Insel 64 | Kapitel 9

Rubicon

Mittwoch, der 1. Mai 2148, eine Minute nach sieben Uhr. Takuno und ich saßen im Besprechungsraum. Jelena schlief noch.
»Wie macht sie sich?«
Er legte den Kopf auf die Seite, überlegte einen Moment. »Sehr gut. Sie ist aufmerksam, konzentriert und begreift schnell. Ich möchte mich nicht zu weit vorbeugen, aber sie ist eine Kandidatin für die höhere Laufbahn.« Ich versuchte, etwas Spöttisches in seinem Gesichtsausdruck zu finden. Da war nichts. Er meinte es ernst. Höhere Laufbahn … in unserer Situation gab es das nicht mehr. »Sie hat heute späte Wache«, fuhr er fort. Ich war müde und reagierte nicht, versuchte lieber, noch ein wenig zu dösen.
Le Duc Tho setzte sich zu uns, einen dampfenden Becher Algentee zwischen den Händen. Er hielt ihn so, als säßen wir mitten im Winter bei frostigen Temperaturen an Deck. Offenbar macht es ihm nichts aus. »Meine Mannschaft und ich haben unserem Boot auch einen Namen gegeben«, erklärte er. »Nur eine Nummer zu sein, ist schrecklich.«
»Die Zeit der Nummern ist vorbei«, bestätigte Takuno nickend.
Le Duc Tho reagierte nicht mehr, nicht mal ein Blinzeln. Sein Blick klemmte irgendwo fest, bis er sich räusperte und langsam nickte. »Und auch die Zeit der Ränge.«
»Wie geht es deiner Familie?«, wollte Takuno wissen.
Le Duc Tho rieb die Nase. »Ich weiß es nicht. Es gibt keine Verbindung momentan. Und ich will sie auch nicht gefährden …«
»Wo leben sie?«
»Insel 1138, nördliche Marianen.«
Takuno legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. »Das sind etwa 16.000 Kilometer von hier«, stellte er fest. »Zu weit, um mal eben vorbeizuschauen …«
Sato und Rodriguez betraten den Raum, gesellten sich zu uns. Ich schloss die Augen und lehnte mich zurück. Die Tablette? Doch. Ich hatte sie genommen, da war ich mir sicher. Wieder öffnete sich die Tür. Die Stimmen von Kazumi, Russo, Bijan und Max folgten. Dann Anouks schwerer Schritt. »Schläft sie, oder was?«, kam seine Frage. Stühlerücken, eine Flasche wurde auf den Tisch gestellt. Gemurmel, das in den Hintergrund trat.
»Wo ist Barlier?«
»Was sollen wir mit Barlier? Er kann nichts dazu beitragen …«
»Stimme ich zu.«
»Informationen vielleicht?«
»Er war doch nur ein nützliches Rad …«
Bevor mich Schlaf oder Traum übermannen konnten, atmete ich tief ein und aus, setzte mich aufrecht und schlug die Augen auf. Das Gemurmel verstummte. »Ich freue mich, dass ihr da seid«, setzte ich an. »Max, zeig uns bitte die Karte.«
»Mach ich, Chatrina.«
»Vielleicht müssen wir gar nicht so viel tun«, äußerte sich Kazumi vorsichtig. Ich schmunzelte und betrachtete ihre schmale Erscheinung zwischen Bijan und Max. Als sie meinen Blick auffing, nickte ich ihr zu.
»Nur zu, Kazumi. Sprich frei heraus.« Sie überlegte mit knetenden Fingern auf dem Tisch. »Ich glaube nicht, dass die Menschen auf den Inseln in der Hauptsache an Sezession gedacht haben. Am Ende ist es ihnen vielleicht sogar egal. Was sie aber nicht wissen, ist das, was wir inzwischen herausgefunden haben. Damit werden sie nicht einverstanden sein … hoffe ich doch. Tatsache ist, dass unser aller Leben stabil war und langsam immer besser wurde. Nicht mehr nur Kampf ums Überleben. Bessere Inseln und vielleicht die Aussicht, irgendwann wieder das Land besiedeln zu können, ohne Angst, dass ein F6-Tornado alles abreißt oder die Versteppung dein Zuhause unter Sand begräbt …«
»Schön und gut«, unterbrach Le Duc Tho, »aber wie könnte uns das helfen? Dieser Weg ist offenbar an sein Ende gekommen.«
»Nicht unbedingt«, widersprach Kazumi. »Wenn die Menschen erfahren, was wirklich passiert ist, dass sie benutzt werden, nur Werkzeuge einiger Weniger sind, dann müssen wir nur die Wenigen ausschalten, um alles zu stabilisieren.«

»Kazumi hat recht«, pflichtete ich ihr bei. »Mit anderen Worten: Wenn wir unser Wissen in die Nachrichtenkanäle einspeisen, wird es Erschütterungen geben«, vollendete ich den Gedanken. »Unsere primären Ziele sind die Werften. Resolute Bay und Amur. Vor allem in Resolute Bay wurden über Jahre Boote für den Krieg gebaut und den Menschen eine neue Energiequelle vorenthalten, die ihr Leben um Vieles einfacher gemacht hätte. Nur um der Macht willen. Aber sobald wir senden, wird die Stimmung umschlagen und dann müssen wir bereit sein.«
Anouk beugte sich weit vor, legte die Unterarme auf den Tisch und sah mich herausfordernd an. »Wie bereit?«
»Sobald wir das Signal einspeisen, müssen mindestens 24 Stunden vergehen, damit alle es mitbekommen. Bisher sind wir nicht im regionalen und überregionalen Informationsaustausch so weit wir das aus den abgefangenen Signalen entnehmen können. Natürlich, die Familien wissen Bescheid und unter der Hand kursieren genug Gerüchte, aber offiziell schweigt man uns tot. Gut für uns.« Ich stand auf, ging an die Wand, drückte meinen Zeigefinger auf Cornwallis Island.
»Jonna hat den Platz der Werft strategisch hervorragend gewählt. In den Arktischen Ozean kommen wir nur mit besonderer Vorsicht. Wenige Wege führen hinein. Und sowohl Jonna als auch Yoon Da-Hee werden die Zugänge überwachen …«
»Aus meiner Sicht ist die Fahrt entlang des Nullmeridian am sinnvollsten«, schlug Rodriguez vor. »Dort ist die See am tiefsten. Wir könnten in 1.200 Meter Wassertiefe an Spitzbergen vorbeischleichen …«
»1.300 Meter sind auch kein Problem«, versicherte Takuno. »Und noch ein paar Meter mehr wären sicher auch möglich.« Rodriguez und Sato starrten ungläubig.
»Wir werden es gleichzeitig an vier Punkten durchführen«, kündigte ich an. Ohne einen Einwand abzuwarten, fuhr ich fort. »Jonna weiß, wie ich denke. Niemand bei Verstand wird die flache Beringstraße wählen. Ich schon und Jonna weiß das. Also müssen wir sie verunsichern. Variante zwei ist der direkte Weg, durch die Davisstraße. Westlich von Island, zwischen Grönland und Spitzbergen, ist Variante drei. Und als Umweg über die Barentssee, Prinz-Georg-Land und den Pol eine vierte Variante. All diese Möglichkeiten muss sie zwangsläufig absichern. Aber für welche entscheiden wir uns, fragt sie sich. Deswegen werden wir alle vier Varianten gleichzeitig wählen. Nur an einem Punkt stehen ihr auch Yoon Da-Hees Boote gegenüber: in der Beringstraße. Also laufen wir dort durch. Doch bevor wir das angehen, werden wir so tun, als sei die Barentssee unser Weg, indem wir viel Lärm machen.«
»Ist es klug, uns aufzuteilen?«, wendete Rodriguez ein.
»Der Durchbruch an einer Stelle ermöglicht Jonna, ihre Kräfte zu sammeln«, versuchte ich meinen Standpunkt zu erklären. »Denkt an die neuen Boote. Niemand von uns weiß, wie viele es gibt. An einen einzigen Punkt sind sie schnell herangeführt. Aber aufteilen auf vier unterschiedliche Ziele reduziert ihre Möglichkeiten mehr als unsere. Von den Gegebenheiten vor Ort wissen wir nichts, müssen also mindestens zwei oder drei Langstreckendrohnen starten. Auch das ist günstiger aus unterschiedlichen Richtungen.«
Sie zweifelten. Das spürte ich deutlich. Die Angst steckte in uns allen. Besonders in denen mit Familie irgendwo.
»Unsere Botschaft hinterlegen wir in den Sendehubs. Vierundzwanzig Stunden vor unserer Aktion beginnen wir mit dem Übertragen«, fuhr ich fort. »Dabei ist die Nachricht, wie wir sie formulieren und aufnehmen, fast noch wichtiger als eine gelungene Zerstörung der Werften. Deswegen muss sie so authentisch sein wie möglich.«
In Le Duc Thos Blick entdeckte ich Unruhe, als wäre ihm etwas Ungeheures eingefallen. »Du hast in deinem Bericht von den besonderen Torpedos erzählt, mit der Gruppe 25 angegriffen wurde … unsere Boote haben diese Torpedos nicht. Was ist, wenn Jonna sie zurückhält? Die Boote mit Absicht nicht mit ihnen ausgerüstet hat, weil sie mit allem rechnet, misstrauisch wie sie ist. Dann kann es sein, dass wir nun Bekanntschaft damit machen.«
Er hatte recht. Die entsetzten Gesichter der anderen sprachen Bände. Mit einem Mal herrschte absolute Stille, eine spürbare Anspannung. »Das ist in der Tat eine Möglichkeit. Weder in Bordeaux noch anderswo sind wir jemals wieder Torpedos mit kavitativem Antrieb begegnet. Deine Annahme ist wahrscheinlich. Noch ein Grund, uns aufzuteilen.«
Takuno nickte.
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, deutete Anouk an, erhob sich, ging mit schwerem Schritt zur Wand und zeigte auf einen Punkt südlich der Aleuten.
»Wir müssen nur mit dem großen Boot bis hier fahren. Von dort sind es etwa 4500 Kilometer Luftlinie nach Resolute Bay und Komsomolsk. Wir haben zwei ballistische Raketen in den Silos. Auf einen Schlag hätten wir ein Gleichgewicht … ohne eigene Verluste.«
Sein Vorschlag sickerte in unseren Verstand. Keine Silbe brachten wir heraus. Nicht mal lautes Atmen. Auf einen Schlag … das waren seine Worte. Zumindest in mir fühlte ich dieses Kribbeln, das ich von Einsätzen kannte, wenn wir mit all unseren Waffen und technischen Möglichkeiten ein paar Infizierte aus einer Anlage vertrieben. Das Kribbeln der Überlegenheit, der Macht. Aber das hier war anders. Niemand von uns hatte je erlebt, was es bedeutete, Nuklearsprengköpfe in ein Ziel zu lenken.
»Und wir wissen, wie man die Dinger startet und das Ziel programmiert?«, fragte Le Duc Tho.
»Ja«, bestätigte Anouk. »Für drei ausgesuchte Kommandanten gab es einen Lehrgang auf Spitzbergen.« Mir wurde heiß im Gesicht. Die Blicke ruhten auf mir.


