Insel 64 | Kapitel 2

Das Erwachen

Brief von Chatrina Sutter an Abiolas Eltern

Inselgruppe 1 auf Nord 78° 17‘ und Ost 9° 10‘

Ich las meine Worte noch einmal. Gab es noch etwas hinzuzufügen? Vieles. All die durchgestandenen Einsätze der letzten Jahre. Aber was brächte es Abiolas Eltern? Nur Schmerz. Mit dem Finger schob ich den Text an den Rand. Gesendet. Montag, 12. Februar 2148, 10 Uhr 22. Abiola war fort. Nur in meinen Träumen existierte sie noch. Noch ein Traum mehr. Aber was machte das schon. Es klopfte.
»Ja?« Takuno trat ein, setzte sich gegenüber aufs Bett und legte eine blaue Schachtel auf den Tisch.
»Hier. Habe ich besorgt.« Tabletten aus der Privatküche von U-Boot 12651.
»Danke, Kenzaburo.«
»Nicht der Rede wert.«
Wir schwiegen uns an, ließen aber nicht den Blick voneinander. Seit dem Tag der Katastrophe existierte ein Band zwischen uns. Was ich davon zu halten hatte, war mir noch nicht klar. Es war ein zutiefst vertrautes Gefühl und doch wollte ich vorsichtig sein. Ich schüttelte die Gedanken ab und versuchte mich zu konzentrieren.
»Helfen diese Tabletten bei Alpträumen?«, fragte er unvermittelt.
»Nein, sie helfen nicht gegen die Träume. Aber gegen den Sturm danach. Ich bin in der Lage, mein Leben zu leben, ohne dass ich verzweifle.« Er zog das Käppi aus der Hosentasche, betrachtete es genau und setzte es auf. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Das Käppi ist bestimmt die bessere Tablette«, sagte ich.
»Zweifellos, Chatrina. Leider ist keine Zeit für die Geschichte hinter den Tabletten oder meinem Käppi. Wir haben eine Verabredung.«
»Ich komme gleich. Bitte, geh vor und sammle unterwegs meine Mannschaft ein.«
»Ja.«
Takuno stand auf, streckte sich und verließ mein Quartier. Ich blickte mich um. Alles sauber, keine Unordnung, fertig für den nächsten Einsatz. Also steckte ich das Pad ein und folgte ihm.


Jonna Andersen reichte mir die Hand. Ich griff zu; gar nicht sicher, ob sie mich meinte, denn um uns herum standen einige hohe Vertreter der Administration, an die zwanzig Personen aus den verschiedensten Bereichen; darunter Semjonowa, die oberste Administratorin und neben ihr Yoon Da-Hee, Obfrau der Nachrichtentechnik. Jonnas Größe in Verbindung mit den feuerroten Haaren machten aus ihrer imposanten Erscheinung eine Art Leuchtturm; weithin sichtbar. Sie musste nur die Hand heben und sich räuspern, schon erwarteten alle im Raum offensichtlich Großes.
»Setzt euch!«, rief sie. »Beachtet die Displays. Eure Namen sind abgebildet.« Jonna hatte einen zweiten Tischkreis um den ersten herum aufstellen lassen. Ich suchte Takuno, der im inneren Kreis saß und mich zu sich winkte. Hinter uns saß meine Mannschaft. Abiola fiel mir ein, ihr Oberkörper im Rettungsgurt und das helle Geräusch des Windenmotors. Das nach oben gehende Drahtseil. Ein halber Mensch schwebte vor Tagen unter mir – und nun vor meinem inneren Auge.
Jonna begann umgehend, dunkelte den Saal ab und aktivierte das zentrale Hologramm. Ich atmete erleichtert auf. Sie stand inmitten der blauen Linien. »Ich werde es kurz machen«, erklärte sie. »Zeit ist aus meiner Sicht ein Luxus, den wir nicht haben.« Mit der Hand zog sie ein Bild der Gruppe 25 heran. »Das war vor einem Jahr. Insel 64 war zu diesem Zeitpunkt noch nicht erneuert.« Ein kurzer Dreh, weiße Zahlen leuchteten im tiefen Blau. »Nun ist sie spurlos verschwunden, vierundzwanzig andere vollständig vernichtet. Insgesamte Bevölkerung vor zwei Wochen: 42.614 Menschen. Abzüglich 1.854 verschwundene Menschen von Insel 64, bleiben 40.760. Überlebt haben das Massaker 1.014 Frauen, Männer und Kinder.« Sie schwieg, drehte sich einmal komplett und sah dabei jeder und jedem im innersten Kreis in die Augen. Ich hatte selten eine solche Stille erlebt. »Das macht 39.746 tote Menschen. Der größte Verlust seit dem Jahr 2052, als Kontinentalbewohner versucht haben, uns den Krieg zu erklären«, betonte sie langsam und mit eindrücklicher Stimme.
»Was wissen wir?«, fragte Yoon Da-Hee.
Jonna ließ die Frage für einen Moment im Raum stehen und blickte zu Takuno. »Sieben unbekannte U-Boote!«, fuhr sie fort. »Tauchtiefe erwiesenermaßen 1.200 Meter!« Wie eine Klammer legten sich ihre eindringlichen Worte um uns. »Sicher mit sonarabweisender Tarnung und möglicherweise kavitierenden Torpedos. Wir wissen auch, dass die Unbekannten ebenfalls nach Insel 64 suchten oder noch immer suchen.« Mit einem Dreher ließ sie Takunos Datenaufzeichnung laufen. Die vom blauen Licht des Hologramms beleuchteten Gesichter um mich herum zeigten deutliche Emotionen. »Wir wissen somit, dass sie vom Verschwinden der Insel erfahren haben. Auf welchem Weg auch immer.«

Das Hologramm verschwand. Bis auf einige LEDs war es dunkel. »Zwanzig Prozent Licht«, trug Jonna der Automatik auf. So gut wie nichts für diesen großen Raum. »Wir wissen aber noch mehr«, hob sie an, »zum Beispiel, dass wir es mit Abtrünnigen zu tun haben.« Treffer! Jonna hatte die vorgeschlagene Strategie übernommen. Und sie war perfekt darin. Deutliches Gemurmel setzte ein. Unruhe breitete sich aus und wir beobachteten.
»Eine Sezession?!« Philip Barlier, der Obmann der Werften, erhob sich. »Du willst uns sagen, dass wir es hier mit einer Sezession zu tun haben?« Wie erwartet, gab es kein Halten mehr. Der Begriff ‚Sezession‘ hatte erhebliche Auswirkungen auf die Anwesenden. Wildes Durcheinanderreden war die Folge. Jonna ließ es geschehen. Nach einiger Zeit erhob sich Semjonowa, ging in die Mitte des Saales, klatschte einige Male laut in die Hände und bat lautstark um Ruhe.
»Bitte! Setzt euch wieder! Bitte!«
Sie blieb stehen, die um einen Kopf größere Jonna neben sich. Es war schwierig, fast unmöglich, alle Gesichter zu erfassen, sich all die Reaktionen zu merken. »Ehrlich gesagt, mir fällt nicht wirklich etwas auf«, flüsterte Takuno.
»Obfrau Sutter, bitte treten Sie vor«, forderte Jonna mich auf. Takuno gab mir einen Klaps auf den Rücken. Ich nickte, stand auf und schob mich zwischen den Tischen durch. »Obfrau Sutter gehörte zusammen mit Obmann Takuno zu den vor Ort anwesenden Polizeieinheiten. Die Administration hat zusammen mit dem Gruppenrat entschieden, dass sie die Ermittlungen übernimmt …« Jonna zog mich an ihre Seite. »… Obfrau Sutter wird uns einige Punkte bezüglich ihres Vorgehens erläutern. Bitte, Chatrina …« Sie nickte mir zu und ich schluckte einen dicken Kloß hinunter. Aber unser Vorgehen war klar und meines Erachtens mehr als schlüssig, also fasste ich mir ein Herz …

