woche tagt der Ausschuss für Tourismusentwicklung und danach werde ich mich wieder melden. Da haben Sie überlegt und wir unser Angebot präzisiert.« Er reicht mir die Hand, ich schlage ein und werde überrascht von seinem festen Händedruck. Das traut man dem kleinen Mann gar nicht zu, vor allem nicht dem konturlosen Gesicht.
»Gut, dann hören wir bald wieder voneinander.« Ich weise ihm den Weg zur Haustür. Als er sie öffnet, fährt der Renault auf den Hof.
»Auf Wiedersehen, Monsieur Bernheimer.«
»Wiedersehen, Monsieur Guerlaine.«
Der Wagen steht mit dem Heck zu mir. Guerlaine öffnet die Beifahrertür und steigt ein. Die Person auf dem Fahrersitz erkenne ich nicht. Wenn es eine Fahrerin ist, trägt sie das Haar sehr kurz. Und sie ist zweifellos größer als Guerlaine. Schulterzuckend schließe ich die Tür und gehe wieder in die Küche. Im Abräumen sind sie alle nicht groß. Ich spüle die Tasse, stelle sie in den Geschirrkorb, dann fällt mein Blick auf die Nice-Matin. Doppelseite vier und fünf, das Foto meines Bruders.

Es ist Abend geworden. Kurz vor acht. Zeit, das Abendessen zuzubereiten. Die Straßenerweiterung geht mir durch den Kopf. Wenn sie im kleineren Nachbartal nur ein paar Häuser bauen, dann wird es mit dem Verkehr sicher nicht so schlimm werden. Aber dieses ‚mehr erschließen‘ bereitet mir Unbehagen. Ist es nicht schon immer so, dass Behörden stark untertreiben, wenn es um potentiell ungeliebte Projekte geht? Ferienanlagen für tausende Menschen. Wochenendsilos für die arbeitsgeschwächte Bevölkerung von Nizza, Marseille oder Grenoble. Reisebusse, die sich der Wanderung der Aale gleich durch einen engen Kanal quetschen. Was für ein Alptraum! Andererseits … wenn sie mich schon nach meinem Grundstück fragen, dann bin ich die billigere Alternative. Ansonsten gibt es nur die Möglichkeit, auf halber Höhe zwischen den Kehren, einen Tunnel zu bauen. Viel zu teuer. Da kann ich durchaus ein bisschen pokern und entschließe mich, Guerlaine morgen anzurufen um ihn ein wenig zu quälen.

Nach dieser Entscheidung geht es mir wieder besser und ich widme mich dem Baguette. Der Länge nach aufgeschnitten, streiche ich die Olivenöl und Knoblauchpaste drauf. Es kommt für einige Minuten in den Herd. Aus Tomaten, Zwiebeln, Paprika und Bohnen bereite ich eine Gemüsebruschetta, verteile sie auf dem gerösteten Brot und schiebe es nochmal für fünf Minuten in den Ofen. Währenddessen gieße ich ein Glas Chateau La Louviere aus dem Dekantiergefäß in ein Glas und setze mich an den Küchentisch, trinke vorsichtig einen Schluck dieses wunderbaren Weines und schmatze genüsslich. Rechts liegt die Nice-Matin. Inzwischen etwas verfleckt vom Gemüse schneiden. Ich blättere zu der Doppelseite, auf der das große Foto meines Bruders abgebildet ist. Der dazugehörige Artikel ist überschrieben mit:
Präsident Meissner zu Besuch in Russland.
Alt ist er geworden, obwohl nur zwei Jahre jünger. Tatsächlich weiß ich nichts mehr über meinen Bruder. Alles Wissen sind Erinnerungen, das mit jedem vollendeten Lebensjahr mehr Lücken bekommt. Der Backofen summt, schaltet sich ab und ich ertappe mich dabei, es zu ignorieren, einfach sitzenzubleiben, um mich zu erinnern. Aber ich habe Hunger. Also stehe ich auf und nehme das Abendessen heraus. Vier der Baguettestücke lege ich auf einen Teller, dazu das Weinglas, dann gehe ich vors Haus auf die Holzbank. Blaue Stunde, die Sonne bereits hinter einem der westlichen Bergrücken verschwunden. Die Luft riecht nach Pinien, Kiefern und dem wilden Rosmarin, der hier in Unmengen wächst. Das Thermometer zeigt 26 Grad. Durchaus erträglich. Ich lehne mich zurück und genieße die Bruschetta.

Gegen zehn Uhr bin ich fertig, satt, und versuche die Erinnerungen wieder zu vergraben. Wie Luftblasen steigen sie auf, blubbern, ploppen in meine Realität, mitten hinein in diesen schönen Abend. Ich will sie nicht. Arbeit ist vielleicht die beste Ablenkung. Nachdem ich die Küche aufgeräumt habe, gehe ich hoch ins Arbeitszimmer und aktiviere die Computerkonsole. In der Arbeitsplatte steckt der Rechner. Eine kleine, flache Schachtel, die ich bei Bedarf gegen eine leistungsfähigere Komponente austauschen kann. Das Bild kann ich auf ein Tablet übertragen, wenn ich im Bett liegen will, um zu schreiben oder auf einen Holoschirm unten in der Küche. Bequemer geht es nicht und kein Vergleich zu meiner alten Kiste. Ein Druck auf den Schirm aktiviert das System. Ich wähle den Maileingang. Wie erwartet ist einiges an Arbeit eingetroffen. Ich suche kleinere Textstücke und beginne zu lektorieren.