»Nein! Wir haben keinerlei Erfahrung damit!«, stellte ich klar.
»Aber Chatrina … wir schützen uns dadurch. Egal ob wir an vier Punkten versuchen nach Resolute Bay zu kommen oder uns auf einen Ort konzentrieren, ich rechne mit mindestens fünfzig Prozent Verlust.« Takuno war voll und ganz von Anouks Vorschlag überzeugt.
»Ich teile deine Einschätzung, aber das berechtigt uns nicht dazu, diese Waffe einzusetzen.« Jelena kam aus der Dusche und setzte sich neben mich aufs Bett.
»Was für eine Waffe, Mama?«
Ich presste die Luft aus den Lungen. Meine Wangen blähten sich auf. Sie schmunzelte. »An Bord des großen Bootes gibt es zwei Raketen mit je einem atomaren Sprengkopf«, erklärte ich ihr.
»Du meinst eine Atombombe?« Sie sah mich ungläubig an.
»Ja, genau das.«
Jelena schwieg. Aber es arbeitete in ihr. Wie in mir. Seit vier Generationen hatten wir jegliche Erfahrung mit Waffen dieser Art und – bis auf den medizinischen Bereich – jegliche andere Nutzung mehr oder weniger verloren. Ich schüttelte den Kopf.
»Es gibt eine Grenze, Jelena. Ich kenne wie du die Bilder aus dem Geschichtsunterricht. Zwei Mal haben die Menschen diese Waffe eingesetzt … «
»Woher hat Jonna denn diese Bomben?«
»Damit sie nicht gegen uns verwendet werden, haben wir diese Waffen über viele Jahre hindurch demontiert. Aber irgendwann wurde es uns egal. Die armseligen Infizierten waren kaum in der Lage, damit etwas anzufangen. Und die Handelsclans wollten schließlich unsere Technik und Medizin, nicht unseren Tod.«
»Also gibt es noch viele?«
Ich wiegte den Kopf hin und her. Darauf konnte ich keine klare Antwort geben. »Sicher keine funktionierenden. Rost und mehr als ein Jahrhundert setzen der meisten Technik zu, aber die Konstruktionsunterlagen sind Teil des UN-Archivs, das auf die Inseln gerettet wurde. Dazu Papiere, Blaupausen, Mikrofilm, digitale Archive vieler Regierungen, Militärbehörden, Hersteller, all das hat man ja versucht zu retten …«
»… falls wir mal wieder das Land besiedeln können.«
»So ist es, Jelena. Und spaltbares Material zerfällt zwar, aber es wird noch genug vorhanden sein.«
Jelena grübelte. »Aber niemand weiß, wo die Werft ist. Nur Jonna und wir. Die ist doch weit weg von allem. Das bekommt doch keiner mit.« Ich sah sie verdutzt an. Stirnrunzeln, fast sprachlos.
»Jelena … auf so einer Werft arbeiten nicht nur zehn Menschen. Dort sind einige Tausend tätig. Vom Koch zur Schweißerin zum Elektriker, alles was nötig ist, um U-Boote in Serie herzustellen. Sollen wir die alle töten?«
Ihr direkter Blick war mir unheimlich. »Du hast doch gesagt, dass Jonna Gruppe 25 versenkt hat. Wie viele Tote waren das? Und dann hat sie Oahu angegriffen, die Kerguelen, Inseln voller Umsiedler versenkt … sollte sie nicht dafür sterben?«
Es hielt mich nicht auf dem Bett. Ich musste aufstehen, ging die paar Schritte bis zur Tür, drehte um und blieb vor Takuno stehen. Natürlich hatte sie recht. Ja, Jonna musste sterben! Überzeugter als ich konnte niemand sein.
»Doch, Jelena! Sie wird dafür sterben! Aber nur sie! Nicht all die anderen Menschen, die ihr aus vielen unterschiedlichen Gründen folgen wollen oder müssen oder im Inneren einfach keinen Widerstand entgegensetzen können. Diese Menschen haben den Tod nicht verdient!«
Ihr enttäuschtes Gesicht ließ mich zweifeln. Lag ich falsch? »Das verstehe ich nicht. Alle die Jonnas Befehle ausführen, sind doch schuldig. Es gibt keine Unschuldigen …«
Mit einem Sprung kam sie hoch und verschwand auf den Gang. Die Tür blieb offen. Vollkommene Stille im Raum. Mein Blick fiel auf Takuno. Doch der schwieg. Hatte er etwa auch nicht verstanden, warum ich gegen diese Idee war? Wütend zog ich mich aus und ging unter die Dusche, ließ kaltes Wasser über meine Narben laufen, die sich zusammenzogen, spannten und mich an das erinnerten, was die Menschen wirklich taten, wenn es keine Regeln und Aufpasser gab: sich gegenseitig verletzen, quälen, vom Angesicht der Erde, auf der sie leben, tilgen.


Ich fror. Zu lange unter dem kalten Wasserstrahl stehen, war keine gute Idee. Eine Entscheidung musste her. Aber durfte ich die alleinige Entscheiderin sein? Es gab keine Obfrau Sutter mehr. Chatrina Sutter war nun eine von vielen. Wir hielten die Struktur bei, solange es ums Überleben ging. In einem Boot mit wenigen Menschen ist das sinnvoll. Nun sind wir jedoch mehr und damit ebenso viele Ansichten, Wünsche, Erwartungen. Ein gemeinsames Ziel gab es: Jonna musste weg. Aber welcher Weg war der beste? Und durfte ich, nein, durften wir die furchtbarste Waffe einsetzen, die in unserem Arsenal schlummerte? Ich spürte ein Widerstreben tief in mir. Ein Schatten trat neben mich. Anouk.
»Alle Bootkommandanten sind dafür, unser Leben zu schonen und diejenigen zu bestrafen, die sich gegen alles stellen, was wir aufgebaut haben.«
Ich schob Tee und Pfannkuchen beiseite. »Das haben sie dir gesagt?«
Er setzte sich mir gegenüber. »Nicht nur sie. Auch Takuno und seine Mannschaft. Die meisten haben Familie. Auch im Pazifik oder dem Indischen Ozean. Nicht wenige davon sind gestorben durch Jonnas Alleingang …«
»Anouk … deine Worte waren stets, dass es Hauptschuldige und weniger schuldige Menschen gibt. Und so muss auch die Strafe ausfallen. Der Schuld entsprechend. Wir sind Polizistinnen und Polizisten und dürfen nur Henker werden für diejenigen, die alle Regeln missachten … wie Jonna.« Ich legte bewusst eine Pause ein und trank einen Schluck Tee. »Du kennst sie. Gehorchen ist bedingungslos. Nur wen sie braucht, dem gibt sie. Die Meisten können gegen sie nicht bestehen und gehorchen. Das sind aber deshalb keine schlechten Menschen.«
Anouk verzog das Gesicht zu einem nichtssagendem Lächeln. »Als dein Ausbilder wäre ich jetzt sehr stolz auf dich, Polizeischülerin Sutter. Spitzbergen ist weit weg und liegt lange zurück. Die Zeit ist eine andere. Wir alle hier sind nicht mehr bei den Mobilen Einheiten oder den Marinen Kräften. Wir entscheiden nach Lage der Dinge, um am Leben zu bleiben! Das tust du schon seit Wochen. Die Zahl deiner Leute wird immer kleiner, weil du dich für keine Seite entschieden hast! Weil du meinst, das Meer böte dir ein Stück Heimat mit viel Walfleisch, in dem du dein eigenes Paradies gründen kannst! Nur für dich, Takuno und Jelena … aber so ist es nicht. Vom Wenigen, das du hast, musst du einsetzen, was die Lage auf einen Schlag zu unseren Gunsten ändert. Nur dann kann es besser werden.«
Lustlos biss ich in einen Pfannkuchen, kaute, spülte mit Algentee. Ich war müde. Müde vom Zuhören. Müde vom Entscheiden. Vom Warten und Hoffen. Nun gab es nicht mehr nur uns in einem einzelnen Boot. Wir kämpften nicht mehr alleine. Durfte ich über die Köpfe der anderen hinweg beschließen?
»Was würde der Rabe tun, Anouk?«
»Er sähe, dass plötzlich viel mehr Menschen auf eine Lösung hoffen. Des Raben Verantwortung ist sehr groß geworden. Wir alle können uns entscheiden. Immer. Jeden Tag. Niemand muss auf Jonna hören. Manche tun es aus Gewohnheit, andere für ein Versprechen, ein größeres Stück vom Pfannkuchen; obwohl es für uns alle nur einen gibt. Selbst wenn die Konglomerate getrennt sind und es bleiben, darf keine Seite die andere übertrumpfen. Mit zwei Raketen können wir beide Werften, das zweite große Boot und alles andere so weit zerstören, dass es erst mal keine zweite Chance gibt. Dein Plan ist gut, aber er enthält Unwägbarkeiten und viele Tote.« Anouk erhob sich. »Außerdem ist es nicht klug, ähnlich einsame Entscheidungen zu treffen wie Jonna.«
»Ist es nicht das, was Tulugaq tat?«
»Seine Entscheidungen kamen allen zugute. Jonnas Entscheidungen nur Jonna. Und deine Entscheidungen?«
Ich drehte den Kopf weg. »Ich will es von allen hören«, erklärte ich dann. »Ruf sie in die Messe.«


»Warum habt ihr nicht sofort Einwände gegen den Plan geäußert?«, fragte ich verärgert, ließ sie aber nicht zu Wort kommen. »Stattdessen erfahre ich von Anouk, dass ihr Bedenken habt und seine Idee umsetzen wollt.« Ich hob beide Hände in Abwehrhaltung. »Nicht dass ich diese Möglichkeit einfach so abtäte, aber aus meiner Sicht sind die Mittel unverhältnismäßig. Die Werften müssen weg, da sind wir uns einig. Aber ich glaube, niemand von euch hat jemals gesehen, was eine nukleare Explosion bedeutet. Ich genau so wenig. Eben deswegen möchte ich es nicht. Ich habe Angst …«
»Vielleicht …«, setzte Le Duc Tho an, stockte aber. »Vielleicht haben wir zu sehr das getan, was wir immer taten«, mutmaßte Rodriguez. »Wir haben einfach gehorcht.«
»Was man von uns verlangt hat«, ergänzte Russo. »Und das haben wir bei deinem Plan ebenso getan. Aber er wird viele Opfer von uns fordern …«
Takuno stellte sich in die Mitte und blickte mich flehend an. »Du bist die Polizistin mit der meisten Erfahrung«, versuchte er die Situation zu entspannen. »Die Polizeieinheit 12 hat alle Aufträge perfekt erledigt. In der Ausbildung waren Taktik und Pläne Lehrstoff und danach wollte man unbedingt zu dir versetzt werden … aber das war einmal. Vielleicht ist es klug, gemeinsam zu entscheiden.«
Sato hob die Hand. Ich nickte mit zusammengepressten Lippen, froh, dass Jelena nicht unter uns stand. »Takuno hat recht, Chatrina. Du solltest nicht denken, dass uns allen das Abhauen leicht gefallen ist. Wir sind Verräter geworden; trotz der Familien. Was müssen die nun durchmachen? Wir wissen es nicht. Es muss anders werden. Und zwar sehr schnell. Sonst bleibt nichts mehr übrig von dem, was uns lieb und teuer war.«
Ich schlug aus einem Impuls heraus auf den Tisch, blickte zu Kazumi, Max und Bijan, die rechts saßen und schweigend zuhörten. »Was meint ihr?«
Im selben Moment wusste ich, dass die Frage falsch gestellt war und ich die Drei überrumpelt hatte. Kazumi stand auf und verließ den Raum. Max folgte ihr.
»Ich stimme Anouk zu«, sagte Bijan lapidar.
Ich sah in jedes Gesicht. Hier ein hoffender, abwartender Blick, und dort meinte ich sogar Ablehnung zu entdecken. Ich verstand ihre Argumente, ihre Sehnsucht nach einem Zuhause, wie es mal war. Sie zu verstehen war niederschmetternd, denn es bedeutete, dass ich für mich falsch entscheiden musste. Mein Plan bot realistischerweise gute Chancen, dass es einige nicht mehr nach Hause schafften. Wir mussten jederzeit Drohnen in der Luft haben, um die Wirksamkeit der Attacken überprüfen zu können. Copter standen nicht zur Verfügung. Es war wie verhext, ein Für und Wider. Tief in mir spürte ich Bauchschmerzen.
»Lasst mich alleine …«
Sie reagierten zögerlich oder gar nicht. Ich fixierte Takuno, zog die Augenbrauen nach oben. Er nickte und schob eine nach dem anderen hinaus, mit beruhigenden Worten, wie Bedenkzeit … lasst sie überlegen … dann kehrte Ruhe ein. Ich spürte seine Anwesenheit und drehte mich um. »Kenzaburo … wir machen uns schuldig, wenn wir das tun …« Er trat auf mich zu, einen Arm ausgestreckt, war heran und zog meinen Kopf zu sich, Wange an Wange.
»Wir sind in jedem Fall schuldig, Chatrina. So oder so. Ich glaube aber, unsere Schuld ist egal. Sie ist nicht so wichtig. Wichtig ist nur, was für die Menschen wichtig ist: Möglichst in Frieden zu leben. In hundert Jahren weiß niemand mehr, wer wir waren oder was wir getan haben.« Ich zitterte plötzlich. Meine Nerven gingen mit mir durch, spürte die kleinen Bahnen in mir, die wie Zündschnüre brannten.
»Na gut«, gab ich nach. »Aber ich will, dass nur zwei Boote fahren«, betonte ich. »Sato und das Große. Du und der Rest beginnen mit der Suche nach Insel 64. Keine Widerrede.«