»Ich grüße alle und komme gleich zur Sache. Ich bevorzuge den Begriff ‚Gegner‘. Denn als solches werden wir diese Menschen bezeichnen. Und offenbar ist der Gegner uns in technischer Hinsicht auf manchem Gebiet überlegen. Warum? Weil er sich über einen unbekannten Zeitraum auf diese Überlegenheit uns gegenüber konzentrieren konnte.« Ich räusperte mich. »Wir werden es aufholen«, sagte ich dann bestimmt. Die Anwesenden hörten mir schweigend zu. Ich blickte zu Takuno. »Beunruhigender sind die deutlichen Hinweise nach Informationsquellen des Gegners in unseren Reihen, denn nur so erklärt sich das Verhalten.« Ein Flüstern hier und dort. Zunehmende Unruhe. War die Quelle gerade unter uns? Semjonowa hob die Hand. Es wurde wieder still. »Was tun wir nun? Der Gegner baut seine Boote ebenso wenig wie wir unter freiem Himmel in einer idyllischen Bucht. Er benötigt dazu Werften; mindestens eine. Und entsprechende Infrastruktur. Natürlich ebenso wie wir die Ressourcen. Genau da setzen wir an! Polizeieinheiten werden Küstenstädte, Handelspunkte und Händler untersuchen. Das Unterste zuoberst kehren. Jeden Stein umdrehen, wenn es sein muss! Irgendwo wird jemand etwas wissen. Und natürlich sollten sich Ingenieure parallel dazu mit den erforderlichen technischen Anpassungen beschäftigen.« Ich unterbrach für eine kleine Pause. Jonna zwinkerte mir zu. »Wir alle müssen uns jetzt mehr als anstrengen«, beschwor ich die Gesichter um mich herum, suchte Blickkontakt zu allen Anwesenden. »Es ist sogar noch ein Mensch mehr gestorben«, setzte ich nach. »Eine Anwärterin meines Teams hat ihr Leben gegeben, um Obmann Takuno und mich zu retten.« Mit einem gemurmelten Danke setzte ich mich wieder.

»Eine sehr gute Ansprache«, flüsterte Takuno. Ich überlegte, ob er mich auf den Arm nehmen wollte und reagierte lieber nicht darauf. Es würde sich noch herausstellen, ob mein Plan Reaktionen auf der anderen Seite auszulösen vermochte. Semjonowa räusperte sich erneut.
»Danke, Obfrau Sutter. Ich kann nur ergänzen: besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Der Gruppenrat wird morgen beschließen, dass – zum ersten Mal seit einhundert Jahren – ein Verteidigungsausschuss gebildet wird, der aus je drei Vertretern der Konglomerate Atlantik, Indischer Ozean und Pazifik besteht. In dieser Situation ist Effizienz wichtiger als langwierige Debatten. Obfrau Sutter wird in den Ebene-2-Rang erhoben. Fortan unterstehen ihr mehrere Polizeieinheiten und ausreichende Transportmöglichkeiten. Der Ausschuss unterrichtet den Gruppenrat wöchentlich.« Sie machte eine bewusste Pause und sagte etwas auf Russisch. »Falls jemand von ihnen kein Russisch kann«, erklärte Semjonowa und lächelte. »Hier noch einmal verständlich: Der Bär ist erst tot, wenn er gegessen wurde. Damit ist unser Vorgehen festgelegt. Einzelheiten folgen. Ich danke ihnen allen.«
»Der Bär ist erst tot, wenn er gegessen wurde …«, wiederholte Takuno leise. »Das habe ich ja noch nie gehört. Soll das tatsächlich ein russisches Sprichwort sein?«
Ich sah ihn an. »Es ist eine deutliche Warnung, Takuno.«
Sein Stirnrunzeln amüsierte mich.
»Können Sie noch Japanisch?« Takunos Antwort war zweifelsfrei Japanisch. Ich verstand kein Wort, aber empfand es als sehr angenehm. »Aber sicher«, wiederholte er freundlicherweise in Englisch. Mit meinen Gedanken war ich jedoch schon mitten in unseren kommenden Ermittlungen. Ich fasste seinen Unterarm. »Kommen Sie, gehen wir arbeiten.«


Die Audioaufnahme der Sitzung im Ohr, schritt ich durch die holografische Aufzeichnung. Reto neben mir. Durch die Stimmen im Ohr hörte ich ihn husten und rief mir ins Gedächtnis, ihn demnächst auf eine vorgezogene ärztliche Untersuchung anzusprechen. Wäre die ganze Aufregung nicht gewesen, hätte ich mich früher darum kümmern müssen. Dann konzentrierte ich mich erneut. Jeweils zu zweit standen wir vor den Gesichtern der Anwesenden und beobachteten ihre Reaktionen, jedes Muskelzucken oder das Einfrieren aller Regungen. Fiel uns etwas auf, markierte Reto es für das nächste Zweier-Team zur Kontrolle. Waren wir mit einer Person fertig, kam die nächste an die Reihe. So war garantiert, dass niemand vergessen wurde. Als wir durch waren, öffnete sich die Tür zum Ermittlungsbüro. Jonna stürmte herein, einen Metallkoffer in der Hand.
»Das sind die persönlichen Dinge von Patronas‘ Büro im Gruppenrat!«, rief sie und schmiss den Koffer mit Wucht auf den Tisch. Sie stöhnte. »Das Ding ist schwer …«
»Bekommen wir den auf?«, fragte Takuno und sah in die Runde. »Schließlich sind die persönlichen Koffer ja nicht umsonst gegen Zugriff von außen geschützt.«
»Max, mach bitte den Koffer auf.«
»Sehr gerne.«
Die Standard-Koffer besaßen zwei elektromagnetische Schlösser. Jedes mit eigener Codierung. Maximilian legte ihn in eine Wandöffnung, verriegelte die Tür und löste einen Impuls aus.
»Was ist das?«, fragte Takuno neugierig.
»Da drin können wir einen elektromagnetischen Puls erzeugen«, erklärte Maximilian, nahm den Koffer heraus und legte ihn auf den Tisch.
»Aha! So was haben wir?«
»Ja, so was haben wir«, bestätigte Jonna.
»Mach bitte auf, Maximilian«, bat ich. Wir stellten uns an den Tisch und sahen zu, wie der Deckel abgenommen wurde und ein wahres Durcheinander zum Vorschein kam.
»Jedes Staubkorn da drin will ich untersucht wissen«, forderte Jonna eindringlich, packte meinen Arm und zog mich auf die Seite. Als sie ansetzen wollte, piepte ihr Pad. »Meine Güte! Es gibt einfach keine Minute Ruhe!« Sie sah auf das Display und verzog das Gesicht. »Wir müssen tauchen!«, rief sie laut. »Eine Extremzelle nähert sich von Süden. Sehr schnell! Takuno!«
»Ja?!«
»Nehmen Sie die Menschen aus Spitzbergen an Bord und bringen Sie Ihr Boot raus! Verfrachten Sie die Leute nach Longyearbyen.« Er nickte, zog sein Pad aus der Tasche und gab den Befehl an Sato weiter. Jonna griff meinen Ellenbogen. »Komm … wir gehen in den Nebenraum.«