Kurz nach Mitternacht werde ich müde. Zeit aufzuhören. Ein müder Lektor kann einem Text und damit einer Autorin oder einem Autor gegenüber nicht mehr gerecht sein. Er produziert Mist. Ich lese noch einmal den überarbeiteten Text durch und muss schmunzeln. Die erste Hälfte eines Kinderbuchs. Ritterhelden aus längst vergangenen Zeiten reiten gegen böse Waldmenschen, die immer und immer wieder die Felder der Bauern plündern. Klar, der König muss was tun. Also setzt er seine Ritter in Bewegung. Aber die Waldmenschen sind schnell und im Wald so gut wie nicht zu entdecken. Ärgerlicherweise gibt es auch noch einen Drachen, der die Arbeit der Ritter behindert, weil er seine Ruhe will. Bis dahin jedenfalls ist der Text ordentlich geschrieben und in sich logisch. Ich habe einige der Begriffe ausgetauscht, um ihn lesefreundlicher für die Kinder zu machen und manche der durcheinandergewirbelten Zeiten angepasst. Aber im Großen und Ganzen ein gutes Stück Text. Morgen werde ich mich um den zweiten Teil kümmern. Ich schalte den Computer aus, gehe hinunter, um abzuschließen. In der Küche entdecke ich die Reste des herrlichen Weines. Kurz nach halb eins. Gerade recht für einen letzten Schlummertrunk auf dem Balkon. Es ist immer noch warm, aber zuweilen kommt ein kühler Luftzug. Wohl schon Vorbote des nahenden Herbstes. Das Wetter hat sich radikal geändert in den letzten Jahren. Was die Franzosen früher Mistral nannten, diese kalte Polarluft, die zwischen Pyrenäen und Alpen eingeengt und beschleunigt wurde, gibt es nicht mehr. Zumindest fehlt ihr die Kälte. Hier oben in den Bergen ist es zum Aushalten mit der Hitze. Trotz allem bin ich froh, dieses Haus zu haben, denn die Hitze wird langsam zu einer Dauereinrichtung. Das sollte mich mit 66 Jahren aber nicht mehr lange beschäftigen …
Ich lege die Füße auf den Tisch, genieße den Wein in kleinen Schlucken. Was für ein ausgezeichneter Jahrgang und welch talentierter Kellermeister. Viele der kleinen Winzer haben aufgegeben, weil die Böden zu trocken sind. Besonders im Languedoc ist die Lage schrecklich. Und wenn es regnet, dann kommt das Wasser schlagartig in rauen Mengen, der Boden kann gar nicht alles aufnehmen. Zwischen diesen Gedanken huschen Schatten vor meinem Balkon vorbei. Fledermäuse. Wunderschöne Tiere, aber so selten geworden. Es ist ihre Nacht und für mich Zeit ins Bett zu gehen.


Freitag, 31. Juli 2037

Kein Vogelgezwitscher. Warum nicht? Schon wieder habe ich verschlafen. Heute empfinde ich es jedoch als nicht so schlimm. Meine Vorräte sind aufgefüllt, das Wochenende kann kommen. Und Arbeit gibt es genug. Trotzdem denke ich an das fehlende Zirpen und Trällern. Vielleicht war es da und ich hab es einfach nicht gehört. In meinem Alter ist mit Ausfällen zu rechnen, das weiß jeder Mensch. Mein Gehör war Zeit meines Lebens außerordentlich gut gewesen. Eine feste Größe, auf die ich mich immer verlassen konnte. Ich erwäge einen Arztbesuch in der nächsten Woche. Leicht beunruhigt gehe ich ins Bad und stelle mich unter die Dusche. Das lauwarme Wasser bringt andere Gedanken. Heute morgen will ich unbedingt den Kinderbuchtext fertig bekommen, um dann vielleicht noch ein zweites Manuskript zu beginnen. Außerdem wird es Zeit, mich um meine Kurzgeschichtensammlung zu kümmern, die fertig layoutet ist. Ich stelle das Wasser ab, steige aus der Dusche und schaue in den Spiegel. Rasieren? Nein, keine Lust. Also abtrocknen und anziehen. Dabei fällt mir auf, dass keine gebügelten Hemden mehr im Schrank liegen. Es gibt lästige Dinge in dieser Welt und bügeln gehört eindeutig dazu. Ich öffne das Fenster und gehe runter in die Küche.

Mit einem Druck auf den kleinen Schirm aktiviere ich die Nachrichtenkonsole in der Wand, die Feeds trudeln ein. Wenig Interessantes dabei. Nachrichten aus meiner alten Heimat. Ich schalte ab und mache Milchkaffee. Guerlaine kommt mir in den Sinn. Den werde ich heute Morgen anrufen. Vielleicht lässt sich ja ein wenig mehr aus der Sache herausholen. Zum Beispiel denke ich da an einen zweiten Frischwasserbrunnen Richtung Talausgang. Links und rechts des Grundstücks ist niederes Buschwerk, kleinere Bäume und ein paar Pinien. Davon kann ich getrost etwas abgeben. Ein zweiter Brunnen hingegen ist Gold wert. Ich schlürfe einen Schluck Milchkaffee, schalte den Kommunikator ein. Die wunderschön samtene Stimme begrüßt mich und teilt mit, dass heute Freitag der 31. Juli 2037 ist und sich die EU-Region Ligurien-Alpes-de-Haute-Provence auf 38 Grad Tagestemperatur freuen kann. Hurra. Ein ganzer Tag im Haus.
Ich sage Operator ins Mikro. Der kleine Bildschirm wird hell. Eine gut aussehende Computerdame fragt nach meinem Verbindungsziel. Die Präfektur in Digne-les-Bains. Sie bedankt sich und verbindet mich mit der Präfektur. Die bestätigt die Verbindungsanfrage und eine echte Dame schaut freundlich in die Kamera. Ein paar ihrer Haare bewegen sich. Klimaanlage.