Das Klopfen hatte ich nicht gehört. Sato trat ein, schloss die Tür und blieb stehen. »Die Verbindung steht. Kommunikation ist einwandfrei möglich.«
Ich richtete mich im Bett auf und lehnte an die Wand. »Setz dich doch, Sakura.«
Die kontrollierten Bewegungen hatte sie noch nicht verlernt. Fließend tat sie einen Schritt auf den Stuhl zu, zog ihn unter dem Tisch hervor und setzte sich. »Ich glaube, Takuno ist enttäuscht, dass ich ausgewählt wurde.«
»Bestimmt. Aber er ist derjenige, der all meine Gedanken zu Insel 64 kennt und damit der geeignete Kandidat, um sie zu finden. Und Jelena würde ich auf jeden Fall zurücklassen, aber nur bei mir oder ihm. Er hat es verstanden. Nur noch nicht akzeptiert.« Sato lächelte und legte eine Bronzetafel auf den Tisch. »Was ist das?« Im selben Moment erkannte ich die Standardtafeln für die Schiffsbezeichnung. »Hast du deinem Boot einen Namen gegeben?«
»Ich habe lange überlegt.«
Vorsichtig drehte ich die Tafel und las das Wort ‚Umiboozu‘. »‘Umiboozu‘ … das musst du mir erklären.«
»Umiboozu ist ein furchtbares Monster, das im Meer lebt, vor der Küste Japans. Es zerstört Schiffe und reißt die Menschen mit sich hinunter ins Meer. Ich habe gelesen, es ist ganz schwarz und hat feurige Augen.« Ich zog die Augenbrauen nach oben und nickte anerkennend.
»Ich würde sagen, der Name passt genau auf dieses Boot.«
Sie verbeugte sich leicht. »Danke … Chatrina.« Wie zurückhaltend sie doch war. Umgeben von einem immerwährenden Schatten, der sie stets einhüllte und aufpasste, dass ihr niemand zu nahe trat.
»Sakura … wie viel Abstand liegt zwischen uns und Rodriguez?«
»Zweihundert Meter. Aber wir laufen völlig synchron. Die Telemetrie lässt die ‚Typhoon‘ genau das machen, was wir vorgeben. Allerdings …«
»Allerdings?«
»Es ist ein großes Boot. Wesentlich träger. Solange wir geradeaus laufen, ist alles okay. Bei Gefahr kappen wir die Leitung.«
Bei Gefahr … das hatte sie schön gesagt. »Dann kontaktieren wir jetzt Rodriguez und Anouk.« Sato nickte und legte ein Tablet auf den Tisch, tippte auf das Display. Ein Komm-Kanal öffnete sich. Rodriguez schaute mürrisch in die Kamera.
»Ja?«
»Liegt die Startkoordinate fest?«
»Liegt fest«, antwortete Rodriguez knapp. »45 Grad, 13 Minuten Nord zu 160 Grad, 46 Minuten West. Von dort fliegen beide Flugkörper eine ballistische Kurve zu den jeweils 4.500 Kilometer entfernten Zielen.«
»Was ist mit Inselgruppen in diesem Gebiet?«
Rodriguez blickte auf die Seite. Anouk schob sich ins Bild. »Wenn Yoon die Positionen der Gruppen nicht geändert hat, liegen wir an dieser Stelle vierzig Kilometer nach allen Seiten von den Eckinseln entfernt«, erläuterte er. Rodriguez nickte.
»Wir gefährden also niemanden?«
»Nein, das ist ausgeschlossen«, bestätigte Rodriguez.
Ich blickte Sato an, dann wieder Anouk. »Wie lange sind die Raketen unterwegs?«
Er schaute auf sein Pad. »Sie fliegen eine längere Strecke, weil ballistisch … ihre Geschwindigkeit beträgt 21.000 Kilometer pro Stunde. In achtzehn Minuten sind sie über den Zielen und zünden in 700 Meter Höhe.«
»Achtzehn Minuten?«, stieß Sato überrascht aus. »Das ergibt keine Vorwarnzeit.«
»Das ist der Sinn dieser Waffe«, erklärte Anouk. »Keine Vorwarnzeit.«
Ich atmete tief ein und l ehnte mich zurück. »Aus welcher Tiefe könnt ihr diese Dinger starten?«
»45 Meter mit einem Abstand von dreißig Sekunden«, berichtete Rodriguez.
»Wir sind also anfällig für einen Zeitraum von plus-minus fünf Minuten?«, rechnete ich aus.
»Nun ja«, grinste Anouk, »der Unterwasserstart wird im Umkreis von hundert Kilometern deutlich zu hören sein. Da braucht es noch nicht mal aktives Sonar, um uns zu orten.«
Die alles entscheidende Frage war jedoch noch nicht gestellt. »Wie kontrollieren wir, ob das Ziel getroffen wurde?« Anouk und Rodriguez sahen sich an, zuckten mit den Schultern.
»Wenn wir nicht selbst vor Ort sind, dann gar nicht.«
»Das ist zu wenig«, betonte ich. »Eine Erfolgsmeldung wäre gut.«
Anouk schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Wir können es uns nur schwer vorstellen, aber die Hiroshima-Bombe besaß eine Sprengkraft von 12,5 Kilotonnen TNT. Laut den Konstruktionsunterlagen haben wir hier 475 Kilotonnen pro Sprengkopf, was für eine Erfolgsmeldung genügen müsste.«
Ich schluckte trocken. »Du hast recht. Ich kann es mir nicht vorstellen …«
»Zehn Kilometer vor dem Startpunkt trennen wir die Kommunikationsleitung, um flexibel zu bleiben«, erklärte Sato.
»Vier Tage, dann sind wir dort«, sagte Anouk und schaltete ab. Sato nahm das Tablet vom Tisch.
»Ich möchte dich etwas fragen, Sakura …«
»Natürlich.«
»Wenn die Raketen gestartet sind, läuft die Typhoon zurück … ich jedoch denke daran, das Zielgebiet mit einer Drohne überfliegen zu lassen …«
»Dann müssten wir aber durch die Beringstraße«, wandte sie ein.
»Ja, das müssen wir. Niemand weiß, was dort oben ist. Vielleicht gibt es ja noch weitere Stützpunkte … aber ich kann und werde dich nicht zwingen, das zu tun. Sprich mit deiner Mannschaft. Ich akzeptiere eure Entscheidung.«
Sato nickte einmal, stand auf und ging hinaus.


Montag, 6. Mai 2148, kurz vor sechs Uhr. Die Narbe an meinem Hals zeigte eine deutliche Röte an den Rändern. Ich hielt den Zeigefinger dagegen. Fast ebenso lang. Warum rote Ränder? Keinen Arzt an Bord zu haben und keine Insel aufsuchen zu können, war ein enormer Nachteil unseres Lebens. Und noch etwas quälte mich. Es war der 6. Mai. Jelenas fünfzehnter Geburtstag. Uns trennten mindestens 11.000 Kilometer. Niemand von uns wusste, wo Takuno und die anderen genau waren oder ob sie noch lebten. Ich ballte die Fäuste bis alles Blut entwichen war. Die Wut durfte keine Oberhand gewinnen. Durfte sie einfach nicht. Es klopfte und ich verließ die Nasszelle. Sato trat ein, sah mich nackt vor sich und blieb abrupt stehen.
»Entschuldigung …«
»Setz dich, Sakura.«
Sie blickte auf die Seite. »Was ist? Du hast mich schon nackt gesehen und ich dich ebenfalls. Ich habe keine Geheimnisse vor dir.«
»Ja … also … wir haben die Kommunikation getrennt. Die Typhoon bringt sich in Position. Wir werden einen Kreiskurs um sie herum fahren mit ausgefahrenem Achtergerät, Entfernung zu Rodriguez etwa einen Kilometer.«
»Gut. Und ich bitte dich, das in Periskoptiefe zu tun, damit ich die Starts mitverfolgen kann.« Sie nickte und musterte mich vom Kopf bis zum Bauchnabel.
»Du bist schön, Chatrina.«
»Danke, Sakura. Aber gegen dich nur ein altes, vernarbtes Weib.«
Sie lachte kurz. Eine Besonderheit. »Ich möchte dir noch sagen, dass die Mannschaft einverstanden ist mit dem Versuch, die Beringstraße zu durchlaufen.«
Sato stand auf, verbeugte sich und ging hinaus. Warum hatte sie sich verbeugt? Für einen Moment blieb ich still sitzen und dachte an Takuno, Jelenas Geburtstag und ob ich beide wohl wiedersehen würde. Kurz blitzte ein Zweifel auf, überhaupt vermisst zu werden, dann cremte ich die Narben ein, zog die Uniform über und machte mich auf den Weg in die Zentrale.

Sie stand am Kartentisch und nickte mit dem Kopf auf den Sitz am Periskop. Das Hologramm zeigte die Inselgruppen im Umkreis von einhundert Kilometern.
»Dreihundert Meter«, sagte die junge Frau am Steuerstand.
»Sonar! Geräusche?«
»Nur die Typhoon«, kam es zurück.
»Zweihundert Meter.«
»Sonar?«
»Weiterhin nur die Typhoon.«
»Einhundert Meter.«
»Vorne zehn, hinten fünf. Geschwindigkeit reduzieren auf fünfzehn Knoten.« Sato war in ihrem Element. Wie Takuno. Es war ein Wunder, dass sie sich zu den Mobilen Einheiten gemeldet hatte. Was um alles in der Welt wollte sie … Chatrina, du Idiotin!, durchzuckte mich die Erkenntnis. Sie wollte in meine Einheit. Natürlich. In meiner Nähe sein.
»Zehn Knoten und Periskoptiefe.« Sato nickte mir zu. Die Metallröhre hob sich aus dem Boden. Mit einem Knopfdruck legte ich die Bilder auf die Displays, setzte mich. Die Aktivitäten der Typhoon waren deutlich zu hören. Ein Rauschen, Rumoren, dann ein metallisches Klacken. Gespannt legte ich die Stirn an die Manschette, starrte auf die Stelle, an der Rodriguez‘ Boot unter der Wasseroberfläche positioniert war, darauf achtend, die grüne Markierung nicht auswandern zu lassen.
»Zehn Sekunden bis zum Start«, hörte ich Satos Stimme. Siedend heiß wurde mir bewusst, dass es zu spät war für eine andere Entscheidung und erinnerte mich an eine Geschichte, die Anouk unserem Jahrgang am Ende der Ausbildung erzählte. Von einem römischen Feldherr namens Julius Cäsar, der vor einem kleinen Fluss stand und wusste, dass, wenn er diesen Fluss überschreiten würde, es kein Zurück mehr gäbe. Als er dann mit seinen Legionen hindurchritt, sagte er, dass die Würfel gefallen seien. So kam ich mir vor. Die Würfel waren soeben gefallen.
Das Wasser beulte sich nach oben, bildete einen Dom, dann schoss eine Fontäne empor, eine Kugel aus Gischt, durch den sich ein zylindrischer Körper schob. Ein Blinzeln später zündete ein Triebwerk und den fast in der Luft hängenden Körper trieb es schlagartig in den Himmel hinauf. Eine dicke, weiße Wolke hinter sich herziehend. Kaum war die Gischt verschwunden, folgte der nächste Zylinder, wie von Geisterhand aus dem Boot katapultiert, einen Atemzug lang in der Luft schwebend, dann die Zündung. Sato schaltete das Außenmikrophon ein. Sofort stand der Donner mitten in unserer Zentrale, als wollte er das Boot auseinanderreißen. Jemand schrie laut auf. Mein Gott, sagte die junge Frau am Steuerstand. Ja, dachte ich, was haben wir getan und folgte der zweiten Rakete. Auf dem Weg der ersten. Mir stockte der Atem.
»Sato!?«
»Ich sehe es …«
Bevor ich reagieren konnte, sprang sie zum Periskop und drückte einen Knopf. »Radar! Die zweite Rakete verfolgen!« Mit der Hand zog Sato mich vor drei Displays. Dunkelrote Ringe, Messwerte leuchteten auf.
»Mast oben!«
Zwei leuchtende Dreiecke zogen ihre Bahnen. Drifteten deutlich auseinander. Sato schüttelte den Mann vor uns auf seinem Sitz. »Los! Los! Kursberechnung!« Auf dem rechten Display legte sich eine Karte unter zwei rote Linien, korrigierte ihre Lage, korrigierte ein zweites Mal. »Verdammt!«, rief Sato.
»Geräusch!«, kam es aus dem Sonarraum. Mehr Schrei als Wort. »Torpedos! Aufschlag in fünfzehn Sekunden!«
Sato sprang über die Reling hinter den Fahrstand, drückte Geschwindigkeitsregler und Joystick nach vorne, warf die junge Frau von ihrem Sitz und klemmte sich selbst dahinter. »Mast einholen! Periskop runter!«
Ich setzte mich neben den Kartentisch auf den Boden und lauschte nur noch. Das Boot ging in die Kurve.
»Torpedotreffer in zehn Sekunden!«
»Achtergerät abwerfen!«
Ich wusste nicht, ob jemand den Befehl ausführte, aber das Boot machte einen Sprung vorwärts. Der Anstellwinkel wurde so steil, dass ich nach vorne rutschte und fast aus dem Sitzen in den Stand gedrückt wurde.
»Hintere Mündungsklappen öffnen!«
Jelenas Geburtstag fiel mir ein. Würden sie feiern?
»Offen!«
»Rohre ein bis vier los! Einen Ping!« Gleich darauf dröhnte es massiv. Ich hielt mir die Ohren zu.
»Täuschkörper raus! Und Verschlusszustand!«
»Täuschkörper sind draußen!«
»Achthundert Meter!«, rief Sato. »Sonar?«
»Torpedos vergrößern Abstand, gehen auf Täuschkörper … nein! Einer läuft weiter!«
Konnte ein Boot so etwas aushalten? Über mir knirschte etwas schrecklich laut.
»Wir haben den Verschluss des Achtergerätes verloren!«, meldete jemand.
»Scheißegal«, war Satos Reaktion. »Tausend Meter!«
»Geräusch verschwunden … Torpedo ist außer Funktion …«
»Takuno hat gesagt, dreizehnhundert Meter sind möglich?!«, kam Satos Frage.
»Wir waren schon auf dreizehnhundert!«, ließ ich sie wissen.
»Dann gehen wir jetzt auf vierzehnhundert!«
Ich schloss die Augen und ergab mich irgendeinem Schicksal. Egal welchem. Nicht mehr in der Lage, die Situation zu beherrschen. Nur mit Mühe schaffte ich es, mich einigermaßen in einer stabilen Position zu halten. Die Schallwelle einer dumpfen Explosion erreichte die Stahlhülle des Bootes. Es schwankte kurz. Die zweite folgte.
»Sayonara!«, rief Sato und lachte kurz. Die Typhoon? Anouk? Was passierte hier? Der Winkel wurde langsam flacher. Wie tief es wohl an dieser Stelle des Pazifiks war?
»Vierzehnhundert Meter. Ich pendele aus, Kurs …«
»Sato!« Ich stand auf, zog die Karte aus dem Tisch und brachte sie in Position zu uns. »Ich habe die Nase voll! Wir laufen bis hier hin so schnell es geht«, mit dem Finger markierte ich einen Punkt östlich von Hokkaido. »Von dort starten wir Marschflugkörper Richtung Amur!« Es dauerte einen Moment. Sie stand auf und half der Steuerfrau wieder auf den Sitz.
»Entschuldigung, Emilia, gehen sie auf 240 Grad, Geschwindigkeit 70 Knoten.« Emilia nickte nur. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie zitterte. Sato strich ihr über die Haare. »Alles wird gut. Wir sind in Sicherheit …« Mit hochgezogenen Augenbrauen drehte sie sich zu mir, kam an den Kartentisch und setzte sich.
»Alles in Ordnung, Chatrina?«
Ich schürzte nur die Lippen. »Bisher dachte ich immer, Takuno sei der Profi unter den Bootfahrern«, murmelte ich. »Aber du hast mich gerade eines Besseren belehrt. Danke.«
Sie nickte nur.
»Was heißt ‚Sayonara‘?«
»Ein höfliches, endgültiges ‚Auf Wiedersehen‘.«
Ein endgültiges ‚Auf Wiedersehen‘. Das hätte ich am liebsten persönlich überbracht. »Du hast das Richtige getan.« Sato schwieg, als fehlten ihr die Worte. Sie hob die Hand, streckte den Finger auf das Radardisplay.
»Wir haben es beide gesehen. Die zweite Rakete ging auf identischen Kurs mit der ersten, hätte sich aber in die entgegengesetzte Richtung bewegen müssen … dann driftete sie immer weiter nach Osten …«
»Richtung?«
»Die Karte berechnete Spitzbergen …«
»Spitzbergen?!« Sato nickte.
»Yoon Da-Hee …«