Die schwere Tür fiel in den Metallrahmen. Es wurde schlagartig still. Ich spürte das Vibrieren der anlaufenden Pumpen. Jonna ging auf und ab, sah mich an, stützte ihre Hände auf die Stuhllehne, nervös mit den Fingern klopfend. Immer wieder meinte ich, ein leises Murmeln aus ihrer Richtung zu hören. Langsam ging ich um den Tisch herum, ihr gegenüber, setzte mich und beobachtete das Zucken ihrer schmalen Lippen. Beide Augen auf mich gerichtet, ging der Blick dennoch hindurch. An einen weit entfernten Punkt hinter mir. So kannte ich sie nicht. Für mich war sie immer Vorbild. Konsequent bis zum Ende. Ohne Selbstzweifel; so schätzte ich sie zumindest ein. Jetzt standen deutliche Zweifel in ihrem Gesicht. Und sicherlich ein ebensolcher Berg Fragen im Kopf.
»Dein Gesichtsausdruck beunruhigt mich, Jonna. Was ist los? Du wirkst unsicher.«
Ein schriller Lacher war die Antwort. »Unsicher? Du offenbar nicht! Das habe ich schon immer an dir bewundert«, gestand sie, setzte sich und legte das Pad auf den Tisch. Abwesend musterte sie ihre Fingernägel. »Traust du eigentlich Takuno?«, fragte sie zögerlich. Ich starrte sie für einen Moment an. Takuno? War das wirklich ihre Frage?
»Kann ich denn dir trauen, Jonna? Oder bist du sicher, dass du mir trauen kannst?«, erwiderte ich. Sie nickte unmerklich.
»Berechtigte Fragen, die wir uns stellen müssen. Kann ich dir trauen? Aber vielleicht bin ich es ja, die hier die Fäden zieht …« Sie grinste.
»Hör auf!«, unterbrach ich sie harsch. »Es gibt lediglich Indizien für undichte Stellen! Beweise haben wir keine … vielleicht liegen wir falsch mit dieser Hypothese. Genauso gut könnten unsere Gegner die Kommunikation abhören. Wir wissen es nicht. Paranoia hilft uns jedenfalls nicht weiter.« Ich streckte mich über den Tisch und legte die Hand auf ihren Unterarm, drückte ihn sanft. »Vergiss nicht, Jonna! Wir haben einen Plan! Früher oder später werden sie auf der anderen Seite Fehler machen. Kopfschmerzen macht mir nur die technische Überlegenheit. Wir sind einfach zu satt geworden!«
Jonna verzog den Mund und schüttelte den Kopf. »Eindeutig nein! Zu satt geworden … von was? Wir müssen seit Jahrzehnten um jede Tonne Stahl kämpfen! Damit wir mit diesen Tauchtiefen, Torpedos und was weiß ich was gleichziehen können, benötigen wir eine Menge Kapazitäten, Chatrina …« Ich ließ los, lehnte mich zurück und atmete tief ein. Jonna ballte die andere Hand zur Faust und schlug auf die Tischplatte.
»Wir brauchen die neuen Inseln!«, platzte es aus ihr heraus. Fast ein Flehen; an wen auch immer, denn niemand war in der Lage, all das einfach aus dem Ärmel zu schütteln. »Wir müssen wissen, ob sie funktionieren! Ob wir der Konstruktion trauen können!«
»Lass die beiden anderen Inseln zurück an ihren Platz bringen! Ich bin mir sicher, dass sie ausgereifte Konstruktionen sind!«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Jede Wette, da steckt etwas anderes dahinter. Es gab keine einzige Spur von 64! Und wir werden da draußen auch keine finden …«
Sie lachte kurz auf. »Jetzt wird sich auch nichts mehr finden lassen. Liegt ja nun alles voller Trümmer …«, erwiderte sie.
»Wie?« Ihre Erklärung ließ mich an etwas denken. Ein Schatten zog vorbei und ich konnte ihn nicht packen.
»Ist alles voller Trümmer da unten. Da sucht man jetzt vergeblich nach Insel 64«, wiederholte sie. Der Boden vibrierte stark. Die Ballasttanks füllten sich mit Wasser. Es ging nach unten. Mir fiel in dieser Sekunde das Haus meines Adoptiv-Vaters in Longyearbyen ein. Der Tag meines Fortgehens; endlich alt genug, um meine Ausbildung bei den Polizeieinheiten zu beginnen. Der Tag, an dem Vater wie ein Häufchen Elend in der Küche saß, als hätte mein endgültiger Abschied von daheim alle Kraft aus ihm gesogen. Ein halbes Jahr später war er überraschend gestorben und ich übergab das Haus einem jungen Ingenieurpärchen.
»Weißt du, Jonna … einige Wochen nachdem ich Vater und mein Zuhause verlassen hatte, wusste ich, dass ich nicht ihn vermisste. Was ich wirklich vermisste, war der feste Boden unter meinen Füßen. Die Felsen von Spitzbergen. Das Klettern auf die Berge und der Blick von ganz oben hinab aufs Meer … « Mit dem Finger zeichnete ich kleine Kreise auf den Tisch. Die Stahlwände um uns herum knarrten und ächzten, als wäre es die letzte Reise dieser Insel. Jonna verfolgte meine Fingerkuppe mit den Augen. »Das Gefühl von festem Grund, Jonna, das war, was ich wieder wollte. Den gibt es nicht auf dem Meer. Ich habe mich nie daran gewöhnt, von Wasser umgeben zu sein …«
»… aber für die meisten Menschen ist das Meer nun mal die Heimat. Nicht mehr der feste Boden eines Kontinents«, unterbrach sie mich und stand auf. »Das lassen wir uns von niemandem nehmen!«, ergänzte sie mit Bestimmtheit.
»Ja. Deswegen müssen wir alles einsetzen, was wir haben, um diese Sache in den Griff zu bekommen.«
Sie horchte auf. »An was denkst du?«
»Satelliten beispielsweise. Vier Stück existieren noch.«
Sie winkte ab. »Das sind Wettersatelliten. Und wir wissen nicht, wie lange sie noch funktionieren. Die Dinger sind schon so alt … wenn die Solarpanel eines Tages ausfallen, war es das. Und was sie liefern, hilft den Meteorologen, aber nicht bei der Polizeiarbeit. Zudem ist es meist planetenweit bewölkt, was sollten uns da die Satelliten helfen?«
»Zwei davon sind Röntgensatelliten, wenn mich nicht alles täuscht, nicht wahr?«
Jonna sah mich mit gesenktem Kopf an. Sie dachte angestrengt nach. »Ja, zwei davon sind Röntgensatelliten. Einer hat Kameras für sichtbares Licht und einer arbeitet im Infrarotbereich.«
Infrarot … »Was wird mit den Infrarotsensoren beobachtet?«
»In welchen Höhenlagen sich Hitzeglocken entwickeln, soviel ich weiß.«
»Den brauchen wir.« Sie sah mich lange an. Fast mitleidig, hatte ich den Eindruck.
»Chatrina … ein Satellit … ich ahne, an was du denkst, aber weißt du, wie groß die Erde ist, wenn man nur einen Satelliten hat?«
»Wir werden mögliche Orte per Ausschlussverfahren festlegen«, erklärte ich und stand auf. »Du musst nur den Satelliten für unsere Arbeit priorisieren.«
An Jonnas Seufzer war deutlich zu hören, dass sie nicht überzeugt war. Dann holte sie tief Luft und richtete sich auf; riss sich wieder zusammen. »Na gut, Chatrina. Mach deinen Plan und schick ihn mir.«
Auf dem Weg zur Tür blieb sie stehen. Die Insel schwankte. Vielleicht die Vorboten der heraufziehenden Extremzelle. Ich blickte auf Jonnas rote Haare. Eine ungezähmte Pracht. »Drei Dinge noch, Chatrina«, sagte sie der Tür zugewandt. »Erstens habe ich auf dein Implantat eine aktualisierte Software geladen. Du hast einen neuen Komm-Kanal. Nur wir beide können darüber kommunizieren. Zweitens, wir ziehen deinen Plan – offene Konfrontation möchte ich ihn mal nennen – bis in den letzten Winkel durch; und drittens …«, sie zögerte. »… bist du dir sicher, dass Patronas etwas damit zu tun hatte?«
Ich wartete mit der Antwort. Denn es war mein Bauch, der mir während Patronas‘ Ausführungen diese Ahnung zuflüsterte. Dafür besaß ich keine Beweise, Analysen oder Ermittlungsergebnisse … noch nicht. Aber etwas im Inselrat der Gruppe 25 war abseits aller bisher erlebten Sitzungen von Inselräten der letzten zwanzig Jahre.
»Ich bin mir sicher, dass Patronas federführend – oder als Teil einer Gruppe – auf irgendeine Art in diesen ganzen Komplex eingebunden war.« Ich überlegte kurz. »Vielleicht als Opponentin, die sterben musste, weil sie ihr eigenes Spiel spielte …«
Jonna sah mich entgeistert an. »Zehntausende mussten sterben! Nicht nur eine!«
»Vielleicht eine Warnung?«, kam mir in den Sinn. Sie verdrehte die Augen und ging aus dem Raum. Eine Warnung, dachte ich und spürte, wie es tief unten in mir zu brennen begann. Zehntausende … und Abiola. Ich würde es herausfinden, koste es was wolle.