»Guten Tag, Monsieur. Ich bin Madame Reynaud. Was kann ich für Sie tun?«
»Ebenfalls einen guten Tag, Madame Reynaud. Gestern war jemand von der Präfektur bei mir, um über einen Grundstückskauf zu reden, weil die Präfektur dort eine Straße verbreitern möchte. Der Mann heißt Guerlaine. Ich würde ihn gerne sprechen.«
»Wie ist ihr Name?«
»Bernheimer.«
»Einen Moment, Monsieur Bernheimer.« Sie verschwindet vom Monitor und das Wappen des Départements erscheint, eine Musik in Dauerschleife im Hintergrund. Die Melodie kommt mir bekannt vor … irgendein Schlager vielleicht. Furchtbar. Madame Reynaud schaut mich unvermittelt wieder an. »Tut mir leid, Monsieur Bernheimer, aber einen Monsieur Guerlaine haben wir nicht in der Präfektur. Wo wohnen Sie denn?«
»In Le Bourguet, südlich von Castellane. Rue Brenon, Nummer 18.«
»Einen Moment …« Wieder ist sie weg. Ich bin verwirrt, beschließe aber abzuwarten. Vielleicht nur ein derart neues Projekt, dass es sich noch nicht bis in alle Abteilungen herumgesprochen hat. Behörden … die linke Hand weiß nicht was die rechte Hand tut. Madame Reynaud taucht wieder auf, kratzt sich den Scheitel und schaut zerknirscht. »Von welcher Abteilung war denn dieser Monsieur Guerlaine?«, will sie wissen.
»Er nannte die Abteilung Tourismusentwicklung.«
»Moment, Monsieur, ich stelle Sie zu Monsieur Canard durch, den Abteilungsleiter. Wiedersehen, Monsieur Bernheimer, vielen Dank für Ihren Anruf.«
»Ja, auf Wieder…« Sie ist schon weg. Stattdessen schaue ich auf das unfreundlich wirkende Gesicht dieses gewissen Monsieur Canard.
»Monsieur Bernheimer, was haben Sie denn da für eine Geschichte auf Lager?«, fragt mich das unfreundliche Gesicht in einem weitaus unfreundlicheren Ton. Als hätte ich ihn bei seiner wichtigsten Arbeit gestört.
»Also, Monsieur Canard, ich entschuldige mich vielmals für die Störung, aber gestern war ein Herr bei mir. Ein Monsieur Guerlaine. Er hatte einen Dienstwagen samt Fahrerin. Ich bat ihn herein und er fragte mich, ob ich bereit wäre, ein Stück Land oben am Pass zum Nachbartal abzugeben. Im Gegenzug würde ich hier unten etwas dazubekommen.«
»Für was sollen Sie denn das Stück Land abgeben?«
»Für die Verbreiterung der Straße, so dass auch größere Fahrzeuge im Gegenverkehr gut passieren können.« Canard schweigt und starrt mich an. Als müsste er überlegen, ob ich ihn in großem Stil veräppeln wollte oder nicht. Auf seinem Gesicht zeigen sich plötzlich tiefe Falten. Er hebt den Finger und beginnt ihn hin und her zu schwenken.
»Monsieur Bernheimer … ich gehe mal davon aus, dass diese Geschichte die Wahrheit ist, denn sonst würde ich ärgerlich werden ob dieser Zeitverschwendung«, er holt Luft. »Wir haben keine Abteilung für Tourismusentwicklung. Wir haben keinen Monsieur Guerlaine, wir planen keine Verbreiterung irgendeiner Straße in und um Ihren Wohnort, und Dienstfahrzeug mit Chauffeur steht nur dem Präfekt zu.« Wir fixieren uns für zwei Sekunden.
»Ja, das versteh ich aber wirklich nicht. Wer war denn dann der Mann?«
Canard drehte die Handflächen nach oben. »Tja, Monsieur, ein Spinner vielleicht? Möglicherweise ein privater Investor, der mal abklopfen wollte, was in der Gegend geht und was nicht? Wer weiß das schon. Wir jedenfalls nicht. Ich wünsche einen guten Tag«, sprichts und beendet die Verbindung.
Ich schaue noch eine kurze Zeit auf das Display, schalte das Gerät aus und überlege hin und her … privater Investor, das ist ja durchaus eine Möglichkeit. Da kann mir ja eigentlich jeder alles erzählen. Ich hätte mir den Dienstausweis zeigen lassen sollen, ich Idiot. Na ja, er wird vielleicht wiederkommen, dann werde ich ihm die Meinung geigen. Unglaublich, was einem alles so passieren kann. Mit einem großen Zug leere ich den Milchkaffee und entschließe mich zu arbeiten.

Kurz nach zwei kommt eine bleierne Müdigkeit, ich gähne ausgiebig, stehe auf und drücke das Kreuz durch. Das lange Sitzen ist doch schon recht anstrengend für mein in die Jahre gekommenes Rückgrat. Obwohl ich nie ernsthafte Schwierigkeiten damit hatte, komme ich nicht umhin, es ein wenig zu schonen. Ich gehe hinunter in die Küche und als ich beiläufig auf den Kommunikator schaue, fällt mir wieder Madame Colombier ein. Spontan stelle ich eine Verbindung her. Es dauert etwas, bis sie antwortet, aber dann sehe ich ihr Gesicht auf dem kleinen Monitor. Offenbar hat sie Schwierigkeiten mich zu erkennen.