»Wer hat uns verraten, Chatrina?«
»Anouk niemals. Das werde ich nie glauben.« Ich kickte die Schuhe von den Füßen, zog beide aufs Bett, winkelte die Knie an und legte das Kinn darauf. Sato zeichnete Figuren auf den Tisch. »Wann erreichen wir den Graben vor Hokkaido?«
»Heute Nacht gegen zwei Uhr.«
»Welche Inselgruppe sind in der Nähe?« Sato wartete mit der Antwort. Vielleicht zählte sie in Gedanken durch. Ich stand auf, legte die Uniform ab und mich ins Bett. Ihre Augen waren leer. Dunkel. Ohne Glanz. Mein Blick sicher nicht anders.
»Ich muss noch mal nachsehen … drei Gruppen, meine ich. Im Osten, etwa achtzig Kilometer vor der Küste. Im Norden sollten es zwei Gruppen sein, ungefähr fünfzig Kilometer …«
»Im Prinzip egal«, unterbrach ich sie. »Eine Stunde vorher tauchen wir auf, starten die Langstreckendrohne, tauchen wieder ab. Sie fliegt per Autopilot zum Amur. Wenn sie über dem Ziel ist, haben wir unsere Position erreicht. Wir haben sechzehn Startzylinder mit je drei Raketen. Auftauchen, raus damit, abtauchen.«
»Wir starten alle?«
Schweigend fixierte ich die Decke, hörte Sato den Reißverschluss ihrer Uniform öffnen. Dann stand sie plötzlich nackt neben dem Bett. »Ich möchte jetzt nicht alleine sein …« Langsam drehte ich mich auf die Seite und rückte an die Wand, löschte das Licht, spürte die Wärme ihres Körpers näherkommen. Mit beiden Armen empfing ich ihre Haut, umschlang sie. Satos Duft kroch meine Nase hinauf.
»Alleine sein möchte ich ebenso wenig, Sakura. Aber egal wie nah du mir bist, wie fest ich dich halte … ich bin es doch.«
Keine Antwort. Nur ihr Duft im Dunkeln. Dann hörte ich sie schluchzen, bald weinen. Träne um Träne auf meinem Hals. Feuchte Wärme und ich konnte nichts tun. Nur sie halten. Mich an ihr festhalten. Ich spürte Marcella kommen, die kleine Schwester, wie sie nach mir rief, als wir klein waren und später, als uns die Männer holten, nach mir schrie, bis sie nicht mehr konnte und wir bald nebeneinander lagen. Wie Marcella, Sato gleich, an mich geklammert nichts anderes tun konnte als weinen. Ich ließ es geschehen. Machtlos.
»Ich kann nichts dafür, dass ich dich liebe, Chatrina«, flüsterte Sato.
»Mach dir keine Gedanken.« Ich zog die Decke über uns, legte die Hand wieder flach auf ihren Rücken und presste sie an mich. So lagen wir völlig bewegungslos. Es gab keine Lust, keine Sehnsucht nach Zartheit. All das steckte in unseren Uniformen auf dem Boden. Wir waren nackt bis auf unser beider Seelen. Marcella klebte an meinem Schweiß.
»Marcella«, flüsterte ich, »es tut mir leid, dass ich dich getötet habe …«
»Das macht nichts, Catarina. Ich liebe dich, das weißt du doch.«
Ich konnte nichts sagen. Brachte einfach kein Wort raus.
»Erinnerst du dich an unsere Mutter, Catarina?«
»Nein … hatten wir denn eine?« Marcella schwieg. Sie atmete gleichmäßig. Ihre Tränen waren versiegt. Heute Nacht würde es keine Schreie mehr geben, denn ich hatte die Männer getötet. Aber ihr Tod konnte die Rechnung nicht bezahlen. Ich blieb den Rest schuldig. Also roch ich an Marcellas Haaren, den wilden und farbenfrohen, ihrem Dreck auf Hals und Gesicht und wusste, dass ich Genua verlassen musste, um nicht zu sterben.


Sato schickte die Telemetrie-Boje nach oben und warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Als ich wach wurde, war sie schon weg. Ich glaubte, mich an einen Traum erinnern zu können, an Marcella.
»Bild kommt …«
Völlige Dunkelheit, Kompassdaten und Geokoordinaten wurden eingeblendet.
»Infrarot«, teilte der Mann an der Waffenkontrolle mit.
»Geh auf fünfhundert Meter«, bat Sato ihn. Der Amur kam in Sicht. Die Drohne flog aus Südost auf die Werft zu. Große Gebäude schälten sich aus dem Graubraun der Anzeige, exakt so wie auf den alten Karten verzeichnet. Die Werft war eine einzige Wärmequelle. Im südlicher gelegenen Becken waren deutlich zwei U-Boote zu erkennen, nach der Schleuse drei weitere, an einem Pier noch zwei Boote.
»Zielmarkierung aktivieren.«
Sato tippte auf das Display mit dem stark vergrößerten Ausschnitt, markierte die Boote, jede der neun Hallen und jene die im rechten Winkel zum hinteren Becken gebaut waren mehrmals.
»Noch einen Überflug … Nachtsicht mit Falschfarben.« Das Kamerabild drehte sich langsam, weitere Teile der Stadt tauchten auf, aber dort gab es weder Bewegungen noch sah sie besonders belebt aus. Zerfallene Häuser, überwucherte Straßen.
»Sonar! Geräusche?«
»Strömungsgeneratoren von Inseln … Gruppe 105, Entfernung dreiundsiebzig Kilometer. Sonst nichts.«
»Auftauchen«, sagte Sato. Ich starrte gebannt auf den Bildschirm. Yoon Da-Hee spielte dasselbe Spiel wie Jonna Andersen, nur ein paar Jahre zu spät.
»Wir sind oben …«, meldete die junge Frau am Steuerstand.
»Na gut …«, Sato hob eine Sicherheitskappe und drückte den Knopf darunter tief hinein. Das Boot vibrierte, metallisches Klacken, Pressluftzischen, ein Rumpeln, wieder und wieder, leichte Erschütterungen unter unseren Füßen. Sechsundfünfzig Marschflugkörper verließen die Startzylinder, alle fünf Sekunden ein weiterer. Nach und nach senkten sich die hydraulischen Zylinderdeckel wieder in ihre Einfassungen. Nach knapp fünf Minuten hatten alle Marschflugkörper das Boot verlassen und waren auf ihrem 1.200 Kilometer langen Weg über Südsachalin hinweg. Sato klopfte dem Mann auf die Schulter.
»Lass die Drohne über der Werft kreisen, 1.000 Meter Höhe, Radius zwei Kilometer um das Ziel. Hol die Telemetrie-Boje zurück.« Sie ging die wenigen Schritte zum Steuerstand.
»Boje ist eingeholt.«
»Okay, abtauchen! Auf siebenhundert Meter, Kurs vierzig Grad für dreißig Minuten.« Das einströmende Wasser drückte die Luft aus den Tauchzellen. »Nun heißt es warten, Chatrina.« Ich nickte, ging in die Messe und holte einen Algentee, setzte mich an den Kartentisch und starrte in das blau leuchtende Hologramm. Fast zehn Kilometer Wassertiefe. Eine Welt in der Welt. Wie viel Leben es da unten noch geben mochte? Und würde es uns eines Tages beerben? Versunken in Gedanken über Unwichtiges hörte ich Sato nicht kommen, spürte aber plötzlich ihren Atem neben mir.

»Ob Anouk, Rodriguez oder alle beide … Yoon Da-Hee hat ganze Arbeit geleistet. Und so langsam frage ich mich, wer gefährlicher ist … Yoon oder Jonna Andersen?«
Darüber hatte ich auch schon nachgedacht, als sie uns in der Japansee abgefangen hatte. »Du hast recht, Sakura. Aber inzwischen sehe ich nicht mehr, dass wir daran etwas ändern könnten. Wir haben sechs Boote und vor allem Familien dabei, die wir beschützen müssen, irgendwo unterbringen, wo sie einfach nur leben können, nein, leben dürfen«, verbesserte ich mich. »Ohne dass sie in den Krieg ziehen müssen, um ihre Schwestern und Brüder zu töten.« Ich stutzte und schloss die Augen. »Das was wir gerade so ausgiebig tun …«
»… aber unsere Botschaft läuft. Und sie wird wirken. Da bin ich mir sicher. Die Menschen werden sich uns anschließen oder gegen Jonna und Yoon Da-Hee vorgehen, die Gruppenräte können das nicht befürworten …«
Ich versuchte, Sato so zuversichtlich wie möglich anzulächeln, legte den Arm um ihre Schulter. »Du wirst recht haben, Sato. Das hoffe ich sehr. Aber … du vergisst, dass wir vor nicht wenigen Stunden zwei nukleare Sprengköpfe gestartet haben. Selbst wenn die Menschen einverstanden wären mit der Zerstörung einer seit Jahren geheim gehaltenen Werft in einer Gegend, in die sowieso niemand fährt, werden sie uns die Zerstörung von Spitzbergen niemals verzeihen …«, ich zog sie an mich. »Sakura … wenn diese Rakete auch nur annähernd so viel Zerstörungskraft besaß, wie ich mir vorstelle, dann existiert dort nichts mehr. Vielleicht in den unterirdischen Anlagen der Polizei, aber selbst da wäre ich mir nicht sicher.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das werden sie uns nie verzeihen. Und wer immer der Verräter war, er hat Yoon Da-Hee eine mächtige Waffe in die Hand gegeben: uns als Schuldige.«
Sato starrte mich an.

»Wir sind ab jetzt die Mörder. Nicht mehr diejenigen, die versuchen das Alte wiederzubeleben, zu erhalten. Vor allem hat sie gleichzeitig versucht, versuchen lassen, uns zu töten …« Ich trank einige Schlucke vom lauwarmen Tee. Sato war wie abwesend. Ich hätte viel gegeben, in ihren Kopf sehen zu können. Mir fiel ein Ereignis aus meiner Vergangenheit ein. Ich stupste sie mit dem Ellenbogen.
»Anouk hat mich einmal mitgenommen auf eine Fahrt nach Baffin Island. Seine Vorfahren lebten dort. Ich war fünfzehn und beim Besuch einer Grabstätte erzählte er mir über das Wesen der Polizeiarbeit, dass man manchmal unorthodoxe Schritte tun müsse, um zu einem Ergebnis zu kommen …«
»Was meinst du?«, fragte sie irritiert.
»Er sagte: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Solange es mir nutzt.«
»Wie kann uns das hier helfen?«
»Ich denke, Jonna braucht Hilfe. Bieten wir ihr diese Hilfe an.«
Ich musste lachen als ich Satos ungläubiges Staunen sah.