Die Untersuchung von Patronas‘ Koffer hatte nichts ergeben. Alltagskleidung, einige Dokumente, eine auf Griechisch beschriftete Schatulle mit möglicherweise altem Familienschmuck und die bei offiziellen Anlässen im Gruppenrat zu tragende Robe. Einzig eine Karte aus starkem Papier fiel ins Auge. Auf der einen Seite mit dem Abbild einer Stadt versehen, auf der anderen Seite ein mit Handschrift in Griechisch geschriebener, fast unleserlicher Text; rechts daneben eine Art Adressierung und darüber ein Stempel. Unter dem Scanner wurde die Jahreszahl 2006 und der Name der abgebildeten Stadt sichtbar: Thessaloniki. Maximilians Pad übersetzte den Text und erkannte die Adresse als die eines marinen Institutes, das zu dieser Zeit in der nordgriechischen Stadt residierte. Vorsichtig nahm ich die Karte aus dem Scanner und wendete sie einige Male hin und her, hob sie gegen die LED-Leiste, entdeckte aber nichts Ungewöhnliches.
»Eine sogenannte Ansichtskarte«, erklärte Maximilian und tippte auf ein größeres Gebäude am Rand des Fotos. »Das könnte das Institut sein. Schau mal hier …« Sein Pad warf eine Karte an das Whiteboard. Nordgriechenland. Die Küstenlinie entsprach nicht dem heutigen Stand. »Das ist ein Satellitenbild aus dem Jahr 2019.« Er zoomte ins Bild auf einen u-förmigen Gebäudekomplex. »Da ist das Institut.«
Ich sah Max an, dann die Aufnahme. Im Südosten der Stadt begann eine grün bewaldete Hügelkette. Eingebettet darin eine Art Halbkreis. »Was ist das dort?«
Max tippte darauf. Waldtheater Thessaloniki stand auf dem erscheinenden Marker. »Sieht aus wie ein Amphitheater …« Ein Amphitheater … ich konzentrierte mich auf den links des Theaters liegenden Komplex.
»Was hat dieses Institut denn so gemacht? Lässt sich das aus den vorhandenen Daten noch ersehen?«
Max nickte. »Laut unserer Datenbank wurden dort Meerespflanzen auf ihre Fähigkeit hin untersucht, in hydroponischen Anlagen wachsen zu können. Zudem gibt es Informationen über die Nährstoffzusammensetzung verschiedener Algen- und Seetang-Arten …« Er wischte durch die Infos. »… und hier: Lichtabhängigkeiten, Lichttemperaturen … es gab sogar Versuchsanlagen in der Bucht und auch auf den Inseln Naxos und Paros … und im Pagasitischen Golf.«
»Aha … hydroponische Anlagen also … Algen, Seetang …«
Max ließ die Karte verschwinden. »Was denkst du, Chatrina?«
Ich lächelte ihn an. »Ich denke, dass ich mir jetzt einen Tee hole. Du auch einen?«
»Gerne …«
»Finde heraus, ob Patronas mit diesem Institut zusammenhängt. Irgendwelche Urahnen. Von irgendwoher muss diese Karte ja kommen.« Ich stand auf. »Bin gleich wieder da …«

Die Insel schwankte leicht, als bewegte ein Riese sie auf einer Eisfläche hin und her. Ich hielt mich am Teeautomaten fest. Die Menschen um mich herum nahmen davon wenig Notiz. Das Meer westlich von Spitzbergen war nicht so tief, was die Auswirkungen der Extremzelle verstärkte. Ein Pfeifton kam aus den Lautsprechern. Die Inselleitung teilte mit, dass man auf dreihundert Meter Tauchtiefe ginge. Das Grenzmaß. Ich versuchte nicht daran zu denken und entnahm dem Ausgabeschacht zwei Becher Algentee. Das Pad summte. Mit den Bechern in der Hand setzte ich mich an einen freien Tisch und aktivierte das Display. Jonna mit einem finsteren Gesicht.
»Was …«
»Wir haben etwas vergessen«, würgte sie mich ab. Ich antwortete nicht, wartete lieber ab, was da nun käme. Verwundert stellte ich fest, dass ich bisher nur einen Bruchteil von Jonnas möglicher Mimik kennengelernt hatte. Fast zehn Jahre waren wir nun ein Team. Sie als Chefin der Polizei und ich als Leiterin der Einheit zwölf. »Chatrina … «, begann sie mit schwacher Stimme, »wir haben im Laufe der letzten einhundert Jahre die meisten atomaren Sprengköpfe unbrauchbar gemacht …«
»Korrekt.«
Sie nickte. »Du selbst warst in Kansas und Montana und hast Demontageaktionen durchgeführt, aber …«, sie zog das Pad näher an ihr Gesicht. »Irgendwann wurden wir nachlässig und nahmen an, es wäre genug, würde ausreichen, und dass sowieso niemand dazu fähig sei, diese Dinger ausfindig zu machen und zu nutzen. Nicht wahr?«
Keine Frage an mich. Ich musste nur nicken. »Gibt es denn Hinweise auf irgendwelche Aktivitäten bezüglich der nicht demontierten Reste?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wie auch? Wir haben noch nicht mal eine turnusmäßige Beobachtungsroutine eingerichtet.« Ihre Lippen presste sie zu einem Strich. »Wir wissen nichts, Chatrina. Das macht mich ganz krank«, gestand sie ein. »Unsere Arroganz kann uns teuer zu stehen kommen …«, setzte sie nach. Dann holte sie tief Luft. »Die ersten Polizeieinheiten treffen morgen früh in Longyearbyen ein. Voraussichtlich wütet die Extremzelle noch einen Tag. Danach fährst du mit Takuno und deinem Team rüber. Zusätzlich zu den dir schon unterstehenden Einheiten, werde ich noch weitere hinzuziehen, denn wir müssen uns um die verbliebenen Standorte der Nuklear-Sprengköpfe kümmern, bevor andere das tun.«
»Selbstverständlich.«
Sie griff zum Pad.
»Warte noch, Jonna. Tu mir einen Gefallen …«
»Ich höre?«
»Wir haben in Patronas‘ Koffer die Ansichtskarte eines marinen Instituts gefunden und es in Thessaloniki verortet. Dort wurden Versuche mit hydroponischen Anlagen, Algen- und Seetangzucht durchgeführt. Der Stempel ist aus dem Jahr 2006.«
»Interessant, aber … 2006? Irgendwelche Urahnen?«
»Nehmen wir an, es gäbe eine Sezession. Von was leben die Abtrünnigen? Eventuell hat dieses Institut einen speziellen Weg der Ernährung gefunden, von dem wir nichts wissen. Wenn Bewohner von Gruppe 25 darin verstrickt sind, lassen sich möglicherweise Indizien für eine solche Ernährungsweise finden.«
Jonna rollte die Augen. »Chatrina, diese Möglichkeiten finden sich bei all unseren Bewohnern mehr oder weniger. Jede Inselgruppe ist in weiten Teilen autark und versorgt sich so gut es geht selbst über hydroponische Anlagen …«
»Ja«, gab ich ihr recht, »aber die Mehrzahl unserer Einwohner lebt noch und liegt nicht 5.000 Meter unter dem Meeresspiegel.« Sie schwieg. Ich ließ die Worte wirken und hob das Pad dicht vor mein Gesicht. »Wenn es einen gemeinsamen Nenner gibt, dann finden wir ihn möglicherweise unter den Überlebenden. Demzufolge wäre es sinnvoll, zuerst diese Lebensdaten unter die Lupe zu nehmen …«, ich machte eine bewusste Pause. »Inklusive der Überwachung ihrer Kommunikation.«
Jonna sah mich mit großen Augen an. »Chatrina …«
»Diese Menschen werden sowieso standardmäßig verhört, nicht wahr? Sie beklagen menschliche Verluste. Sie haben Angst. Und wenn die eine oder der andere einem Sezessionstraum anhängt, motiviert das die Angst, denn irgendjemand hat sie für irgendetwas über die Klinge springen lassen. Ich schätze, sie hängen in der Luft. Machen wir uns das zunutze, Jonna. Ein Angebot. Ein Verrat wird gerne verraten.«
Es blieb still. Nur die leisen Stimmen der Menschen um mich herum. Kantinengeräusche. Murmeln, ein Lachen. Jonnas Gesicht zeigte keine Regung. Dann presste sie die Lippen zusammen. »Ich glaube, du machst mir ein wenig Angst, Chatrina«, gestand sie. »Aber ich bin einverstanden. Was haben wir sonst für Möglichkeiten?«
Ich fasste dies als Frage an mich auf. »Keine, Jonna.«
Sie nickte und schaltete ab.