»Ja, bitte? Wer ist denn da?«
»Ich bin es, Monsieur Bernheimer.«
»Oh, Monsieur Bernheimer. Das ist aber eine Überraschung. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Madame Colombier, ich möchte Sie zu einem Flammkuchenessen einladen. Hier bei mir. Wäre Ihnen der Samstagabend genehm?« Sie ist für einen Augenblick still und dreht kurz ihr Gesicht weg. Als wären wir beide noch Teenager und sie müsste sich erst umdrehen, um ihren Vater zu fragen.
»Das kommt jetzt aber sehr überraschend. Sie wollen mich doch nicht verführen?«
»Nur zu einem Flammkuchen.« Sie legt den Kopf schräg und lächelt.
»Ich glaube, ich muss mal bei Gelegenheit mit meinem Mann reden. Er hat sich wirklich getäuscht in den Deutschen. Ich werde also bei Ihnen Flammkuchen essen, aber wie komme ich zu Ihnen raus?«
»Wie das mit den Deutschen ist, weiß ich nicht genau, in meinem Fall bin ich mir jedoch sicher. Natürlich hole ich Sie ab. Das ist doch selbstverständlich. Und abends werde ich Sie wieder gesund nach Hause bringen.«
»Wann kommen Sie?«
»Ich würde sagen, um sechs Uhr morgen Abend.«
»Das ist mir recht.«
»Prima, Madame Colombier. Ich freue mich. Bis morgen also.«
»Bis morgen, Monsieur Bernheimer. Und vielen Dank.« Sie schaltet ab. Mein erstes Treffen mit einer Dame seit … verflixt, es fällt mir nicht ein. Aber meine Freude ist groß. Nicht nur, dass ich mal wieder Flammkuchen machen werde, plötzlich ist da ein lange unterdrückter Wunsch nach etwas Geselligkeit, nach einem Gespräch. Die Dialoge in meinen Geschichten sind gut, begeistern mich, doch letztlich ist es nur mein zweites Ich, mit dem ich diskutiere. Zwischen den Alltäglichkeiten jahraus, jahrein ist mir wohl gar nicht aufgefallen, dass Worte eines Gegenübers eine Wohltat sein können – wenn es denn ein kluger Mensch ist. Im Kopf gehe ich die in meiner Speisekammer gelagerten Zutaten durch und bin mir sicher, für alle Eventualitäten gerüstet zu sein.
Seltsamerweise denke ich kurz an Guerlaine, das konturlose Gesicht. Der Kerl hat mir ein Märchen aufgetischt, mich für dumm verkauft. Ich rufe spontan den Operator an, lasse mir Telefonnummern und Adressen aller Guerlaines im Umkreis von 100 Kilometern an meinen Maileingang schicken. Vielleicht kann ich anhand der beigefügten Berufsbezeichnungen etwas finden, ihn ausfindig machen. Doch jetzt kommt erst das Frühstück, ein Milchkaffee, die restlichen Bruschettas von gestern Abend. Als ich mich zum Kaffeeautomat umdrehe, höre ich ein Fahrzeug kommen, gleich darauf quietschende Bremsen. Die Post. Nur die besitzt ein so altes Auto. Ich öffne und eine Wand aus Hitze drängt sich mir entgegen. Der Mann von der Post trägt zwei Pakete und kommt zügig zum Eingang. »Kommen Sie rein. Hier ist es schön kühl.«
Er marschiert in die Küche, murmelt ein Hallo im Vorbeigehen. Ich folge dem penetranten Schweißgeruch. Die Pakete liegen bereits auf dem Küchentisch, der Zusteller sitzt auf einem Stuhl und zieht den Scanner über die Paketmarken. »Möchten Sie etwas trinken? Bei dieser Hitze muss man viel trinken, zumal in ihrem Beruf.«
»Ja, gerne, vielleicht ein Glas kaltes Wasser.«
»Kommt sofort.«
Ich fülle ein großes Glas und stelle es auf den Tisch. Neugierig schaue ich dabei auf den Adressaufkleber des einen Paketes. Es ist die Bettwäsche. Der Zusteller trinkt das Wasser in einem Zug aus und hält mir den Scanner unter die Nase. »Bitte ihren Fingerabdruck.« Ich drücke den Daumen auf das Glas. Die Echtheit wird bestätigt. »Vielen Dank. Auch für das Wasser.« Er steht auf. »Ich muss weiter. Die Karre ist noch fast voll. Und hier draußen braucht man ewig.«
Aus der Hosentasche angle ich einen Zehn-Euro-Schein. »Hier. Für die Mühe.«
»Oh, vielen Dank, Monsieur Bernheimer. Das ist sehr freundlich.« Er verabschiedet sich überschwänglich und ist wieder weg.

Über der Arbeit am zweiten Manuskript ist es Abend geworden. Ein Band bestehend aus Kurzgeschichten, die von einem alten Mann handelten, der die Zeit des Mauerfalls 1989 und der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 als seinen Lebenshöhepunkt kurz vor seinem Tod erlebte. Nicht gerade ein Meisterwerk der Literatur, aber der Verlag hat es angenommen. Sie wollen ein Hörbuch und parallel ein 3D-Holo für den Geschichtsunterricht daraus machen. Ich feile an mancher Formulierung, aber die Sprache des Autors ist insgesamt zu schlecht, als dass große Änderungen nicht aufgefallen wären. Mein Blick wandert auf das Symbol einer analogen Uhr, das auf dem Bildschirm abgebildet ist. Kurz vor zehn. Ich tippe mit dem Zeigefinger auf den Maileingang, spreche einen kurzen Text für den Verlag in die Datei, hänge sie an und schicke es nach Berlin. Gutes Geld für leichte Arbeit. Es wird mal wieder Zeit für etwas Anspruchsvolles. Der Mailclient leuchtet für den Bruchteil einer Sekunde orange auf und teilt mit, dass die abgeschickte Nachricht wieder zurückgekommen ist. Empfänger unbekannt. Empfänger unbekannt? Was für ein Blödsinn.
