HudRvK | Kapitel 4

Die Freunde

Mein Weg zum Kindergarten ist ein besonderer. Nur dort begegne ich jenem Mann, der wie ein König auf einem Holzstuhl thront, in einer schäbigen Baracke, mitten auf einem Schrottplatz, der so was wie ein Wunderland ist. »Guten Morgen, mein Kleiner«, begrüßt er mich meist, lächelt und reicht mir ein Stück Pumpernickel mit Tomate.
»Danke«, sage ich leise.
»Musst nicht so schüchtern sein. Kennst mich doch jetzt schon lange.« Seine große Hand klopft vorsichtig meine Schulter. »Gehst mal wieder in den Kindergarten, was?«, fragt er, obwohl er weiß, dass es genau so ist. Jeden Morgen um acht Uhr den Berg hinunter, vorbei am Schrottplatz, ihm einen Besuch abstatten, kurz nach zwölf wieder den Berg hoch, nachschauen, ob er noch lebt. Was immer der Fall ist.
»Wie heißt du eigentlich«, erkundigt er sich in den ersten Tagen unserer Zweisamkeit.
»Heinrich.«
»Oha, Heinrich …« Mit wasserblauen Augen starrt er durch die dreigeteilte Scheibe seines Kontors. »Was für ein wunderschöner Name. Ich dagegen habe nicht so einen tollen Namen. Meiner Mama ist nur Fritz eingefallen.«
»Fritz«, wiederhole ich, »ein Opa von mir heißt Fritz.«
»Viele Männer in unserem Alter heißen so«, erklärt er. »Das war mal ganz modern.«
»Ich mag Opa Fritz nicht«, stelle ich klar. Fritz lacht so tief und laut, dass ich meine, die Scheiben klirren zu hören.
»Das macht nichts, Heinrich. Ist wohl einfach nur ein alter Mann, dem Kinder nichts bedeuten.«
Ich nicke, aber so ganz begreife ich seine Worte nicht.

Wir werden zusammen älter, Fritz und ich. Morgens schenkt er mir Brot und Tomate, auf dem Nachhauseweg erzähle ich ihm vom Sandkasten, der dummen Sabine und dem geizigen Oliver. Fritz lacht. Sein enormer Bauch schwappt hin und her, wie eine Barkasse in der Dünung. Eines Morgens betrete ich voller Stolz seine schäbige Hütte. Fritz sitzt zusammengesunken auf dem Holzstuhl. So still und reglos, dass ich Angst bekomme. »Guten Morgen«, rufe ich laut. Fritz schlägt die Augen auf und es freut mich, diese wasserblaue Farbe zu sehen.
»Einen wunderschönen guten Morgen, Heinrich.«
Ich deute auf das mit schwarzer Farbe an die Tür gemalte Wort. »Was heißt ‚Kontor‘?«
»Kontor ist das Büro«, meint er und mustert mich für einen Moment schweigend. »Du kannst
lesen?«, fragt er dann. »Moment …« Aus einer Schublade kramt Fritz eine vergilbte Zeitschrift. »Hier. Wie heißt die Zeitschrift?« Er hebt sie vor mein Gesicht. Es ist das große Wort, hat Mama erklärt. Immer das große Wort. Und es steht meist oben.
»Metall«, sage ich. Fritz lässt sich auf seinen Stuhl fallen. Der knackt und knirscht bedenklich.
»Puh, also ich bin jetzt wirklich platt. Wie alt bist du?«
»Fünf.«
Er knufft mich auf die Brust. Seine enorme Faust ist groß wie ein Fußball. »So einen Sohn hätte ich auch gerne gehabt«, meint er und steht wieder auf.
»Hast du keine Kinder?«
»Nein, mein Junge. Meine Frau ist gestorben, bevor wir Kinder bekommen konnten.« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. So packe ich zwei seiner Finger. Zu mehr reicht meine kleine Hand nicht. Fritz schweigt. Er vergisst mein Tomatenbrot.

Jeden Morgen und Mittag muss ich Fritz nun Worte vorlesen und diese auf ein Blatt Papier schreiben, das er in seiner Schublade aufbewahrt. Er geht mit mir über den Schrottplatz, was mir bisher verboten war. Wegen all der vielen gefährlichen Sachen, erklärt Fritz. »Das hier ist eine alte Waschmaschine. Und dort ein Borgward, den niemand mehr braucht.« Mit Borgward kann ich nichts anfangen. Aber ich sah, dass es ein Auto ist. »Und ich habe auch besondere Dinge. Aber da müssen wir hier um den Schrottberg herum.« Die besonderen Dinge stehen an der hinteren Betonwand und rosten vor sich hin, zwischen Kabeln, Fässern und alten Traktoren.
»Was ist das?«, frage ich und deute auf ein krummes Etwas.
»Das ist eine Kanone aus dem Krieg«, sagt Fritz. »Allerdings mit stark verzogenem Rohr und fehlendem Verschluss.«
»Oh, also kaputt«, stelle ich fest. Fritz lacht laut und deutet auf etwas unter einer schmutzigbraunen Teerplane. Langsam hebt er die Ecke an. Viele Räder kommen zum Vorschein. »Im Fernsehen habe ich schon mal so was gesehen«, sage ich.
»Das ist ein Panzer III«, klärt er mich auf. »Allerdings nur die Wanne.«
»Die Wanne?« Ich denke an eine Badewanne. Fritz lacht wieder und setzt mich auf seine Schulter. So zeigt und erklärt er mir nach und nach all das, was die Menschen wegwerfen, weil sie es nicht mehr wollen.
»Manchmal ist es einfach nur überflüssig, die Menschen sind es leid«, betont Fritz.