»Wir gehen auf 300 Meter.«
Sato blickte zu den beiden jungen Frauen im Sonarraum. Auch ich erwartete jeden Moment eine Meldung. Start und Flug von sechsundfünfzig Marschflugkörpern konnte nicht unbeobachtet geblieben sein. Trotz der Tatsache, dass sie unter dem Radar flogen. Wir lagen in der Boussole-Straße, einem Kurilen-Durchgang mit genügender Wassertiefe, außerhalb der Reichweite von Torpedos. Nur zwei Inselgruppen befanden sich im tieferen Teil des Ochotskischen Meeres, von unserer Position an die zweihundert Kilometer entfernt. Aber es war gut möglich, dass Versorger oder Yoon Da-Hees Boote diesen Durchgang nutzten.
»300 Meter.«
»Telemetrie nach oben«, ordnete Sato an. Wir standen vor den Displays, starrten auf das ‚Signal verloren‘-Symbol. Etwas über siebzig Minuten betrug die Flugzeit der Marschflugkörper. Ich war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch nach der Zerstörung der Werft und der Hoffnung, die Menschen würden es überleben. Menschen, die verzweifelt und dringend Boote bauen wollten, um Jonna Widerstand leisten zu können. Die aber genau so gut diese Boote weiterhin bauten, wenn es Jonna nicht mehr gäbe. Wie hatte Anouk diesen Fluss genannt? Rubicon … wir alle hatten diesen Rubicon schon längst hinter uns gelassen. Unserer Entscheidung folgend. Gefangen in der Logik dieses Weges. Links und rechts existierte nicht mehr.
»Boje ist oben. Bild kommt …«
»Noch dreißig Sekunden bis zum Einschlag der ersten Waffe«, teilte Sato mit. »Auf Nachtsicht schalten, Helligkeit um vierzig Prozent reduzieren.« Das Bild wurde dunkler. »Den Radius auf einen Kilometer reduzieren und auf siebenhundert Meter runter.«
Sofort wurden die Details deutlicher und ich suchte menschliche Bewegung. Vergeblich. Dann blähte sich eine grelle Wolke auf, wuchs rasant, die zweite neben der ersten, Nummer drei, im Explosionsschatten brach ein Boot entzwei, das nächste hob es förmlich aus dem Becken, die Hallen verwandelten sich in eine grell-grüne Fläche. Nichts mehr war zu erkennen auf dem Display. Und alles lautlos. Die Stille des Todes … Totenstille in der Zentrale. Die junge Frau des Steuerstandes trat neben mich. Aufgerissen Augen. Alle sahen wir dem Krieg bei seiner Arbeit zu. Jeder Marschflugkörper traf exakt das vorgegebene Ziel. Dunkle, verbogene Träger, große und kleine Hallenteile, ausgefranst, von der Wucht in alle Richtungen geschleudert, landeten in weitem Umkreis, brannten und entzündeten zerfallene Häuser, das Buschwerk, wuchsen sich aus zu Feuern, die sich verbündeten, um unser Werk zu vollenden. Es wurde dunkler. Nichts als Schweigen hüllte uns ein. Schweigen in der Zentrale. Schweigen dort am Amur. Komsomolsk brannte.


Samstag, der 11. Mai 2148, viertel nach eins am Nachmittag. Ich lag im Bett. In zwölfhundert Meter Tiefe durchquerten wir zuerst den Pazifik von West nach Ost, Richtung nordamerikanischer Küste, drehten dann auf Höhe der Salischen See nach Süden und waren jetzt auf der Höhe von Panama. Seit der Parallelfahrt zur kalifornischen Küste wurde es ruhiger über uns. Bis dahin aber war der Pazifik fast so laut wie die Abschlussfeier meiner Polizeiausbildung. Aufgrund eines Taifuns sehr viele getauchte Inselgruppen und eine große Anzahl Boote, die nordwärts liefen Richtung Beringstraße. Sato redete mit der Mannschaft. Tag für Tag. Mal mit diesem, am nächsten Tag mit jener. Die Bilder wurden gesehen und sprachen sich herum. Starben bei jenem Angriff Menschen, die wir kannten?, fragten sich viele. Waren wir der Einen oder dem Anderen schon einmal während der Ausbildung bei einem Tee oder ein paar Algenrollen begegnet? Auch wenn die schlüssige Argumentation, dass die Amur-Werft geheim gehalten und deshalb kaum bekanntes Personal dort eingesetzt wurde, beruhigen sollte, gelang das nicht wirklich. Zwei aus Satos Mannschaft weigerten sich weiterhin Dienst zu tun und sie respektierte das. Und eine weitere Komplikation traf mich an diesem Tag aus heiterem Himmel: Ich hatte keine Tabletten mehr. Zu Sato sagte ich, sie solle mich in meiner Kabine einschließen und drei Mal am Tag nach mir sehen, Getränke und Essen bringen. Das tat sie. Ich blieb einfach im Bett oder machte Sport bis mir schwarz wurde vor Augen. Dann duschte ich, legte mich wieder hin.

Als ich gegen Abend erwachte, las ich eine Nachricht auf dem Pad aus der internen Kommunikation. Sato befahl einen vollen Stopp und Sport für die ganze Mannschaft. Ich musste schmunzeln. Dann plante sie die Geburtstagsfeier für die junge Frau aus dem Sonarraum, um ab Mitternacht, dann in vierzehnhundert Meter Tiefe, lediglich drei Besatzungsmitglieder Wache halten zu lassen. Schlaf für das ganze Boot bis zum nächsten Tag. Sie war eine gute Kommandantin. Ebenso wie Takuno, sorgte sie sich um die Menschen, die unter ihr dienten. Kazumi fiel mir ein. Was hatte sie ohne mich gemacht? Lebte sie überhaupt noch? Takuno und Jelena? War das ein negatives Symptom der fehlenden Tablette? Das Gedankenkreisen?
Ich schlief wohl irgendwann ein, bei angeschaltetem Licht, doch als ich erwachte, war es dunkel in der Kabine, bereits Sonntag, der 12. Mai 2148, kurz nach ein Uhr nachts. Ohne diese blaue Leuchtanzeige über der Tür ist man in einem U-Boot aufgeschmissen, kam die erschreckende Erkenntnis, über die ich offensichtlich noch nie nachgedacht hatte. Alles Licht war künstlich hier unten. Selbst die Dunkelheit. Keine Sonne, kein Mond, weder Tag noch Nacht. Gefangen in der Gleichförmigkeit.

Plötzlich presste ein Gewicht die Luft aus meinem Brustkorb. Ich schmiss die Decke weg, wollte aufspringen, aber ein warmer Körper lag neben mir. Erst jetzt hörte ich das leise und gleichmäßige Atmen. Langsam beruhigte ich mich, ertastete Haut und Formen, beugte mich vor und versuchte in der Dunkelheit einen Duft aufzunehmen. Es war Sato. Ihre Mischung aus leicht bitterem und süßlichem Aroma. Sachte legte ich den Kopf auf ihre Schulter und strich mit zwei Fingern das Rückgrat hinab, in die Spalte zwischen beiden Pobacken, machte auf den Oberschenkeln kehrt, wanderte Zentimeter um Zentimeter zurück und drückte dann beide Finger vor meine Nase. Inhalierte ihren Duft. Sato bewegte sich, drehte den Körper. Trotz der Nacht um uns, sah ich alles deutlich vor mir. Tastend fand eine Hand mein Gesicht, dann zwei Lippen meinen Mund. Eine Zunge drückte gegen meine und löste sich wieder.
»Marcella«, hauchte ich.
»Erinnerst du dich an unsere Mutter?«
Einer Wolke gleich schwebte die Frage zwischen uns.
»Nein … hatten wir denn eine?«
»Alles hat eine Mutter, Catarina.« Mich fröstelte. Mit den Fingern suchte ich die Decke, griff nach ihr und breitete sie über uns aus.
»Wie kannst du dich an sie erinnern und ich nicht, Marcella? Bist du nicht meine kleine Schwester?« Marcellas Hand glitt mein Brustbein hinab, kreiste um den Bauchnabel und strich sanft über meinen Busen.
»Du hast ihr geschworen, sie zu vergessen, Catarina. Am Tag als sie eingetauscht wurde …« Ich starrte in ein großes Loch in meinem Kopf. Eine weite Ebene zwischen den Gedanken. Nichts auf ihr zu sehen. »‚Du hast nie eine Tochter gehabt!‘ hast du hinter ihr her geschrien, und dass du sie töten wirst, sollte sie jemals wieder in deiner Nähe sein …«
Meine Hand suchte Marcellas Hals, fand ihn sofort, drückte zu, war bereit, alles an Leben aus diesem schlanken Körper zu quetschen, ihn kalt werden zu lassen. »Und du, Marcella?! Was hast du gerufen?!«
»Dass ich sie liebe und niemals vergessen werde … im Gegensatz zu dir«, röchelte sie leiser werdend. Wo war meine Kraft? Drück!, befahl ich der Hand. »Hast … du mich … deshalb … getötet …«
Helles Licht an der Wand? Nein, im Raum? In meinem Kopf! Eine Explosion in meinem Kopf! Ein Knie bohrte sich in meinen Unterleib, Marcellas Faust traf mein Kinn und ich ergab mich den Bildern. Das Röcheln des Mannes erstarb und durch sein dreckiges Blut leuchteten mich Marcellas Augen an, halb verborgen unter dem schweißnassen toten Peiniger, dankbar für ihre Rettung. Stirb, flüsterte ich und stach zu, bis ihr Blick brach, das Licht erlosch, sie nie wieder unsere Mutter lieben könnte, egal wie oft sie uns verlassen würde, zurücklassend in jenem Drecksloch voller Peiniger. Stirb!, rief ich ein zweites Mal, kletterte von den beiden Leichen runter, marschierte in die Küche und ließ alle dort drin bezahlen …
»Chatrina!«, schrie jemand. Direkt vor meinem Gesicht. Das Licht brannte. Die Leuchtanzeige …
»Das ist nicht Genua«, murmelte ich und starrte auf das Bild unserer Mutter. Jetzt endlich sah ich sie deutlich vor mir. Das war ihr Gesicht. Die Ablehnung, Augen voller Verachtung. Die Wut riss mich herum, versetzte dem Gesicht vor mir einen Schlag. Nur einen Meter bis zum Spind, den ich mit einem Griff öffnete, das Tauchermesser aus dem Schaft zog, mir an die Kehle setzte. Jetzt oder nie …
»Marcella, ich will nicht mehr …«, hörte ich mich sagen. Dann kam wieder die Dunkelheit.


Datum? Unbekannt. Uhrzeit ebenso. Aber die Krankenstation eines U-Bootes. Und ein Gesicht neben mir. Etwas wie Strom in meinem Kopf. War dies das Gefühl von Elektrizität? Kribbeln. Ein Gefühl von Schweben. Ich sah es deutlich. Und auch alle Bilder. Alles. Ich erinnerte mich an jedwede Schuld. Jede Szene bis hinunter zum ersten Erwachen meines Bewusstseins.
»Chatrina?«
Eine warme und sorgenvolle Stimme. Durch das Schweben näherte sich ein Schmerz. Kopfschmerz. Er pochte. Immer kräftiger. »Hm?«
Satos Gesicht schob sich in mein Blickfeld. Ihr Hals rot, grün, violett. Fingerabdrücke. Wer hatte ihr das angetan? Meine Hand? Alle Bilder leuchteten so klar wie einer der seltenen wolkenlosen Sonnenaufgänge. Vielleicht wie die Welt früher einmal war. Klar und wundervoll.
»Wer ist deine Mutter?«, fragte Sato leise. Ich schloss die Augen und suchte die Erinnerung. Als der Mann in Uniform auf die Frauen zeigte. Eine nach der anderen. Die wäre zu alt, jene zu dünn, keine kräftigen Hände … aber die auf jeden Fall. Und Mutter? Gut fürs Bett. Sein Finger auf mir? Marcella packte mich fester. Nein, nimm mich! Meine Tochter ist dumm! Kann nix! Nicht mal gut im Bett ist sie!, flehte die Stimme über mir. Die Uniform nickte und ich wollte Mutter nicht gehen lassen, aber zwei Schläge in mein Gesicht lösten den Griff. Unnützes Kind! Nichts kannst du! Kümmere dich um deine Schwester!, schrie sie. Die Uniform lächelte. Warum sagte sie das? Dann geh doch! Lass Marcella und mich alleine! Ich bin nicht mehr deine Tochter! Ich werde dich umbringen, wenn ich dich wiedersehe!, schrie ich ihr hinterher. Ein letzter Blick auf Mamas dreckige Haare, die schlanke und hochgewachsene Figur. Wie ich. Nicht ein einziges Mal drehte sie sich um. Der Glatzkopf kam und zog uns an den Haaren wieder ins Haus.
»Jetzt weiß ich, wie sie aussieht … ich werde sie finden und töten.«
Ich spürte, wie es wieder dunkel wurde.
»Verzeih, Chatrina. Du musst ausruhen …«, hörte ich Satos Worte verhallen.