»Aumann-Verlag, Berlin«, spreche ich ins Mikro. Die Verbindung wird aufgebaut. Wie erwartet ist niemand mehr da. Eine schmeichelnde Frauenstimme erzählt mir, wann die Bürozeiten sind und kann gerne eine Nachricht von mir für Herrn Aumann speichern, die sie ihm freundlicherweise am nächsten Tag übermitteln würde. »Guten Abend, Richard. Ich bin es, Frank. Gerade wollte ich eine Mail mit einer Korrektur senden. Sie kam zurück mit dem Vermerk, dass der Empfänger unbekannt sei. Vielleicht stimmt was mit eurem Mailserver nicht. Schaut doch mal nach. Grüße aus dem warmen Süden.« Mit dem Finger schiebe ich das Symbol zum Bildschirmrand. Noch ein Versuch. Sie geht anstandslos durch. Mit einem Fingertipp schalte ich den Computer aus und gehe für einen Schlummertrunk hinunter in die Küche.

Als ich unten bin, kommt es mir vor, als hätte ich kurz ein Rascheln oder etwas ähnliches gehört. Unwillkürlich taste ich nach dem Lichtschalter, aktiviere das Flurlicht. Niemand da. Natürlich nicht. In der Küche ist es stockdunkel. Als ich den Schalter umlege, erstarre ich vor Schreck. Mir wird urplötzlich so heiß, dass ich einen Schweißausbruch bekomme. Mein Herz pocht. Dem Mann am Küchentisch wird das nicht entgehen. Er hat weiße Handschuhe an und eine unsagbar dämliche Mütze auf dem Kopf.
»Guten Abend, Monsieur Bernheimer. Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen diesen Schrecken einjage.« Er kommt mir bekannt vor, hatte ihn vor kurzem noch gesehen, aber wo? Zumindest macht er nicht den Eindruck eines profanen Diebes.
»Wie sind Sie hier reingekommen?«
»Durch die Tür.«
»Die Tür ist verschlossen.«
»Und das ist sie auch wieder.«
»Ich kenne Sie doch?«
»Aber ja, wir haben heute telefoniert. Erinnern Sie sich? Monsieur Canard von der Präfektur.« Tatsächlich! Der Klumpen in meinem Hals löst sich. Ein Mitarbeiter der Präfektur ist sicher kein böser Mensch.
»Schön, Monsieur Canard, Sie sind in mein Haus eingedrungen, haben nicht die Klingel benutzt, mit irgendwelchen nicht legalen Werkzeugen die Tür geöffnet … was hindert mich daran, die Gendarmerie zu rufen?«
»Ich hoffe, meine Erklärung, die ich für Sie habe.«
»Sind Sie im Nebenberuf Auftragskiller oder so was? Handschuhe aus der Requisite und eine Mütze, die – mit Verlaub – ziemlich dämlich aussieht.« Mit dem rechten Fuß ziehe ich einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setze mich.
»Lassen Sie mich einfach erzählen.«
»Na gut, da bin ich mal gespannt. Das muss eine gute Erklärung sein.« Canard setzt sich aufrecht hin, rückt den Stuhl an den Tisch und legt beide Unterarme auf die Tischplatte. Mit seiner rechten Hand nimmt er sich den Flaschenkorken, den ich heute Morgen habe liegenlassen und dreht ihn zwischen seinen Fingern. Für einen kurzen Moment hat es den Anschein als sammle er seine Gedanken sammeln, um einen sinnvollen Anfang zu finden. Als Schriftsteller kennt man das. Also lehne ich mich gespannt zurück.

»Monsieur Bernheimer oder soll ich Sie mit ‚Johannes Meissner‘ anreden?« Ruckartig richte ich mich auf. Da ist das Gefühl einer Hand um meine Kehle. »Woher …« Canard deutet an, dass ich still sein soll.
»Sie kommen am 18. August 1971 in Köln auf die Welt. Ihr Vater, Walter Meissner, Angestellter und Alkoholiker, verstirbt 1989 mit vierzig Jahren sehr früh an einer Embolie. Sie sind bei seinem Tod achtzehn Jahre alt. Ihre Mutter, Carola Meissner, geborene Wilhelmi, folgt ihrem Vater zehn Jahre später. Tod durch Hirnschlag. Ist das soweit richtig?« Er sieht mich an. Canard weiß um die Wirkung seiner Worte. So viel ist klar. Nur deshalb macht er die Pause. Bei seinem Wissensstand benötigt er keine Bestätigung meinerseits. Vor allem weiß er, dass diese Dinge weit zurückliegen und ich sie aus meinem Kopf gestrichen habe. Sein Blick verrät es mir. Ich nicke nur leicht. »Ihr Vater ist kein Vater, wie man ihn sich wünscht. Dem Alkohol zugeneigt, kaum Fürsorge der Familie gegenüber, ein Mensch mit deutlichen Defiziten.« Wieder macht er eine längere Pause, dreht den Flaschenkorken und sieht mich unentwegt an. Ich bleibe still. Nicht, weil ich so abgebrüht bin, sondern hier offenbar jemand mein Leben aufgerollt hat. Ein unscheinbarer Abteilungsleiter einer mittelgroßen Präfektur? Lächerlich! Das ist das Unglaubliche daran. Wer ist dieser Kerl wirklich?