Eines Morgens entdecke ich Fritz schon aus der Ferne vor dem Kontor, mir zuwinkend, was wirklich das allererste Mal ist. Ich beginne zu rennen. Keuchend erreiche ich die Hütte und wir gehen hinein.
»Ich hab was für dich, Heinrich.« Er setzt sich und zieht ein dickes Buch aus der Schublade. Es kribbelte in meinem Bauch, so gespannt bin ich auf das, was er mir zeigen will. Fritz hebt mich auf den Schoß und öffnet das Buch. Ein Fotoalbum. Auf der ersten Seite ist nur ein Bild. Sehr groß und schwarzweiß. Ich sehe eine Frau, so schön wie Schneewittchen. Sie lächelt mich an.
»Oh, die Frau sieht aus wie Schneewittchen«, rutscht mir raus.
Fritz lacht. Fast wäre ich abgerutscht. Er zieht mich wieder hoch. »Schneewittchen«, wiederholt er, »das hätte ihr bestimmt gefallen.«
»Wer ist das?«
»Das, mein lieber Heinrich, ist meine Frau. Ihr Name war Emma.«
»Emma«, flüstere ich und präge mir jedes Detail ihres Gesichts ein. Dieses Foto schafft es, mich zu verzaubern. »Wie schön sie ist«, sage ich, ohne an Fritz oder sonst etwas zu denken. Dann durchzuckt mich die Erinnerung. Sie ist ja tot. Ich traue mich nicht, danach zu fragen und werde still. Fritz drückt mich, legt die große Hand auf meinen Kopf.
»Du musst keine Angst haben, Heinrich. Emma hätte dich sehr gerne gehabt. Ich bin sicher, sie schaut uns gerade zu und freut sich.«
Ich nickte. Und bin neugierig. »Warum ist sie tot?«
Er schluckt. Seine Stimme zittert wie kleine Zweige im frühen Herbstwind.
»Du hast doch vom Krieg gehört, oder? Von den vielen Bomben.«
»Ja. Oma und Opa erzählen viel davon. Alles war kaputt.«
»Emma war im Haus, als eine Bombe darauf fiel. Sie wurde nicht mehr gefunden.«
Ich stelle mir das Haus vor. Jemanden nicht mehr finden … das muss ein sehr kaputtes Haus gewesen sein. »Vielleicht ist sie da noch irgendwo?«, überlege ich laut. Fritz klappt das Buch zu, der Zauber verschwindet. Schneewittchen verblasst und Fritz verliert ein paar dicke Tränen. Ich stehe auf und halte seine große, ölverschmierte Hand. Was kann ich tun? Nicht in den Kindergarten gehen? Mein Bauch tut weh.

Der Schrottplatz ist nicht groß. Immer mehr Häuser werden um ihn herum gebaut. Sie klemmen ihn ein und bald mutet die Schrottinsel wie eine schwärende Wunde inmitten heiliger Ordnung an. »Sie wollen mich hier weg haben«, eröffnet mir Fritz eines Tages.
»Wer?«, wundere ich mich.
»Na, mein Junge, jetzt schau mal all die schönen neuen Häuser hier. Die sind so weiß und sauber, da wollen die Menschen keinen dreckigen, stinkenden Schrottplatz mehr sehen.«
»Aber du tust ihnen doch nichts«, ereifere ich mich.
Fritz setzt mich auf den Tisch. »Weißt du, die Zeiten ändern sich. Für Menschen wie mich ist da kein Platz mehr.«
Kein Platz? Ich denke nach und drehe den Bleistift auf dem dreckigen Holztisch. Er schweigt. Seine großen Hände sind wie Pfannen. Die Haut so runzlig, kleine und große Narben ziehen sich kreuz und quer über beide Handrücken. Ich bin fasziniert. Wie die Rinde vom alten Birnbaum. So zerfurcht. Dann fällt mir ein, was ich Fritz sagen könnte. »Du kannst vielleicht zu uns kommen. Onkel Heinz hat einen großen Garten. Soll ich ihn mal fragen?«
Fritz klatscht mit beiden Händen auf meine Oberschenkel. Er steht auf, geht ans Fenster und blickt hinaus. Also mache ich es ihm nach. Der Bagger, mit dem er den Schrott auflädt, die Fässer, grüne Flaschen in Bastkörben, alles ist wie immer. Fritz schnieft. Vater würde jetzt sagen, dass große Jungs nicht weinen dürfen. So sein Befehl an mich. Soll ich Fritz sagen, dass man nicht weint? Dann kommen mir selbst die Tränen, dabei weiß ich gar nicht, warum? Ich will nicht, dass wir weinen. Aber es hilft nichts. Wir vergessen die Zeit.