Ich blickte mich um. Der Arbeitsraum der Polizeieinheiten auf Gruppe eins war außergewöhnlich groß. Alle in meinem Team saßen gebeugt über Pads oder größeren Tablets, wischten sich durch Daten, Grafiken. Ich ging zu Max an den Tisch.
»Tut mir leid, Max. Ich wurde aufgehalten. Der Tee ist inzwischen kalt.«
Er zuckte mit den Schultern, nahm den Becher und trank einen großen Schluck. »Danke. So mag ich ihn am liebsten, wenn ich ehrlich bin«, gestand er und stellte ihn auf die Seite. Auf dem Tisch lag die Ansichtskarte. Mit den Fingern schob ich sie hin und her, tippte auf die schon ausgeblichene Stelle mit dem Gebäude.
»Der übersetzte Text gibt nicht viel her«, erklärte er. »Eine Ioanna hat einem Alexis geschrieben, dass sie dort nun ein Praktikum mache und sich auf die nächsten acht Wochen freue. Er solle sie mal in Thessaloniki besuchen, falls er mal Zeit habe. Im Übrigen sei das Grünzeug – so drückte sie es aus – aus ihrer Sicht die Zukunft der Ernährung. Liebe Grüße und einen dicken Kuss, Ioanna.«
»Die Zukunft der Ernährung«, wiederholte ich erstaunt. »Offensichtlich eine kluge Frau, diese Ioanna …«
»Leider taucht der Vorname zu dieser Zeit in keiner Verwandtenliste von Patronas auf. Es gab zwei Ioannas, aber lange vorher.«
»Das wäre ja auch zu einfach gewesen. Nicht wahr, Max?« Er schnitt eine Grimasse, einem Grinsen ähnlich und leerte den Becher.
»Darf ich dich was fragen, Chatrina?«
»Nur zu.«
»Werden wir Abiola bald ersetzen?« Ich erschrak. Abiola! Mein Puls beschleunigte. Ein Klopfen im Hals. Mit Macht drängte das Bild ihres Oberkörpers vor mein inneres Auge. Bevor ich mich wegdrehen konnte, kämpfte ich gegen aufkommende Tränen an. »Chatrina …«
Ich winkte ab, stand auf und ging um den Tisch herum. Einige Runden. Max schwieg mit gesenktem Kopf, schaute sich offenbar Daten an, aber es war wohl nur vorgetäuschtes Tun. Tief durchatmen, Chatrina. Er konnte nichts dafür. Was zwischen Abiola und mir für eine kurze Zeit entstanden war, wusste keiner im Team. Vor einem Jahr endete diese Liaison und ich versuchte lange diese Gefühle auf Seite zu drücken. Mit dem Ärmel wischte ich die Tränen ab und setzte mich wieder neben Max. »Ich hätte ihr gerne noch etwas gesagt«, erklärte ich spontan.
»Hätten wir alle gern«, bestätigte Max. In die entstehende Stille hinein kroch Kazumis Stimme an mein Ohr. Mir war nicht bewusst, dass sie sich genähert hatte.
»… bin das mehrmals durchgegangen. Und ich brauche deinen Rat.«
»Was? Entschuldigung, Kazumi. Ich war in Gedanken.« Sie legte die Hand auf meine Schulter, fuhr ein paar Mal darüber, setzte sich dann neben mich und legte ihr Tablet auf den Tisch.
»Schon gut, Chatrina. Ich weiß, dass dich Abiolas Tod mehr als beschäftigt.« Ich war überrascht. Maximilians Augen wurden groß. »Schau hier«, sagte sie schnell und warf das Bild auf dem Tablet an die Wand. »Abiolas Daten aus der Vernehmung Eldrens. Es geht um die Familien innerhalb einer Inselgruppe. Hier«, eine Grafik der Bevölkerungsplaner erschien. »Mehr oder weniger gleichmäßige Verteilung von Familienverbänden innerhalb der Inselgruppe. Entsprechend der Regularien. Kommt von außerhalb jemand dazu, bildet sich daraus im Schnitt von fünf Jahren eine neue Familie und ersetzt verstorbene Personen. Mitglieder dieser Familie bleiben in der Gruppe oder kehren nach Ausbildung zurück …«
»Also alles bestens«, warf ich ein. Kazumi nickte.
»Ja. Aber jetzt betrachten wir das, was Abiola entdeckte …« Kazumi wechselte zur nächsten Grafik. Verteilung der Familien in Gruppe 25. »Nur drei Familien hatten je eine bzw. einen Verwandten auf Insel 64. Und …«, sie wischte drei Anträge an die Wand. »… diese Familien haben Antrag gestellt, nach 64 zu wechseln.«
Ich starrte auf die Anträge. Das Datum … »Alle im selben Zeitraum verfasst.«
»Ja«, bestätigte Kazumi.
»Was hatten die Antragsteller für Spezialgebiete?«
»Marine Botanik, Hydroponik, Ingenieur im Energieanlagenbau und eine Psychologin.«
»Hm … Verlegungen innerhalb einer Gruppe sind gruppeninterne Politik. Die Daten werden gemeldet, aber nicht kontrolliert. So etwas fällt erst mal nicht auf, solange die Bevölkerung insgesamt Minimum oder Maximum nicht unter- oder überschreiten …«
»Ganz genau«, unterbrach mich Kazumi. Ich horchte auf. In ihrer Stimme war eine deutlich vernehmbare Erregung.
»Noch was, Kazumi?«
»Ich glaube, mehr als das. Hier …« Eine Geburtsurkunde blendete ein, dann eine Sterbeurkunde daneben.
»Lea Eldren? Ich erinnere mich. In Eldrens Vernehmung haben wir seine Schwester kurz angesprochen. Was ist mir ihr?« Kazumi atmete tief ein und aus. Als hätte sie Angst vor ihrer eigenen Courage.
»Du weißt, dass von allen Neugeborenen DNA registriert wird, automatisch übermittelt an die zentrale Datenbank …« Ich legte den Kopf schräg und lächelte Kazumi milde an. »Ja, natürlich weißt du das. Okay, also Lea Eldren war kein Kind der Eldrens. Es war irgendjemand, aber nicht Lea Eldren. Inkompatible DNA.« Kazumi schwieg. Sie war kreidebleich. Ich starrte durch sie hindurch und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen; angesichts dessen, was da auf uns zukam, war das gar nicht so einfach.
»Das heißt ja, dass …«, hörte ich Max, »… das … ja, was heißt denn das?«
»Das heißt, dass es Lea Eldren nie gab und irgendwelche DNA-Daten eingespeist wurden«, erklärte Kazumi. »Oder dass Lea Eldren existierte, sie aber von vornherein nirgendwo auftauchen sollte und man deswegen falsche DNA-Daten übermittelte. Nach der Geburt lässt man sie dann sterben. Damit wäre sie eine unsichtbar Existierende. Kazumi hatte recht. Da gab es aber noch eine andere Möglichkeit.
»Oder aber«, warf ich ein, »bei Eldrens Mutter wurde eine In-Vitro-Befruchtung durchgeführt. Ein bewusstes Kind mit einer bewussten Verschleierung eines solchen Kindes.«
»Mann!«, rief Max. »Ich habe Hunger. Will jemand was?«
Wir starrten ihn entgeistert an. »Warum nicht?«, meinte Kazumi. »In der Kantine gibt es Algen-Sushi. Schmeckt wirklich gut. Du auch, Chatrina?« Ich nickte, obwohl ich einen Atemzug später gar nicht genau sagen konnte, was ich da abgenickt hatte. Fasziniert betrachtete ich die Urkunden an der Wand. Auf was waren wir da gestoßen?