»Wer sind sie, Monsieur Canard? Erzählen Sie mir nichts von wegen Abteilungsleiter in der Präfektur.«
»Ich bin in der Tat Abteilungsleiter bei der Präfektur in Digne-les-Bains. Das können Sie ruhig glauben. Die Frage ist: Was bin ich zudem noch? Und eine weitere Frage ist: Vertrauen Sie mir?«
»Ich habe keine Ahnung, ob ich Ihnen vertrauen kann oder was auch immer.«
»Es wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, Monsieur Bernheimer, da Sie nun in unser Wissen eingeweiht werden. Damit lassen wir Sie eine Schwelle übertreten. Eine Schwelle, die Sie selbst schon lange nicht mehr übertreten haben. Es sei denn, sie fordern mich jetzt auf zu gehen.«
»Sie haben mich ja nun angefixt …«, ich überlege einen Moment. »Was wäre, wenn ich Sie auffordern würde zu gehen?«
»Ich würde gehen. Allerdings wissen Sie ab jetzt, dass ich nicht nur ein Abteilungsleiter in der Präfektur bin. Damit sind Sie für uns verbrannt.«
»Verbrannt? Also nutzlos?«
»So ist es.«
»Ich vermute, das wäre für mich von Nachteil?«
Canard dreht am Korken und schaut zum Fenster hinaus. Eine ausreichende Antwort. »Kann ich ein Glas Wasser haben?« Ich schüttle verwundert den Kopf, stehe auf, stelle Glas und eine Karaffe Wasser auf den Tisch. Er schenkt sich ein und genießt einen großen Schluck. »Danke für das Wasser. Wenn Sie erlauben, Monsieur Bernheimer, dann mache ich weiter.«
»Bitte sehr. Ich bin ganz Ohr.«
Canard legt den Korken weg und schlägt die Beine übereinander. »Das Leben ihrer Familie ist unstet. Sie ziehen von A nach B nach C und Ihre schulische Karriere ist ein Desaster. Probleme mit Autorität. Das haben Sie auch heute noch. Sie sind nicht gesellschaftsfähig, ein Eigenbrötler, Einzelgänger, ein Querulant. Man kann sie nur lieben oder hassen. Dazwischen gibt es nichts. Ihnen ist es recht.«
Ich ziehe die Unterlippe hoch und zucke mit den Schultern, stehe auf und hole ein zweites Glas. Aber ich fülle vom Rotwein ein. Aus dem Hängeschrank über der Küchenzeile nehme ich zwei Tüten Erdnüsse, reiße beide auf und lasse den Inhalt in zwei Schüsseln kullern. »Hier, Monsieur Canard. Man soll mir ja nicht nachsagen, ich wäre ein schlechter Gastgeber.«
»Danke, nein. Ich habe ein Nussallergie.«
»Das macht Sie ja fast schon menschlich.«
»Sie haben ein falsches Bild von mir. Ich kann es Ihnen aber nicht verdenken.«
»Ich habe überhaupt kein Bild von Ihnen. Das ist das Problem. Ich weiß immer noch nicht, was Sie wollen.« Er sieht mich an, als wollte er mich hypnotisieren. Eine Handvoll Erdnüsse verschwindet in meinem Mund.
»Sie waren verheiratet, Monsieur Bernheimer. Aber Ihre Frau stirbt bei einem Autounfall, den Sie, schwer alkoholisiert, verursacht haben, was aber nur das Ende einer sowieso schon kaputten Ehe ist, nicht wahr?« Die Erdnüsse sind gut, denke ich und versuche mir vorzustellen, wie ich diesen Kerl aus dem Haus jage. »Ihr Sohn hat Ihnen das übrigens nie verziehen, Monsieur Bernheimer … oder soll ich ab jetzt Monsieur Meissner sagen?«
Ich denke an das große Messer. Ist dieser Canard schneller als ich? Wo könnte ich den toten Körper ablegen? Hinten, in der großen Kühltruhe … weiß jemand, dass er hier ist? Canard beugt sich über den Tisch, schiebt das Glas auf Seite.
»Lieben Sie Ihren Sohn, Monsieur Meissner?«
Für mein Alter geht es überraschend zügig. Das muss die Wut sein. Aufspringen, der Stuhl kippt um, schon bin ich neben diesem Kerl … und spüre den kühlen Lauf einer Waffe an meinem Nabel. Er sieht mich von unten an mit einem schmallippigen Lächeln. »Sind Sie deshalb in die Isolation, weil Sie schnell die Beherrschung verlieren?«, fragt er leise. »Setzen Sie sich bitte wieder«, fordert Canard mich auf. Die Waffe ist wieder verschwunden. Im Hosenbund? Also wieder hinsetzen …
»Ihr Sohn ist für uns nicht von Interesse. Ihr Bruder durchaus.«
»Ich habe keinen Bruder«, erwidere ich harsch. Diese Monstrosität mir gegenüber kennt offenbar jede noch so kleine Schwachstelle, als wäre Siegfried im Blätterregen des Herbstes ins Drachenblut gestiegen. Er deutet auf die Nice-Matin, die immer noch auf dem Tisch liegt.