Immer noch in diesem Raum. Wieder kein Datum, keine Uhrzeit. Aber Sato neben mir. Die Augen geschlossen, gleichmäßig atmend. Der Hals inzwischen nur noch grünlich-violett. Das Messer! Vorsichtig tastete ich nach meiner Kehle. Nichts. Aber offenbar eine Beule auf dem Kopf. Ich spürte den Knubbel auf dem Kissen. Und etwas war anders. Das Licht in meinem Kopf viel klarer, voller Kontraste, die Bilder scharf und nicht mehr hinter einer Nebelwand. Marcella, die aussah wie unsere Mutter. Mein Bild im Spiegel, gleich Marcella, der Mann mit Glatze, der mich von meiner Schwester wegzog, um mich schön anzukleiden, zu schminken, mich seinem Herrn ins Bett zu legen. Dann stand auf einmal Beat Sutter in meinen Erinnerungen, nein, vor mir, als ich aus dem Bunker gezogen wurde, noch blutig von meinen Taten. Zwei Container Medizin, sagte er und jemand übergab mich und andere Mädchen an ihn.
Zum ersten Mal betrat ich ein U-Boot. Eine Nasszelle, duschte. Beats Kamm schaffte es nicht durch meine Haare. Also schnitt er sie ab bis auf einen Zentimeter. Jetzt fahren wir nach Spitzbergen, sagte er. Dort bist du in Sicherheit. Ich aß Algenrollen und spürte den Nebel kommen in meinem Kopf. Die Bilder verschwammen zu einem Nichts. Ich hustete und suchte nach Trinkbarem. Sato schreckte hoch, entdeckte mein Wachsein. Sie hatte geweint. Mit geröteten Augen blickte sie mich an.
»Chatrina …«
»Ich habe Durst …«
Schnell griff sie nach dem Elektrolyt und setzte die Flasche an meinen Mund, die Hand unter meinem Hinterkopf, richtete sie mich auf. Ich trank und dachte an das, was vor mir lag. An die vielen Fragen und noch fehlenden Antworten.
»Wo sind wir, Sakura?«


Die Blicke der Menschen in der Messe deutete ich als neugierig, ängstlich … vielleicht sogar ablehnend.
»Ich weiß, was du denkst«, deutete Sato meinen Gesichtsausdruck. »Aber ich habe es meinen Leuten erklärt. Dass du so etwas wie krank warst, nicht mehr die Kommandantin deiner Sinne«, sie schmunzelte.
Die Kommandantin meiner Sinne? Ich fuhr mit den Fingern über meinen Hals.
»Ach das«, Sato winkte ab. »Geht schon wieder. Ich hatte Mühe, dich bewusstlos zu schlagen.«
»Entschuldigung, Sakura …«
Sie griff nach meinen Händen und schüttelte den Kopf. »Lass uns nach vorne sehen, Chatrina.«
»Was ist vorne?«
»Vorne ist Takuno, Jelena, Menschen, die dich brauchen …«, sie stockte kurz. »Dazu gehöre auch ich. Auch wenn … naja, ich bin dankbar, für jede Minute mit dir. Für das Erlebte und alles, was noch kommt.« Ich entzog ihr die Hände, faltete sie, legte den Kopf darauf und drückte die Augen mit den Daumen zu. Sato setzte sich neben mich. »Wir sind auf Höhe der Isla Guafo und steuern jetzt den östlichen Sund an. In den Nachrichtenkanälen finden sich nur noch wenige offizielle Meldungen. Spitzbergen wird nicht mehr angelaufen, aufgrund der hohen Radioaktivität. Drohnenüberflüge melden, dass nichts mehr übrig ist von den Einrichtungen an Land und auf dem Wasser. Lediglich eine Trümmerwüste. Auch von einer weiteren Explosion im Norden von Baffin Island gibt es Meldungen. Auch dort Trümmerreste, von denen man bisher nichts wusste. Achtundvierzig Gruppen im Indischen und Pazifischen Ozean haben sich als autark bezeichnet, sich aus den Konglomeraten gelöst, um eine eigenständige Gruppierung aufzubauen. Aus dem Atlantik machen sich Inseln auf den Weg, um sich ihnen anzuschließen. In Oahu wurde Yoon Da-Hee abgesetzt, verhaftet, aber es finden sich keine Obleute, die von den Gruppenräten akzeptiert werden.« Sato atmete tief ein. »Sie streiten sich … nach Streit kommt Kampf, schätze ich.«
»Wir waren schwach, Sakura. Ich habe viele Fehler gemacht …«
»Weder noch, Chatrina. Vielleicht muss das jetzige Chaos sein. Vielleicht wird es erst jetzt wichtig, einzugreifen, einen Weg zu wählen, der alle wieder zusammenbringt.«
»Scheiße, Sakura …«, meine Stimme versagte. Direkt gefolgt von Tränen, ein Beben nach dem anderen schüttelte mich. Mein Kopf sank auf den Tisch, Satos Hände legten sich schützend auf meine Stoppelhaare.
»Takuno hat eine Nachricht hinterlassen. Die Sendehubs wiederholen sie noch vier Tage, dann werden alle Sendungen eingestellt. Wir haben sie also noch rechtzeitig mitgehört …«
Ich war nicht fähig zu antworten. Schüttelte leicht den Kopf.
»Sie haben Insel 64 gefunden. Morgen früh sind wir dort.«
Das versetzte mir einen endgültigen Schlag. Statt glücklich zu sein, einen Freudenschrei durch die Messe zu jagen, verlor ich endgültig jegliche Fassung. Wo war die Wut, wenn man sie benötigte? Wo das Glück? Warum die Verzweiflung in diesem Augenblick?
»Vergiss nicht«, sagte Sato dicht neben meinem Ohr. »Ich liebe dich, Takuno liebt dich, Jelena liebt dich.«


»Zieh dich warm an, Chatrina. Oben hat es zehn Grad.«
Ich hob die Hand und stieg in meinen Kampfanzug, klemmte die Magnetverschlüsse der Schuhe zu, dann folgte ich Sato in den Ausstiegsbereich. Sie stieg die Sprossenwand empor, ich folgte. Nach kurzer Zeit standen wir auf der Brücke, bis zur Brust hinter der schwarzen Stahlabdeckung der Instrumente.
»Bitte die Daten auf die Brücke.« Drei Displays leuchteten auf. Ich schirmte die Augen ab und versuchte etwas zu erkennen. Kurz nach Mitternacht. »Wir haben abnehmenden Mond, leider. Aber es sieht aus, als würden wir in die Wolkenlücken laufen, dann gibt uns die Milchstraße genug Licht.« Ich nickte, obwohl Sato es sicher nicht sehen konnte. Das Radardisplay zeigte eine Menge Inseln, die der darunter liegenden Karte entsprachen. Sato fuhr mit dem Finger eine Linie entlang, die exakt nach Süden verlief.
»Das ist der Canal Moraleda. Wir folgen ihm etwa einhundertfünfzig Kilometer, drehen dann neunzig Grad nach Osten in den Paso del Medio, etwa achtzehn Kilometer Fahrt, um wieder neunzig Grad nach Süden abzudrehen in den Canal Costa für weitere fünfzig Kilometer. Dort treffen vier Kanäle aufeinander. Unsere Fahrt bringt uns weiter nach Süden in den Estero Elefantes, die Elefantenmündung, bis wenige Kilometer vor die San Rafael-Lagune …« Sato wischte die Karte wieder nach oben. »Hier müssen wir fast wieder nördlich laufen in den Estero Cupquelan. Von dort sind es noch einmal dreißig Kilometer bis zu diesem kleinen Fjord. Das ist unser Ziel.«

Takuno … er hatte Insel 64 gefunden. Ich schüttelte langsam den Kopf. Alles in mir zog sich zusammen. Tausendfaches Kribbeln im Bauch vor Anspannung.
»Fünf Grad nach Backbord«, gab Sato durch. Ihr Gesicht wurde von den Displays erhellt. Ein Halstuch verdeckte die Würgemale. Ich hob die Hand und zog es ein Stück höher.
»Das werde ich mir nie verzeihen …«
»Du warst nicht du selbst, als das passierte, hast mich gar nicht wahrgenommen. Völlig in einer parallelen Welt … in deinen Träumen, nehme ich an.« Aus diesen Träumen bin ich ausgebrochen, dachte ich. So haben sich Traum, Erinnerung und Jetzt vermischt …
»Kurs liegt an«, kam es aus dem Lautsprecher.
»Kann es Probleme geben in diesen Gewässern?«, lenkte ich mich selbst ab.
»Möglich. Die Wassertiefen ändern sich durch den Sedimenteintrag. Momentan sind wir bei 242 Meter Wassertiefe. Und Insel 64 hat es ja auch geschafft.«
Ich schwieg. Mir fiel nichts mehr ein. Immer wieder Wolkenlücken über uns, langsam größer werdend, an den Rändern ausgefranst und in hellem Grau. Der Mond eine Sichel. Die Kälte kroch in mich hinein. Ich aktivierte die Batterie durch einen Achseldruck. Aus den Gel-Pads strömte Wärme in den Kampfanzug. Ich genoss die sich schnell ausbreitende Behaglichkeit.
»Schau nach oben.« Ich folgte Satos Arm. Das Band der Milchstraße warf ein sanftes Licht auf den breiten Fjord und reichte von Südosten bis weit hinter unsere Köpfe. Es klarte auf. »Wir haben zunehmende Höhenwinde aus West. Es wird kälter werden. Sieh mal nach Osten.« Mehr und mehr Licht hellte den östlichen Horizont auf. Bald war es ein leicht blaues Band aus schneebedeckten Gipfeln. »Ich liebe die See«, flüsterte Sato, dunkelte die Displays ab und blickte zum Himmel. »Genau vor uns kannst du so was wie ein Kreuz erkennen, wenn du die Linien von vier Sternen verbindest.«
Es war nicht einfach, aber als ich nicht nach einzelnen hellen Punkten sondern nach dem Bild eines Kreuzes suchte, fand ich es auf Anhieb.
»Ja, ich sehe es.«
»Das Kreuz des Südens«, erklärte Sato. Es zeigt den Seefahrern seit Jahrhunderten den Weg Richtung Südpol. Jetzt geh auf dieser Linie nach rechts, bis hier, dann nach oben … der sehr helle Stern?«
»Hm.«
»Das ist Sirius. Man kann ihn auch Canis Majoris nennen, der Hundsstern …«
»Hundsstern?«
»Ja, das südlichste sichtbare Objekt des Wintersechsecks.« Ich staunte über Satos profundes Wissen. »Nun wieder nach links auf dieser Linie … noch ein großer Brocken. Etwas höher …«
»Der einzeln Stehende?«
»Ja, aber das ist kein Stern. Das ist der Jupiter.« Ich schwieg, weil nichts anderes blieb als zu schweigen. Weil ich keine Worte fand und es auch keine gab. »Du schweigst, denn du fühlst dich klein unter all dem Großen da draußen, nicht wahr?«
»Ja, Sakura …«
»Man nennt es Demut. Wir haben es vergessen.« Sie lehnte den Kopf an mich und ich legte den Arm um ihre schmale Schulter.
»Ich habe mir wenig Gedanken gemacht über Demut, Sakura. Aber hier zu stehen, mit dir, unter dieser Straße aus Licht und Staub, lässt mich ahnen, was die Menschen verloren haben, als sie auf das Wasser fliehen mussten, nicht mehr forschen konnten, um nach dort oben zu kommen, nur noch das fürs Überleben wichtige entdecken. Wenn die Menschen auf den Inseln stehen, nachts, und es nicht gerade stürmt, dann sollten sie doch Neugier und Demut empfinden, oder?«
»Ich weiß es nicht, Chatrina.«
Wie wenig Gedanken ich mir über das, was um uns herum war, gemacht hatte, wurde mir in diesem Augenblick sehr bewusst. Ich meinte, besser zu hören, zu sehen und tiefer zu fühlen. Und doch war ich noch schwach, körperlich ausgelaugt.
»Macht es dir etwas aus, wenn ich mich hinsetze?«
»Nein. Wird dir nicht zu kalt?«
»Die Kampfmonturen haben Wärmepads.«
»Ja … das habe ich vergessen.«
Ich setzte mich auf einen der beiden Brückensitze und lehnte mich an. Das Boot schaukelte nicht mal, so ruhig zog es seine Bahn durchs Wasser. Lediglich ein leises Plätschern war zu hören. Ich lehnte den Kopf an Satos Hüfte und döste ein.