Eines Tages komme ich vom Kindergarten und hörte von weitem Motorengeräusche, ein Krachen und Schleifen. Ich renne los, den kleinen Fußweg entlang, die schmale Staffel hoch und blickte die Straße runter. Zwei große Lastwagen und ein Bagger, so groß wie ich noch keinen gesehen habe, verrichten ihr Werk. Drehen, greifen, aufladen, ein paar Mal und ein Laster fährt davon. Der zweite macht sich bereit. Kurze Zeit ist auch der voll, entfernt sich und weiter unten kommt schon ein neuer angefahren. Langsam gehe ich Richtung Schrottplatz. Ein Absperrband stoppt mich, der Fahrer im Lastwagen lächelt mir zu. Die Hütte ist verschwunden, als hätte es sie nie gegeben, der Platz schon zur Hälfte geräumt. Von Fritz weit und breit keine Spur. Etwas zerrt an mir. Ein Reißen wie an einem Handtuch, das sich, eingeklemmt in der Tür, keinen Millimeter bewegte, bis der Stoff mit einem hässlichen Geräusch entzweigeht. Mir wird schlecht und ich übergebe mich auf die Straße. Der Fahrer im Lastwagen hupt. Mir kommen die Tränen. Ich denke an Fritz. An einen Tod, den ich nicht kenne. Der Tod aus den Erzählungen. Aber ist er überhaupt tot? Plötzlich sind Menschen weg, die man mag. Was kann ich nur tun? Alle Fäden reißen mit einem Ruck durch.

Es dauerte nicht lange, da steht ein Kran auf der Straße und der Schrottplatz ist nur noch eine tiefe Baugrube. Allerlei Geräte gibt es zu entdecken. Eine Hütte auf Rädern, viele Steine, große Netze aus rostigem Eisen. Zwischen allem erhebt sich der Kran in schwindelerregende Höhen. Meine Oma hat mich beauftragt, im Edeka Joghurt und ein Netz Brötchen zu kaufen. Auf dem Heimweg will ich das Loch und den Kran anschauen. Niemand ist da, die Baustelle völlig verlassen. Aber es ist ja auch kein Kindergarten, sondern Samstag. Wie groß der Kran wohl sein mag? Dann fällt mir Fritz ein. Und seine Emma, die vielleicht immer noch tot in einem kaputten Haus liegt. Oder vom Himmel auf uns herunterschaut. Mama glaubt ganz fest daran, an den Himmel. Mein Vater sagt, das sei alles Blödsinn. Ich will selbst nachsehen.
Omas Einkaufstasche lege ich auf einen Stapel grauer Steine und klettere auf den Kran, zwänge mich durch die Absperrung, bin innerhalb des Turmes und steige die Leiter hinauf. Den Blick stets nach oben gerichtet, erreiche ich keuchend das Ende des Turmes und krieche unter der Kette durch auf eine Plattform neben einem Häuschen. Darin ist ein Stuhl mit allerlei Hebeln. Abgeschlossen. Dann stürmt die Höhe auf mich ein. Mein ganzer Körper kribbelt und ich gebe mich diesem Gefühl hin, genieße es wie eine Achterbahnfahrt. Dies ist bestimmt nicht der Himmel. Aber ich fühle mich so leicht und weit weg von allem, dass ich weiter will. Ein Steg führt entlang des Auslegers über die Grube. Ich halte mich an dem dicken Seil fest und gehe langsam ein paar Schritte hinaus. Die Tiefe öffnet sich zu einem Schlund, zieht mich wie ein Staubsauger nach unten. Eine Stimme kratzt durch meine Gedanken und ist deutlich zu hören. Es ist Fritz.
»Setz dich, bitte«, sagt er. Ich setze mich auf den Steg und lasse die Beine baumeln. »Die Menschen da unten sind so klein«, erkläre ich ihm. »Die haben dich weggeschickt. Dabei hast du keinem was getan«, fahre ich fort.
»Das macht nichts, mein Heinrich. Ich habe mich auf die Suche nach Emma gemacht. Eines Tages werde ich sie finden.« Er lachte und mit einem Mal kommt ein leichter Wind auf und bewegt den Ausleger, lässt den Turm wanken. Unter mir beginnen Menschen zu rufen, sogar ein Schrei ist zu hören. Dann fällt mein Name. Ich sehe runter und entdecke meine Oma, die wild mit den Armen wedelt. Ich winke zurück. »Ich bleib noch hier oben, Oma! Ist viel besser als da unten!«


Bild von Caroline Dabrunz ©2021

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