»Sie sind bockig. Doch, haben Sie. Leander Meissner. Der zweite Präsident der Europäischen Union. Gewählt am 30. Januar 2033. Und in dieser Zeitung ist ein nettes Foto abgebildet. Haben Sie sie deshalb gekauft?«
Ich seufze ausgiebig. »Ich habe die Zeitung gekauft, weil ich ab und zu gerne Zeitung lese. Es gibt ja nicht mehr sehr viele in diesen modernen Zeiten. Und ich bin ein Relikt, wie Sie ja sicher wissen.«
»Das glaube ich Ihnen sogar.« Er trinkt langsam zwei, drei Schluck von meinem guten Brunnenwasser und stellt das Glas wieder ab. »Im Jahre 2015 wird in Deutschland, Frankreich, Italien und Polen die Abendländische Erneuerung gegründet. Eine christlich-konservative Partei. Sechs Jahre später ist Ihr Bruder Vorsitzender dieser Partei, die es inzwischen in jedem EU-Land gibt und zwar nicht die Mehrheit in Straßburg hat, aber größte Fraktion ist, ohne«, Canard hebt den Finger und zeigt fast so etwas wie Erregung, »ohne dass sie mit anderen Fraktionen koalieren muss.«
»Ja, und?«
»Der erste Präsident, Albért Bunuel, kann nur Präsident werden, weil sich alle anderen Fraktionen zusammenschließen. Nur der rechte und linke Rand sind dagegen.«
»Erzählen Sie mir was Neues.«
Er setzt sich aufrecht. »Und jetzt beginnt die Geschichte interessant zu werden. Ihre Geschichte und die Ihres Bruders.«

Ich muss einfach gähnen. Es ist schon spät. Canard nimmt mir das wohl übel. Er sieht mich irritiert an, dann mit einer gewissen Abneigung. »Monsieur Canard, ich bin keine zwanzig mehr und müde. Erzählen Sie, was an der Geschichte so interessant ist, damit ich ins Bett kann.«
»Monsieur Meissner, in meinen Augen ist das vertane Zeit, was ich hier tue. Ich wurde jedoch angehalten, den Kontakt zu Ihnen aufzunehmen. Also führe ich die Anweisung aus. Dummerweise haben Sie zuerst den Kontakt zu mir aufgenommen, so wurde unser Anliegen zeitlich nach vorne verlegt.« Ein wenig kann ich die Müdigkeit in die Ecke schieben. So war das also.
»Wollen Sie mir nicht endlich erzählen, wen Sie mit Wir meinen? Von welchem Verein kommen Sie? Das würde mir die Sache wesentlich vereinfachen.« Canard spielt mit dem Korken. Dann trinkt er das Glas aus, schenkt sich nach und lehnt sich zurück. Sein Blick ist entschlossen.
»Sie müssen nur wissen, dass es Widerstand gibt gegen das, was Ihr Bruder tut oder vorhat.«
»Widerstand? Was hat mein Bruder denn getan?« Canard schüttelt den Kopf und seufzt lautstark.
»Wann haben Sie das letzte Mal mit ihm geredet?«
»Keine Ahnung, vor Ewigkeiten. Was hat das damit zu tun?«
»Warum haben Sie den Kontakt zu ihm abgebrochen?« Canard lässt nicht locker.
»Herrje! Das wissen Sie doch sicherlich! Ich meine, Sie wissen ja wohl alles über mich … weil er zu den Evangelikalen übergetreten ist, verblendet auf seiner ewigen Suche nach einem Sinn des Lebens.« Ich winke ab und greife eine Handvoll Erdnüsse. »Das hat mich aber am Ende nicht mehr interessiert! Wie der ganze Rest …« Schweigend versuche ich die Erdnüsse zu zählen, komme aber draus. »Widerstand … das hört sich ziemlich hochtrabend an«, ätze ich. »Warum haben Sie mich nicht einfach besucht und schicken stattdessen diesen schmierigen Waschlappen Guerlaine …«
Canard bewegt den Zeigefinger hin und her. »Guerlaine, oder wie immer er heißen mag, ist nicht von uns. Ihr Bruder hat ihn geschickt.« Es reißt mich wieder vom Stuhl. Eine Kraft von irgendwo lässt mich aufstehen. Ohne nachzudenken, gehe ich aus dem Haus, setze mich auf die Bank. Mein Bruder hat dieses Stück Seife geschickt? Was ist das für ein Film? Canard tritt aus dem Haus, das Glas in der Hand, gähnt ausgiebig und nimmt neben mir Platz.
»Ihr Bruder weiß, dass wir mit Ihnen Kontakt aufnehmen wollen.«
Ich fühle mich leer. Als hätte der Mond die Erde verlassen. In was rutsche ich da hinein? »Ich will jetzt wissen, was Sie von mir wollen.«
»Sie sollen ihren Bruder für uns töten.«
»Ich soll was?!«
Canard antwortet nicht. Wir sitzen eine lange Zeit nebeneinander auf der Bank und schweigen. Ich weiß nicht, was sagen und habe nicht mehr das Gefühl in meiner bisherigen Wirklichkeit zu sein. In der letzten Stunde hat man mich mehr als einmal in siedendes Wasser getaucht und dann mit Eiswasser übergossen. Ich friere plötzlich, die Füße werden kalt und beginnen zu schmerzen. Bei 27 Grad Außentemperatur kurz nach 23 Uhr ist das schon seltsam. Meinen Bruder töten … was für ein Blödsinn. Dann kommt mir ein Gedanke.
»Sie sagten, Guerlaine wäre durch meinen Bruder geschickt worden. Das halte ich für unmöglich. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass ich bei der Präfektur nachfrage, müssen die Unbekannten ja eingeplant haben. Damit fliegt der Schwindel ja auf.«
»Ein guter Einwand, aber irrelevant, weil sie natürlich nach uns suchen. Wer damit rechnet, dass Sie bei der Präfektur nachhaken und wissen will, ob Guerlaines Angebot der Wahrheit entspricht, schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe. Erstens nimmt er Kontakt auf zu Ihnen und zweitens erfährt er, wer in der Präfektur für den Widerstand arbeitet. Dieser Plan hat dank Ihnen funktioniert.«
Ich bin entsetzt. »Das heißt, ich bin blindlings in diese Falle getappt und nun sind Sie dank mir aufgeflogen?!« Im Halbdunkel kann ich Canards Augen nur schwer erkennen. Sie leuchten nicht, der Blick ist matt, fast schwarz. Aber er sieht mich an.