Traumsequenz, Chatrina Sutter

Blaue Leuchtzeichen über der Tür. Dienstag, 13. Februar 2148. Fünf Uhr zweiunddreißig. Mit den Füßen strampelte ich die Decke weg. Es war warm. Viel zu warm. Alles klebte. Schwerfällig drückte ich den Oberkörper hoch, schwenkte die Beine von der Matratze, spürte den kühlen Stahl unter den Füßen und fühlte mich nicht, als wäre ich schon um neun Uhr am Vortag ins Bett gegangen. Dieser verdammte Traum brachte mich um jede Erholung. Fast jede Nacht war eine Tortur. Und mittlerweile wuchs sich die Angst vor dem Schlaf zu einem Monster aus, das ich nicht mehr zu bekämpfen in der Lage war. Wie sollte ich noch klar denken? Besonders jetzt war das mehr als nötig. Das Display des Pads wurde hell. Um diese Uhrzeit? Nicht schon wieder eine Hiobsbotschaft. Ächzend beugte ich mich vor, hob es vom Boden auf, aktivierte es, sagte aber nichts. Mein sicherlich ruinierter Gesichtsausdruck musste als Begrüßung genügen. Jonna blickte mich mit erstauntem Gesicht an. Ihr offener Mund war Beweis genug für mein Aussehen.
»Ich weiß. Beschissene Nacht«, begrüßte ich sie. Ihr Mund schloss sich zu einem Lächeln. »Warum bist du schon wach, Jonna? Schläfst du ebenfalls nicht mehr richtig?«
»Nein. Nach einem Bericht wie deiner es ist, schläft man überhaupt nicht mehr. Ich habe die ganze Nacht alles doppelt und dreifach verifiziert. Es ist, wie es ist. Deprimierend.« Sie schwieg. Ich gähnte laut und drehte den Kopf auf Seite.
»Tschuldigung.«
»Schon gut, Chatrina.«
Als ich wieder hinsah, kaute sie an den Fingernägeln. Eine Premiere. »Seit wann kaust du Fingernägel?« Sie stutzte, betrachtete die Hände von allen Seiten.
»Mit zwölf Jahren habe ich aufgehört. Aber offenbar nimmt mich alles zu sehr mit. Ich bin nervös, Chatrina. Und … «
Ich stand auf, schaltete das Licht an. »Rede ruhig weiter«, sagte ich und ging ins Bad. »Ich hör dir zu.«
»… und die Daten-Forensiker haben die ganze Nacht damit verbracht, eine Analyse der DNA-Bestände laufen zu lassen …«
»Und?«
»Nimm eine Dusche und komm hoch zu mir.« Ich hielt das Pad hoch und blinzelte ins Licht. Jonna beugte sich vor. »Sag mal, Chatrina, ich finde, du siehst richtig gut aus. Beneidenswert. Ein paar Narben zu viel.«
»Du solltest mich mal nach der Dusche sehen …« Sie grinste und schaltete ab. Aus dem Spiegel blickten mich die verquollenen Augen einer fremden Person an. Das war nicht ich. Takunos Schachtel entnahm ich eine Tablette und legte sie auf die Zunge. Mein Leben funktionierte nur mit diesen Dingern. Ich wählte die Temperatur des Duschwassers. Fünfzehn Grad waren genug. In Erwartung des Schocks stieg ich in die Kabine und aktivierte die Pumpe.

Die Zentrale von Insel eins war rund um die Uhr betriebsam. Mühsam schlängelte ich mich zwischen den Menschen hindurch, kaum beachtet; vielleicht ein Blick, ein Nicken vor hellen Monitoren und Hologrammen. Wetterdaten und Statistiken. Hier war ich nur ein Rädchen unter vielen. Der Durchgang zu Segment C stand offen. Entgegen den Regeln. Das Tauchprotokoll erlaubte ausschließlich verschlossene Schotts. Ich ging hindurch und ließ die Betriebsamkeit hinter mir. Segment C war der Administration der Polizeieinheiten zugeteilt. Jonnas Raum folgte unmittelbar auf das Schott. Bevor ich klopfen konnte, öffnete sie lächelnd.
»Kameras?«
»Ja, seit einem halben Jahr haben wir überall Kameras installiert. Komm rein.«
Auf ihrem Besprechungstisch neben der Tür stand Sushi. »Echter Reis. Das ist mal was«, staunte ich.
»Reis aus den hydroponischen Anlagen von Gruppe zwei. Greif zu, Chatrina. Lass es dir schmecken.«
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Jonna setzte sich auf die gepolsterte Eckbank, ein Tablet vor sich. Mit zwei Fingern griff ich nach einem Stück Sushi, tunkte es in eine grüne Sauce und steckte alles vorsichtig in den Mund. Dabei begegnete ich Jonnas erheitertem Blick. Ich kaute zügig. »Schmeckt fantastisch. Wo hast du die Sauce her?«
»Unser Koch ist ein Meister.«
Ich griff ein zweites Stück, wartete aber noch, denn es war deutlich zu sehen, dass unser Thema Jonna auf der Zunge brannte. »Jonna, du möchtest mir sagen, dass das, was bei Lea Eldren passiert ist, kein Einzelfall ist, oder?«
Ich aß die Reisrolle und beobachtete ihr Gesicht. Sie wurde aschfahl.
»Woher …«
»Geraten, Jonna. Aber sind wir ehrlich: es passt in das entstehende Bild, oder? Ich meine, die Übermittlung von DNA-Daten einer Geburt läuft automatisiert. Baby kommt auf die Welt, alles wird erfasst in einer Datenbank der Inselgruppe, die Übermittlung nach hier geschieht ohne menschliches Dazutun. In diese Prozedur eingreifen kann nur, wer was davon versteht. Es lohnt sich nicht, für ein einzelnes Kind einen solchen Aufwand zu inszenieren. Also muss es ein System dahinter geben.« Ich kaute fertig und langte erneut zu. »Die schmecken verdammt gut. Kompliment.«
»Es sind fast fünfhundert Kinder, Chatrina!« Ich starrte sie an. Die Reisrolle landete wieder auf dem Teller.
»Fünfhundert?! Das glaube ich nicht!«
»482 Kinder von 448 Inselgruppen.«
»Alle drei Konglomerate?«
»Hauptsächlich Pazifik und Indischer Ozean, nur ein paar aus dem Atlantik.«
Ich lehnte mich zurück. Wir schwiegen. Der Hunger hatte sich verflüchtigt. Plötzlich musste ich an meinen Traum von heute Nacht denken. Das Messer in meiner Niere und Abiolas Warnung. Jonnas Augen waren geschlossen. Es war fast unheimlich still. Der Stahl um uns ächzte nur noch selten und das Schwanken war kaum spürbar. Die Extremzelle befand sich in Auflösung.