Als ich erwachte, schaute das Band der Milchstraße nur noch schwach auf mich herunter. Umgeben von den Stahlwänden der Brücke, Satos Beine vor mir. Ich lag auf zwei Decken auf dem geriffelten Boden, eingehüllt in die Wärme der Pads. Im Gesicht spürte ich die Kälte des Morgens, Dampf bildete sich beim Ausatmen. Mühsam stemmte ich mich hoch.
»Wir gehen runter auf fünf Knoten. Hart Backbord auf zwanzig Grad.« Sato drehte sich kurz zu mir, lächelte und folgte dann dem sich drehenden Symbol auf dem Radardisplay. »Guten Morgen. Du wirst gerade im richtigen Moment wach …«
»Danke, dass du dich um mich gekümmert hast. Sind wir schon da?«
»Noch nicht ganz, aber sieh nach rechts. Die Sonne geht auf.«
Der Fjord war nicht mehr so breit wie in der Nacht. Geschätzte zweieinhalb Kilometer vielleicht. Ein Seitental öffnete sich weit in die Berglandschaft hinein. Nur wenige Gipfel waren von Schnee bedeckt. Bis in Höhen von vier- oder fünfhundert Meter gab es nichts als Bäume zu sehen, ganze Wälder. Ich blickte durch die Optik. Nicht sehr große Bäume, viel Buschwerk dazwischen. Als wir gleichauf mit dem seitlichen Tal lagen, machte die Sonne einen Sprung, trat hinter einem Sattel zwischen zwei Gipfeln hervor und stieg schnell nach oben. Sofort drehte ich den Kopf und verfolgte gebannt, wie ihr Licht die östlichen Hänge hinabstieg, aus dunklen, gleichförmigen Wäldern ein Meer aus hunderten von Grün-, Orange- und Gelbtönen kreierte, das Wasser traf, sein nächtliches Grau vertrieb und nichts als eine schillernde Fläche erschuf, klar bis weit unter das Boot. Wir waren lediglich ein schwarzer Schatten in dieser Pracht. Sato tippte auf meine Schulter und deutete links in eine Bucht. Sie holte eine Signalleuchte aus einem Kasten, legte sie auf die Stahlbrüstung und klickte Morsecode. Ich setzte die Optik an. Eines von Jonnas neuen Booten, kaum sichtbar in dieser kleinen Bucht. Ich erkannte nicht die Person auf dessen Brücke, aber es wurde Morsecode zurückgegeben.
»Was geben sie durch?«
»Herzlich willkommen«, erklärte sie.
»Wie viel Wasser haben wir unterm Kiel?«
»Vierundzwanzig Meter. Keine Chance gegen einen Torpedo.«
»Ein gutes Versteck«, merkte ich anerkennend an. »Wer war das dort drüben?«
»Das war Konnehs Boot. Ich nehme an, sie wechseln sich ab. Und es wird auch nicht das Letzte gewesen sein auf den nächsten Kilometern.«
Der Fjord knickte leicht nach links ab und verbreiterte sich danach wieder.
»Vier Grad nach Backbord«, sprach Sato ins Mikrofon. Ein zweites Tal schälte sich aus dem Meer der Bäume und Büsche, nicht so tief ins Land hineinreichend, aber breit genug für eine Insel. »Jetzt haben wir wieder hundert Meter unter uns«, teilte mir Sato mit. Weit vor uns türmte sich quer ein Höhenzug auf, Ost-West-Richtung.
»Laut Karte kommt dort vorne eine Art Lagune«, deutete Sato auf das Radardisplay. »Rechts führt ein weites Tal ins Land hinein, Richtung eines Vulkans namens Hudson. Ein Fluss fließt dort, der Rio las Sorpresas.« Sie vergrößerte die Ansicht. »Der Taleinschnitt vor uns führt in ein weiteres Flusstal, Rio de los Huemules. Und eine große Struktur liegt in der Lagune …«
Eine große Struktur … am liebsten wäre ich vom Boot gesprungen, gerannt, geflogen, was auch immer. »Sakura, ich mach mich mal ein wenig frisch. Bist du mir böse?«
»Nein, geh ruhig.«
Ich rutschte die Sprossenwand hinunter, rief ein ‚Guten Morgen‘ in die Zentrale, rannte durch den Gang in die Kabine, riss alle Kleider vom Leib und stellte mich unter die Dusche. Takuno und Jelena … mehr kam mir nicht in den Sinn.


Zwei weitere Boote, links und rechts des Fjords positioniert, blickten uns entgegen. Sato morste. Ich stellte mir vor, wie es unter der Wasseroberfläche aussah. Sechs offene Mündungsklappen, nur noch dreißig Meter Wasser unter uns am Beginn der Lagune. Die Karte zeigte eine Größe von fünf auf zwei Kilometer.
»Seit einiger Zeit folgen uns Drohnen«, merkte Sato an.
»Nichts, was ich nicht ebenso tun würde.«
Sie setzte die Optik an und deutete nach rechts. Mit wenigen Knoten Fahrt schoben wir uns um die steil aufragende Fjordwand, direkt auf die langsam auftauchende Stahlwand einer Insel zu. 64 prangte in großen Lettern auf den Segmentseiten. Menschen standen an Deck und winkten. Keine fünfhundert Meter vor uns. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, wollte über die Brüstung klettern.
»Ich wusste es …«, murmelte ich. »Ich wusste es.«
Sato stieß den Ellenbogen in meine Seite. »Wir haben es geschafft«, stellte sie fest. Dann zeigte sie auf die bewaldete Insel mitten in der Lagune. »Sieh mal … Le Duc Thos Boot und da … die Neptun!«
Kleine Schnellboote fuhren zwischen Booten und Insel hin und her. Sie drehten bei und kamen auf uns zu. Keinen Insassen davon erkannte ich durch das Fernglas, aber das war egal. Sie winkten, mit den Händen, Käppis, Satos Arm streckte sich steil in die Luft. Ich tat es ihr nach, schwenkte beide Hände.
»Gebt Signal«, rief sie ins Mikrofon. Ohrenbetäubender Lärm kam aus einem Horn unterhalb der Brücke.
»Scheiße!«, rutschte mir heraus, was aber niemand hörte. Der Lärm brach ab.
»Wir sind jetzt zuhause«, meinte Sato und nahm mich in den Arm, drückte sich schnell wieder ab. Waren wir das? Zuhause? Ein Teil von mir wünschte es sich; und war fast in der Lage, alles jenseits der Fjorde zu verdrängen. Aber eben nur fast. Unter all dem Glück, der beeindruckenden Landschaft, diesen winkenden Menschen dort, sah ich das Loch. Jederzeit bereit, diesen Traum im Mahlstrom einer unausweichlichen Zukunft zu zermalmen. Ich spürte die Angst tief in mir. Und das Grauen vor der bitteren Wahrheit.
»Ich übernehme die Steuerung von hier oben.« Rechts des Bootes begann das Wasser zu schäumen. Manövrierpropeller drückten uns in Richtung der bewaldeten Insel. Sato steuerte die Umiboozu zwischen die beiden anderen Boote, dann schäumte es am Bug und wir kamen zum Stehen.
»Komm, Chatrina! Gehen wir nach unten.«
Ich nickte langsam. »Ja, machen wir uns bereit.«


Satos Leute vertäuten die Umiboozu mit den Nachbarbooten, die über Bodenanker an der bewaldeten Insel fixiert waren. Als ich in das Mannschaftsboot stieg, drehte sich eine kapuzenverhangene Person zu mir.
»Kazumi …«
Sie fiel mir um den Hals, das Boot schwankte ein wenig und der Mann am Steuer warf uns einen missbilligenden Blick zu.
»Bitte hinsetzen. Das Wasser hat nur acht Grad.«
Ich nickte, Kazumi in den Armen. Sachte bugsierte ich uns zu den Sitzreihen, setzte sie und mich daneben. Sato und zehn weitere Leute aus ihrer Mannschaft folgten. Wir legten ab und fuhren in weitem Bogen auf Insel 64 zu, Segment C. Wie neu sie doch aussah. Völlig intakt. Beim Hinaufschauen entdeckte ich die Drohnen über den Hügelkuppen, in verschiedenen Höhen, rundherum. Kazumi zitterte. Es war nicht das Boot, das rhythmisch aufs Wasser aufschlug. Ich drückte sie an mich. Wie mochte es ihr ergangen sein? Die Schleuse von Segment C stand offen, zwei Männer darin. Das Boot legte an, Sato warf das Seil auf den Steg, sprang hinüber und machte uns fest.
»Komm, Kazumi. Wir sind da.«
Jelena kam mir in den Sinn. Und dass mein Gefühl für Kazumi dem für Jelena ähnelte. Sie stand auf, griff meine Hand und wir taten einen großen Schritt auf den Steg, gingen die wenigen Stufen zur Schleuse hoch und betraten Insel 64. Aus einem mir unbekannten Grund umarmte ich einen der Männer in der Schleuse völlig spontan, drückte ihm fast die Luft aus den Lungen. »He, Vorsicht …«, röchelte er und strauchelte gegen die Wand. Schnell ließ ich los, entschuldigte mich. Kazumi schnappte wieder meine Hand und zog mich durch den Gang. Ich drehte den Kopf, entdeckte Sato und winkte ihr zu.
»Sakura! Komm!« Als eine der neuen Inseln hatte 64 ein durchgehendes Dock von Segment A nach C. Durch die Sichtfenster zum Dock entdeckte ich ein U-Boot. Vom selben Typ wie das große Boot, mit dem Rodriguez und Anouk mit uns Richtung Beringstraße fuhren. Ich blieb stehen und starrte durch die Scheibe. Kazumi verlor meine Hand, drehte sich um und kam wieder zurück. Sato erreichte uns, folgte meinem Blick.
»Das gibt’s doch nicht …«, flüsterte sie entgeistert.
»Das ist die Nautilus«, erklärte Kazumi.
Sato lehnte den Kopf ans Glas, legte beide Handflächen darauf. Etwas nahm sie deutlich mit. »Die Nautilus?« Ihre Stimme zitterte fast.
»Was ist los, Sakura?«
»Erinnerst du dich daran, dass ich in der Kantine von Boot 12651 ein Buch las, und du mich fragtest, was es für eins sei?«
»Aber ja, unsere erste wirkliche Begegnung. Wie könnte ich das vergessen«, erwiderte ich bewusst lächelnd.
»20.000 Meilen unter dem Meer hieß das Buch. Darin geht es um einen Mann, der sich von der Welt verabschiedet hat aus Gram, Enttäuschung, Wut. Er durchquerte die einsamen Ozeane mit einem U-Boot, der Nautilus.«
Ich blickte zu Kazumi, dann zu Sato, legte um beider Schultern meine Arme. »Was wäre ich ohne Euch? Einfach nichts. Kommt! Gehen wir nach oben.« Ich drückte uns weiter auf die Freitreppe zu.


Die Menschen grüßten uns. Auf der Treppe, den Gängen, schließlich in der Inselzentrale. Als wären sie auf dem Weg zu etwas Neuem, einem Aufbruch ins Gelobte Land, wo immer das auch sein mochte. Sie waren hauptsächlich damit beschäftigt, die Drohnenbilder zu beobachten. Radar, Wetterbeobachtung und Karten. Offensichtlich von der Umgebung. Aus dem Durchgang zu Segment D kam eine ältere Frau mit grauen Haaren auf uns zu. Die Handflächen weit geöffnet. Kazumi zog die Jacke aus und ging auf sie zu. Beide umarmten sich kurz.
»Guten Morgen. Willkommen auf Insel 64 … Obfrau Sutter?«
Das bestätigte ich nickend. »Auch Ihnen einen guten Morgen und vielen Dank für den freundlichen Empfang«, ich deutete auf Sato. »Das ist Sakura Sato, Kommandantin der Umiboozu.«
»Sie sind weit gereist, um uns zu finden«, betonte die ältere Frau. »Ich bin die gewählte Erste Rätin der Menschen hier und heiße Róisín McMahon. Bitte folgen Sie mir, ich habe etwas zu essen vorbereiten lassen.«
»Róisín … das ist irisch«, stellte ich fest.
»Ja, eine alte, sture Irin«, grinste sie und drehte sich um. »Komm, Kazumi …«
Sato und ich sahen uns spontan an. »Mal sehen, was es hier zu essen gibt«, sagte Sato schmunzelnd und setzte sich in Bewegung. Ich folgte ihr.
McMahons Raum war mit Tischen und Stühlen zugestellt. Als erwartete sie eine Menge Gäste. Das Essen kam uns bekannt vor, bis auf Wärmebehälter mit diversen Speisen, die Sato und ich misstrauisch beäugten. »Pilze aus den hiesigen Wäldern«, erklärte McMahon. »Probieren sie. Einfach fantastisch.«
Sato tat sich drei Löffel voll auf den Teller. »Sei nicht feige, Chatrina«, forderte sie mich auf. Ich probierte direkt aus dem Behälter und wäre fast in die Knie gegangen vor diesem köstlichen Geschmack.
»Unglaublich …«, murmelte ich.
»Muss ich Sie noch mit Obfrau Sutter ansprechen?«
Schnell schöpfte ich einige Löffel dieser Pilze und drehte mich zu McMahon. »Nein, die Zeiten liegen hinter uns …«
»Dann sagen sie Róisín zu mir … Chatrina.«
Ich musterte sie genau. So groß wie ich. Gewelltes, mittelgraues Haar und grüne Augen. Sie war alt, auf jeden Fall, aber noch voller Spannung und Frische im Gesicht. Und einer Menge Sommersprossen. Ich ertappte mich dabei, das Dunkle in ihr zu suchen. »Du suchst nach einem Grund für Misstrauen?«, fragte McMahon mich frei heraus. Ich nickte langsam, aber fühlte mich nicht ertappt. Eher beruhigt.
»Ja. Verzeihung … eine Art Automatismus.«
»Darf ich?«
Mit einem Griff nahm sie meinen Teller weg, stellte ihn auf den Tisch. Ich zog die Augenbrauen hoch und wollte reagieren, da war sie schon direkt vor mir, legte beide Hände um mich, drückte ihre Wange gegen meine. Eine tiefe Wärme drang in mich ein. Róisíns Hand wanderte meinen Rücken hinauf, drückte meinen Hinterkopf. Wie von selbst legte ich die Hände um ihren Körper, hielt sie fest wie … wir sagten nichts. Die blaue Leuchtanzeige über der Tür. Identisch auf allen Inseln und Booten. Zwei oder drei Minuten vergingen, dann löste sie sich und ich meinte, mein Körper müsste folgen, an ihr kleben bleiben. Langsam drehte sich McMahon Sato zu und tat mit ihr dasselbe. Es war förmlich zu sehen, wie Sato sich veränderte. Ich setzte mich, musste mich hinsetzen, meine Beine gaben einfach nach und die Tränen kamen. Wirre Bilder folgten ihnen. Mutter zwischen den Männern, ohne einen solchen Abschied, ohne uns in den Arm zu nehmen, ohne ein Wort des Trosts. Sie ließ mir den Hass und Marcella die Liebe.