»Ich bin Ihnen nicht böse, Monsieur Meissner. In dieser Angelegenheit stand die Logik der Ereignisse schon vorher fest.« Jetzt empfinde ich fast so etwas wie Mitleid für ihn.
»Sie sind verbrannt, Canard, wie man so sagt.«
»In der Tat …«
Das Licht im Unterstand meines Wagens flackert ein paar Mal. Ich muss es ersetzen, denke ich und weiß, dass ich mich ablenken will, weg vom letzten Punkt von Canards Besuch. Es bleibt die alles entscheidende Frage. »Was für einen Grund sollte es für mich geben, ihre Forderung umzusetzen?« Canard steht auf. Mit der Fußspitze zeichnet er einen Ring in den feinen Kies. Das Ende seines Vortrages kommt näher.
»Wir haben ein Ziel: Ihren Bruder. Und Sie haben ein Ziel: Ihren Sohn retten …«
»Meinen Sohn retten? Was hat er damit zu tun? Ich weiß nicht mal, wo er lebt …«
»Bei Ihrem Bruder. Er ist verheiratet, wird bald Vater und Leander Meissner vereinnahmt ihn mehr und mehr. Wenn Ihnen etwas an Ihrem Sohn, an der Zukunft Ihres Enkelkindes liegt, müssen Sie handeln!«
Die Kraft verlässt mich. Ich sehe sie förmlich davonschwimmen. Wie ein seniler Greis knicke ich ein, beuge den Oberkörper nach vorne. Gestern war mein einziges Problem das Essen zu planen für Madame Colombiers Besuch. Canard legt eine Hand auf meinen Rücken. Ich zähle die Kieselsteine, gebe auf und strecke mich. Er nimmt die Hand zurück und stellt sich vor die Bank, drei Schritte entfernt. Das Gesicht zum Haus. Spärliches Licht aus der Küche bräunt seine blasse Haut. »Warum wollen Sie ihn beseitigen? Was hat er denn getan? Und warum ich?«
Er lacht künstlich, fast als begreife er nicht, wieso jemand überhaupt diese Fragen stellt. Das weiß doch jedes Kind … nein, ich weiß es nicht … vielleicht. Vielleicht weiß nur ich es nicht. »Sie leben wirklich nicht mehr in dieser Welt, was, Monsieur Meissner? Sie essen, trinken, können sich das Meiste leisten, haben ein bequemes, gekühltes Haus, stehen auf, wann Sie wollen …« Ich glaube, er wird wütend, ungehalten über meine Naivität, schwenkt den Arm und deutet mit der Hand auf das Gebäude. »Sie haben es sich bequem gemacht in der Isolation und spucken auf die Welt, die Menschen um sie herum. Das geht Sie alles nichts mehr an. Sie sind ein Feigling …«
»Vielleicht bin ich ein Feigling«, falle ich Canard ins Wort, »aber sicherlich kein Auftragsmörder.« Er schweigt und greift in die Hosentasche. Ich denke an eine Waffe, ein Messer. Es ist nur ein Stick, der da in seiner Hand liegt.
»Nehmen Sie das und spielen Sie die Software auf ihren Rechner. Das eine oder andere Mal werden Sie bemerken oder schon bemerkt haben, dass der Mailverkehr nicht richtig funktioniert, das Netz einen kleinen Hänger hat, Dinge, die nur kurz auffallen und gleich wieder im Alltag verschwinden. Nichts, worüber man sich Sorgen machen muss. Aber genau darüber sollten Sie sich Sorgen machen. Ihr Bruder ist schon bei Ihnen, Monsieur Meissner. Diese Software und die Anleitung darauf lesen Sie bitte genau durch. Prägen Sie es sich ein. Danach versenken Sie den Datenträger in Essig. Es wird nichts mehr von ihm übrig bleiben.« Mailverkehr, der nicht korrekt funktioniert? Ich nehme Canard den Stick ab. »Ich werde jetzt gehen. Sie sehen mich nicht wieder. Ein anderer aus unserer Organisation wird sich bei Ihnen melden. Das Glas nehme ich mit.«
»Das Glas? Warum?«
»Sie könnten vergessen, es zu spülen. Schon bald rechnen wir wieder mit Besuch bei Ihnen. Alles was uns verrät, ist beiseitezuschaffen.«
»Ich könnte Sie verraten.«
»Das glaube ich nicht. Es wäre sinnlos. Welchem Zweck sollte ein Verrat dienen? Denken Sie lieber über Ihr Leben nach. Schauen Sie in die Vergangenheit, auf Ihren Sohn und vor allem: Beenden Sie ihre Isolation!« Er dreht sich um und geht ins Dunkel. Die hundert Meter zur Straße. Gibt es da jemanden, der auf ihn wartet? Dem er Bericht erstatten muss? Aus einem plötzlichen Impuls heraus will ich hinter ihm her und nachsehen, wohin er verschwindet. Ich lasse es bleiben. Wofür auch? Seine Drohung gibt mir zu denken. Nein, keine ausgesprochene Drohung. Nur das Schweigen auf meine Frage. Ich weiß nun, dass es diesen Widerstand gibt. Ich bin ein Mitwisser. Hier, in meinem wunderbaren Häuschen, in einer Gegend, für die ich schon immer eine besondere Art der Zuneigung empfand, ein Gefühl von Heimat. Fast wie eine Romanze. Das will ich mir nicht zerstören lassen. Was bleibt mir übrig? Da rollt ein Tsunami auf mich zu und ich kann ihn noch nicht sehen. Aber ich bin eindeutig sein Ziel. Vom nahen Le Bourguet höre ich die Kirchturmuhr Mitternacht schlagen. Wirklich Zeit ins Bett zu gehen. Schließlich kommt Madame Colombier.

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