Kurz vor zehn Uhr tauchte Inselgruppe eins auf. Die See war noch unruhig, aber es bestand keine Gefahr mehr.
»Ihr Boot ist auf dem Weg zurück. In einer halben Stunde dockt es an«, teilte Jonna mit. Takuno bewegte nur ein wenig den Kopf, hob aber die Hand und bestätigte, dass er verstanden hatte. Semjonowa lehnte entspannt an der Wand. Sie deutete auf die Grafik ihr gegenüber. Jonnas Whiteboard zeigte nicht nur die Anzahl der gefälschten Kinder-DNA, auch die Zeitspanne war abzulesen. Die Mehrzahl der Fälle ereignete sich zwischen 2115 und 2124.
»Ist dieses Ausmaß an Vorfällen und Konsequenzen eine Überraschung für uns?«, stellte sie ihre Frage in die Runde. Vielleicht aber mehr zu sich selbst, so mein Eindruck. Denn wenn ich mich recht erinnerte, war sie seit zwei Perioden Administratorin, erste Obfrau, also sechzehn Jahre, und zuvor für zehn Jahre Leiterin der Polizeieinheiten. Zwei Jahre dieser Fälschungsperiode fielen also in ihre Amtszeit.
»Für mich ist dieses Ausmaß vollkommen überraschend«, erklärte Jonna, »und zudem schockierend … nein, vielleicht nicht schockierend«, sie blickte hilfesuchend zu mir. »Vielleicht eher unlogisch. Ich kann das nicht nachvollziehen.«
»Unlogisch, weil wir die Umstände nicht kennen«, gab Takuno zu bedenken. Ich lächelte in mich hinein. Kenzaburo, kühl und überlegt. Immer ein Auge auf das Rationale.
»Takuno hat recht«, sagte ich. »Gehen wir mal davon aus, dass es genug Zeugen gibt für schwangere Frauen in dieser Zeit und es diese 482 Föten wirklich gab. Dann existierten rein rechnerisch 964 Elternteile. Die in den Sterbedaten angeführten Todesursachen sind nicht auffällig identisch oder heben sich etwa besonders hervor, was man natürlich fälschen kann. Demzufolge wären weitaus mehr Menschen involviert. Dazu kommt: Kinder müssen ja irgendwie und irgendwo von jemandem großgezogen werden. Es muss also bereits eine Art Auffangstation gegeben haben …«
»Warum gehen wir davon aus, dass die Eltern wussten, was geschieht?«, warf Takuno ein. »Mit einem entsprechenden Mittel kann man Menschen so aussehen lassen, als wären sie tot. Die Eltern trauern. Dann schafft man die angeblichen Leichen weg«, erklärte er. »Zudem passierte all das über einen längeren Zeitraum und auf vielen Inseln. Fällt also nicht auf.« Wir sahen ihn an. Er trank einen Schluck Algentee, verbrühte sich die Unterlippe und murmelte etwas Japanisches. »Entschuldigung«, setzte er nach. »Aber genau so würde ich es machen. Alles andere erhöht die Gefahr, dass jemand aus diesem Plan ausbricht und davon berichtet. Je weniger etwas wissen, desto besser. Oder?«
Semjonowa stieß sich von der Wand ab. »Ich muss in den Gruppenrat. Wir beschließen die Ausweitung der Polizeiprotokolle, setzen den Verteidigungsausschuss ein und reaktivieren Defensivtechniken zur Verteidigung von Gruppen und Booten. Pläne haben wir ja mehr als genug …« Sie sah uns einzeln an. »Von den Kindern berichten wir zunächst nichts. Ich verdonnere die Forensiker zum Schweigen. Wer redet, wird aufs Festland verbannt. Sezession, Abtrünnige, das sind unsere Schlagworte.« Dann verließ sie Jonnas Arbeitsraum und Takuno hob die Hand.
»Sie müssen sich nicht melden, wenn es etwas zu sagen gibt …«
»Ja, ich weiß, Obfrau Andersen. Das hab ich nur gemacht, um meinen Gedanken nicht zu verlieren.«
Sie sah ihn überrascht an. »Nur zu.«
»Als Semjonowa sagte „… wird aufs Festland verbannt“, dachte ich, was eigentlich mit denen passiert, die aufs Festland verbannt werden? Was tun sie dort mit ihrem Wissen und ihrer … Wut?«
»Was soll mit denen passieren?«, wunderte sich Jonna. »Was immer mit ihnen passiert. Über kurz oder lang werden sie sich anstecken, sterben oder mindestens dahinsiechen. Es gibt keine Impfung gegen SARS-Covid4 oder die Variante 38 des Nipah-Virus.«
»Vielleicht«, erwiderte Takuno. »Vielleicht gelang es aber auch einigen zu überleben. Rache ist ein starker Antrieb.« Jonna rieb sich die Augen und hielt den Kopf dann so, als würde sie nach etwas lauschen, einem seltenen, entfernten Geräusch und nur noch ihre körperliche Hülle im Raum. Ich schnippte mit den Fingern vor Jonnas Nase. Keine Reaktion.
»Jonna? Alles in Ordnung?«
Langsam kehrte sie zu uns zurück, zog das Pad aus der Tasche und aktivierte es. »Ich will alle Daten der Verbannten über den Zeitraum von einhundert Jahren«, sprach sie hinein und legte es auf den Tisch. »Morgen beginnen die Vernehmungen auf Spitzbergen«, fuhr sie zu uns gewandt fort. »Dann sind alle Polizeieinheiten vor Ort. Arbeitet ein Frageprotokoll aus. Wir brauchen ein paar Lockangebote für potenzielle Verräter oder Verräterinnen. Wir zeichnen jede einzelne Vernehmung auf und lassen sie durch die Filter laufen.«


Die Extremzelle hatte den Himmel leergefegt. In ihrem Schatten fanden sich nur wenige kleine Wolken. Im Süden ein fingerbreiter heller Streifen direkt über dem Horizont. Der Norden lag unter der dunklen Glocke der langen Winternacht. Takuno streckte die Füße aus und nippte am Tee.
»Ist dir nicht kalt, Kenzaburo?«
»Ein bisschen. Aber die Schönheit des Himmels wiegt das wieder auf, oder?«
»Ja, da hast du recht«, bestätigte ich ihm.
»Könntest du dir vorstellen, auf dem Festland zu wohnen?«
Er verneinte. »Das konnte ich mir noch nie vorstellen. Ich bin ein Seemann. Das war ich schon als Kind. Das Meer hat eine unbestimmbare Endlosigkeit, die mich magisch anzieht.«
»Durch und durch U-Boot-Fahrer, was?«
»Ich schätze, das Gefährt ist egal. Hauptsache auf dem Wasser.« Mein Tee war leer. Er sah mich an. Die Augen so völlig ohne erkennbare Regung. Dann schaltete sich die Außenbeleuchtung der Insel ab. Der Nachtmodus wurde aktiv. Nur noch Notbeleuchtung auf dem Oberdeck. Es dauerte, bis ich wieder Details an Takuno zu erkennen vermochte. »Meine Mutter hat das Leben auf der Insel verflucht. Das hatte sie sicher von meiner Großmutter, denn die hat als kleines Mädchen das Verlassen der japanischen Nordinsel Hokkaido noch erlebt. Ich habe sie nicht mehr kennengelernt, aber wenn ihre Erzählungen ebenso beeindruckend waren wie die meiner Mutter, muss es sehr schön gewesen sein.« Er schwieg und ich suchte den Himmel ab nach Hinweisen auf das morgige Wetter.
»Du weißt, dass die Menschen Vergangenes eher romantisieren, als das Reale zu beschreiben?«
Er ignorierte meinen Einwand, hob den Arm, streckte den Zeigefinger aus und deutete nach oben. »Sehr selten«, sagte er. Ich folgte der gezeigten Richtung. Nach und nach schälte sich ein Lichtpunkt aus dem Dunkel. »Der Polarstern. Wir Seefahrer folgen ihm schon seit vielen tausend Jahren.«
»Kennst du dich mit den Sternen aus?«
»Naja, auf der Karte ist es einfach. Aber durch die starke Bewölkung sehen wir ja nicht mehr sehr viele. Ihr schwaches Licht erreicht uns nicht mehr …« In seiner Stimme schwang etwas Trauriges mit.
»Höre ich da einen melancholischen Kenzaburo heraus?«
Er zögerte mit der Antwort. »Auf alten Fotos und in Erzählungen war der Himmel übersät mit Sternen und dem Band der Milchstraße. Das ist weg. Ich glaube, damit ist auch eine Sehnsucht in den Menschen gestorben.«
»Welche Sehnsucht?«
»Die Sehnsucht, Neues zu wagen. Eine starke Neugier auf all das Unbekannte zu fühlen.«
»Du meinst, wir existieren nur noch? Ohne diesen Motor?«
»Ja, das meine ich. Und …«
»Hast du diese Sehnsucht, Kenzaburo?« Ich sah ihn schemenhaft nicken.
»Ich habe sie. Ja. Da bin ich aber wohl der Einzige in meiner Mannschaft.«
Hatte ich diese Sehnsucht? Mir war nicht so ganz klar, was er damit meinte. Dann fiel mir sein ‚Und‘ ein. »Du wolltest noch etwas sagen. Entschuldigung, ich habe dich unterbrochen.«
»Ich wollte in den Raum stellen, ob es nicht möglich sei, dass die Abtrünnigen – oder wie immer wir sie bezeichnen – Menschen sind, die diese Sehnsucht intensiv verspüren und aus der bloßen Existenz ausbrechen wollen?«
Mich fröstelte. Takunos Worte klangen weise. Sie hörten sich an, als wären sie direkt vom Grund der Wahrheit heraufgestiegen. Dieses Gefühl hatte ich schon bei seiner Frage nach den Verbannten. Mich beschlich der Eindruck, dass Takuno diese besonderen Gedanken wie ein Reservoir in sich trug und aus ihm schöpfte, wie es die Lage erforderte. »Sag mal, Kenzaburo … ich würde genau jetzt gerne mit dir schlafen. Die Nacht über neben dir liegen. Zärtlich sein. Meinen Traum vergessen. Fändest du das abwegig?«
Er nahm meine Hand. »Nein. Gar nicht.«