Eine junge Frau wies uns Quartiere in Segment D zu. Sie beantwortete mir auch, wo Takuno und Jelena sich aufhielten. Dort draußen in den Wäldern, mit Max und Bijan auf Expedition, der Suche nach geeigneten Plätzen zum Bau von unterirdischen Anlagen – und um Pilze, Wurzeln und Beeren zu sammeln. Sie würden die Nacht in den Bergen verbringen und am nächsten Tag heimkehren. Meine Sehnsucht wurde nicht beruhigt dadurch, im Gegenteil: sie brannte um so mehr. McMahon hatte für den nächsten Tag um zehn Uhr ein Treffen angesetzt mit Bootkommandantinnen und Bootkommandanten, einiger ihrer Leute und mir. Sie riet dazu, ehrlich zu sein und alles über den Angriff auf Spitzbergen zu erzählen. Ich versuchte, mich vorzubereiten, etwas auszuformulieren, aber es gelang mir nicht. Also legte ich das Pad weg, ging ins Bett und starrte an die Decke. Draußen begann es zu regnen und Sato hatte prophezeit, dass dieser Regen bald in Schnee überginge. Schnee, dachte ich und erinnerte mich an Beat Sutter, wie er eines Tages versuchte, mit dem wenigen weißen Pulver einen Schneemann zu bauen aber kläglich scheiterte. Mit dem Bild meines Adoptiv-Vaters im Kopf, schlief ich irgendwann ein. Gegen neun Uhr am Abend weckte mich zunehmend lauter werdendes Klopfen.
»Ja?«
McMahon trat ein, schloss sachte die Tür hinter sich und setzte sich an den Tisch. Ich richtete mich im Bett auf, lehnte an die Rückwand und fixierte sie, ihre Bewegungen, mit Bedacht ausgeführt, stets kontrolliert. »Du hast geschlafen?«
»Eingedöst, ein bisschen träumen, nicht wirklich schlafen.«
Sie legte die rechte Hand auf den Tisch, flach. Saubere Nägel, akkurat geschnitten. Ein schmales Handgelenk an einem sehnigen Unterarm. »Du beobachtest mich genau«, stellte sie fest.
»Ich bin Polizistin. Das bringt der Beruf mit sich.«
»Ich verstehe …«
»Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?«
Ihr Blick verlor an Schärfe, trat vielleicht hinter die inneren Bilder zurück, in eine ferne Vergangenheit, senkte sich auf die feingliedrige Hand auf dem Tisch. »Vor mehr als zehn Jahren wurde Jonna Andersen Obfrau der Polizei«, begann sie. Ihre Stimme folgte einem Pfad, vergaß mich und diesen Raum. »Es dauerte nicht lange, bis sie Menschen direkt von der Polizeischule rekrutierte, eine neue Einheit schuf, auf sich einschwor und zunehmend professioneller als Augen und Ohren nutzte. Sie erfuhr aufgrund ihrer Position von den Anlagen auf Cornwallis Island, war aber, wie alle Beteiligten, zum Stillschweigen verpflichtet …«
»Moment, Róisín, Resolute Bay existiert schon länger?«
»Ja, Chatrina. Etwa neunzig Jahre. Es wurde noch von der UNO als Forschungseinrichtung etabliert.« Ich zog die Beine an, kreuzte sie und rieb meine Füße. Länger als neunzig Jahre? »Aufgrund der vorhanden Unterlagen und jahrelanger Forschung gelang es, eine Methode der Energiegewinnung zu etablieren, an der die Menschen seit langem forschten … zumindest bis zum Exodus auf die Ozeane. Ihnen gelang die Trägheitsfusion. Das war vor ziemlich genau zwanzig Jahren. Der Prozess war so effektiv, dass weit mehr Energie herauskam als reingesteckt wurde. Nebenprodukte waren viele Bestandteile der neuen Boote und Inseln, etwa Natriumzellen …«
»Du warst eine der Wissenschaftlerinnen?«
»Das war ich.«
»Warum hielt man diese Forschung geheim?«
McMahons Blick wurde wieder klar. Sie lächelte nachsichtig. »Weil der Erfolg nicht garantiert war. Eine große Menge Ressourcen wendete man darauf, um voranzukommen. Wie sollte man den Menschen erklären, weiterhin auf einer dreißig Jahre alten, brüchigen Insel zu leben, viertausend Meter Wasser unter sich, keine neue zu bekommen, während wir dort oben jedes Quant in Anlagen und Forschung steckten?«
»Ich verstehe … und die neuen Boote werden damit angetrieben.«
»Nun, die Trägheitsfusion wurde ein Erfolg. Im Laufe einer Dekade erreichten wir eine weitestgehende Miniaturisierung. Die beteiligten Wissenschaftler, Ingenieure, Techniker lebten dort oben mit ihren Familien. Sie wussten, bei Erfolg käme es allen Menschen zugute, aber bis dahin war der Preis die Abgeschiedenheit. Dann kam Jonna und nahm langsam, aber sicher das Zepter in die Hand. Immer mehr ihrer Leute ersetzten das vorhandene Personal. Es ging nur noch um U-Boote und Waffen. Als Nebenprodukt gönnte Jonna den Werften in Spitzbergen, Oahu und den Kerguelen neue Inseln mit verbesserter Technik. Sie beherrscht das Prinzip von Brot und Spiel exzellent. Die ersetzten Wissenschaftler, Techniker, Ingenieure kamen auf …«
»… Insel 64.«
Sie nickte langsam.
»Philip Barlier wusste Bescheid?«
Róisín lachte laut auf. »Nein, er ist ein Idiot … wie dem auch sei … Jonna gab den Menschen auf Insel 64 zwei Optionen: Mund halten und leben oder sterben.«
»Deshalb keine Verwandten in der Gruppe.«
»Ja, nur wir unter uns. Jederzeit der Spielball von Jonna Andersen. Vor allem unsere Kinder …«
»Und Semjonowa?«
McMahon erhob sich, drehte eine Runde um den Tisch, blieb vor dem Spiegel stehen und blickte hinein.
»Zuerst experimentierten wir mit Kernspaltung, aber der Strahlungsabfall war zu gefährlich. Jonna dachte weiter. Raketen um vorhandene Sprengköpfe bauen, statt sie zu zerlegen. Einige von uns meinten, an die Öffentlichkeit gehen zu müssen, die Menschen informieren, den Gruppenrat. Aber wir waren einfach zu naiv und gefährdeten auch noch die Inselräte, Eldren, Patronas und einige andere. Eldren und Patronas informierten Semjonowa als Erste Administratorin. Die sammelte fortan Beweise …«
»… und dann kommt Jonnas beste Polizeieinheit und beginnt mit den Untersuchungen«, murmelte ich. »Kein Wunder, dass alle misstrauisch waren …«
»Wie?«
Ich winkte ab. »Einige auf Insel 64 wollten ihren eigenen Weg gehen«, warf ich stattdessen ein.
»Auch wir sind uns nicht immer einig, Chatrina. Aber wir treffen Mehrheitsentscheidungen. Und eine führte dazu, abzutauchen, unser Glück fernab der offiziellen Routen zu suchen, statt auf irgendjemanden zu hoffen.«
Ich suchte ihren Blick im Spiegel. Das Drama begann … »Nun schuf Jonna einen ‚Feind‘«, fuhr ich fort. »Die ersten ihrer neuen Boote versenkten Gruppe 25, löschten tausende von Leben aus, sie verbannte die Überlebenden aufs Festland …«
»… exekutierte Semjonowa«, vollendete McMahon meinen Satz und rieb sich die Augen. »Wir luden einen Berg Schuld auf uns durch unser Verschwinden, den wir nicht mehr abtragen können in diesem Leben.«
Ich stand auf, zog die Schuhe an. Es hielt mich nicht mehr auf dem Bett. Neben McMahon stehend, blickten wir zusammen in den Spiegel. Ihre grünen Augen reflektierten uns, das Licht der LED-Leiste.
»Und die Babys? Die Forschungen zu Tiefseenahrung?«
McMahon lachte auf. »Wie meist gibt es immer mehrere Spieler. Yoon Da-Hee bekam Wind von Jonas Augen-und-Ohren-Truppe und benutzte einige von ihnen. Ihr wurde klar, dass Jonnas Plan schon weit fortgeschritten war und ihrem eigenen Plan in die Quere kam …«
»… ihrem eigenen Plan?«
»Yoon ist eine Anhängerin der Wiederbesiedelung. Die Antarktis. Dazu ist aber eine außergewöhnliche Energiequelle notwendig. Die hat wiederum Jonna. Das Eis der Antarktis ist so gut wie verschwunden, aber aus den Felsen hat sich noch kein Boden gebildet, also muss man in den Untergrund. Dazu braucht man angepasste Menschen und angepasste Nahrungsquellen … meint jedenfalls Yoon Da-Hee.«
Ich fixierte McMahons Augen im Spiegel. »Woher weißt du das mit Yoon? Das wird sie dir ja nicht per Funk mitgeteilt haben, nicht wahr?«
Sie grinste und drehte den Kopf zu mir. »Polizistin, was?«, stellte McMahon fest. »Du wirst morgen einige von Jonnas Truppe kennenlernen, unter anderem Aki Kettunen. Der Obmann dieser Augen und Ohren und Jonnas bester Mann auf Oahu.«
Ich erstarrte. Die Tragweite dessen, was ich hörte, formte sich langsam und zäh zu einem Bild, das mich fuchsteufelswild machte. »Jonnas Leute platzierten Gegenstände wie diese Postkarte in Semjonowas Koffer, um Yoon ins Visier zu rücken«, beschrieb ich das werdende Bild in meinem Kopf. »Sie plante den Krieg schon lange zuvor, nutzte die ‚unbekannten Boote‘ als Vorwand, um vorher geplante Verteidigungsmaßnahmen umzusetzen, Torpedonetze für Inselgruppen, aber zuerst im Atlantik … und sie zwang Semjonowa, uns nach Brest zu schicken, wo wir nichts fanden außer Jonnas Boote, die uns aus dem Weg räumen wollten …«
McMahons Hand legte sich auf meine Schulter. Ich musste mich hinsetzen.
»Meine Leute starben eine nach dem anderen und Yoon Da-Hee setzte das fort, weil sie uns zu Jonnas Truppe zählte, den Hinterhalt in der Japansee legte, wo Kano und Aljona ihr Leben ließen.« Ich fühlte mich leer, schüttelte den Kopf, musste aber nicht lange auf meine Wut warten. Der Weg war noch lange nicht zu Ende.
»Es tut mir leid, Chatrina. Du warst in der Tat ein Werkzeug …«
»Könnt ihr die Inselkommunikation mithören?«, unterbrach ich McMahon.
Sie sah mich verdutzt an. »Ja, wir haben Empfangsstationen auf den äußeren Inseln.«
»Gibt es Hinweise auf Jonnas Überleben?«
»Nein«, schüttelte sie den Kopf. »Spitzbergen ist restlos zerstört, aber ich könnte mir vorstellen, dass es in der unterirdischen Anlage durchaus Überlebende gibt.«
»Weißt du, wo Yoon Da-Hee sich aufhält?«
Sie grinste. »Aki Kettunen weiß so was. Was hast du vor?«
»Ich bin Polizistin, Róisín, vergiss das nicht.«

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