Eine Sehnsucht in den Menschen ist gestorben … so erklärte Takuno etwas, das uns offenbar abhandengekommen war in den Jahrzehnten seit der Flucht der Menschen auf künstliche Inseln. Viren und zunehmende Wetterkatastrophen trieben uns auf die Ozeane, aus denen das Leben einst kam und die im Jahr 2148 bis auf wenige Bakterien und Einzeller tot waren. Irgendwann, während dieser chaotischen ersten Jahrzehnte, so Takuno, löste sich diese seltsame Sehnsucht nach dem Unbekannten in uns, die Neugier nach etwas Großem, in Luft auf. Geblieben war der reine Überlebenswille. Ihm wurde alles unterstellt. Das waren seine Worte, während er mit magischer Wirkung jeden Quadratzentimeter meiner Haut erkundete. Für mich gab es nur eine Sehnsucht in dieser Nacht. Die nach ihm und seiner unerschöpflichen Zartheit. Ich lernte in dieser Nacht die japanischen Begriffe für all das, was ich mit erfüllender körperlicher Liebe verband. Und diese Worte knisterten förmlich in meinen Gehörgängen. Elektrischen Schlägen gleich; zumindest wenn Kenzaburo sie flüsterte und ich in seine Stimme hinein heftigst einen Höhepunkt nach dem anderen erlebte, fast durchlitt. Schmerzhafte Befreiung, in einer Nacht ohne Träume. Als er aufstand, ich seinen ebenmäßigen Rücken sah, wollte ich ihn festhalten. Nach seiner Hand greifen. Mit ihm in einem auf festem Grund ruhenden Haus sein. Umgeben von den grauen Bergen der unweit vor uns liegenden Insel. Ich dachte plötzlich daran, eine feste Bindung einzugehen und erschrak darüber. Aus der Dusche kommend, zog er sich an, hielt einen Moment inne, den Blick auf meiner Nacktheit.
»Danke, Kenzaburo.«
»Für was?«
»Für eine Nacht ohne Träume. Ohne Tod.« Er bückte sich, kniete aufs Bett. Sein Gesicht hielt kurz vor meinem. Ich entdeckte eine Träne, küsste sie ihm von der Haut. »Salzig wie das Wasser der Meere. Mein Seemann.« Mit geschlossenen Lidern richtete er sich auf, zog die Schuhe an.
»Ich gehe eine halbe Stunde laufen auf dem Oberdeck«, sagte er leise und verließ mein Quartier. Die Anzeige über der Tür zeigte sechs Uhr und zwei Minuten, Mittwoch, 14. Februar 2148. Vom Boden nahm ich das Pad hoch und rief Jonna.
»Chatrina!«
»Guten Morgen. Wann ist der Transfer nach Longyearbyen?«
»Die See ist fast ruhig. Drei Tage stabiler Hochdruckeinfluss, mindestens. Die Überfahrt erfolgt per Tragflächenboot. Takunos U-Boot bleibt hier im Dock. Im Isfjord ist zu viel Verkehr momentan. Je weniger große Boote, desto unfallärmer das Ganze …« Sie drehte den Kopf zur Seite. »Abfahrt ist in einer Stunde um 0700.« Ein misstrauischer Blick folgte. »Du warst nicht alleine. Stimmt’s?«
»Sieht man das?«
Sie lachte. »In deinem Fall sieht man das schon.« Ich wusste nicht, dass ich so leicht durchschaubar war.
»Übrigens … was dein Institut in Thessaloniki betrifft … in den Unterlagen der marinen Biologie ist es geführt als eines der wenigen, das sich auf die Entwicklung von Algen, Tang und Seegras in reiner Unterwasserkultur oder unterirdischen Anlagen spezialisiert hat.«
Ich staunte. »Aha, also nichts mehr mit Sonnenlicht und Luft aus der Atmosphäre.«
»Nein. Aber dafür Experimente zur genetischen Anpassung an ein stark saures Milieu«, erläuterte sie.
»Das dem heutigen pH-Wert entspricht?«
»Das kommt hin, Chatrina.« Jonna zog beide Augenbrauen nach oben. Aus einem schwammigen Indiz formte sich langsam eine brauchbare Spur.
»Und was ist aus dem Institut geworden?«
»Tja«, seufzte Jonna, »wurde im Zuge der Räumung von Thessaloniki zerstört. Es ist dokumentiert, dass die neu gegründeten Polizeieinheiten Wissenschaftler und Gerät nach Gibraltar brachten. Darunter auch eine Ioanna. Dann gibt es keine Informatioen mehr.« Sie starrte mich an. Mir war nicht bewusst, dass ich nackt im Erfassungsbereich der Kamera saß, bis ich ihr süffisantes Lächeln bemerkte, aber ignorierte, denn aus dem Wust an Informationen und Erinnerungsfetzen, den Erlebnissen der letzten Tage, schälte sich ein Gedanke an die Oberfläche. »So viel ich weiß, wurde alles dokumentiert. Und diese Daten sind weg?«
»So sieht es aus.«
»Da hat jemand einen großen Plan«, dachte ich laut. Jonnas Zeigefinger wanderte unter ihr rechtes Auge. Sie zog die Haut nach unten und zeigte dann auf mich.
»Du denkst, was ich denke«, sagte sie langsam und bestimmt.
»Bedeutet aber auch, dass die ganze Sache von langer Hand geplant wurde. Unter unseren Augen. Und wir haben geschlafen.«
Jonna griff nach etwas und hob es in die Kamera. Ein kleines Gemälde. Alt und fast verblichen. Es zeigte eine enorm große Krake, die ein Segelschiff zu sich hinab ins kalte Meer zog. »Das war die Angst eines jeden Seemannes viele hundert Jahre lang«, erklärte sie. »Die Krake. Sie ist mitten unter uns. Ersetze das Schiff durch eine Insel. Durch uns.« Ich nickte und strich gedankenverloren über meinen Busen. Kenzaburos magische Finger fielen mir ein.
»Ich würde mich durchaus dazu durchringen, dich mal in den Schlaf zu streicheln, Chatrina. Sag Bescheid, wenn dir danach ist …«
Ich formte die Lippen zu einem Kussmund. »Das werde ich. Aber erst die Vernehmungen organisieren. Ich setze sieben Tage dafür an mit zweiundzwanzig Einheiten. Als Sammelpunkt für alle Informationen schlage ich Anouk vor. Klarer als sein Kopf arbeitet keiner. Transferier bitte alle Infos über das Institut an mein Pad.«
»Schon geschehen und einverstanden, was Anouk angeht. Wann begibst du dich auf die Jagd?«
»Ich vertraue Anouk voll und ganz. Also einen Tag später.«
»Welche Einheiten gehen mit dir?«
»105 und 301. Lehtonen und Khatri. Beide überlegt genug und zielstrebig …«
»… aber auch sehr, hm, individuell? Nicht immer auf Linie«, wendete Jonna ein. Was meinte sie mit Linie? Ich wusste nicht, dass es eine gab.
»Wir gehen auf die Jagd, Jonna. Vieles wird außerhalb einer Linie liegen.« Ein unmerkliches Nicken. Die rote Mähne wippte. Dann schaltete sie ab. Ich duschte und wartete auf Takuno.


Den Nachnamen desjenigen, der uns mit dem Tragflügelboot abholte, konnte ich mir nicht merken. Laut der Unterstellungsliste auf meinem Pad, gehörte er nun zu den mir zugeteilten Mannschaften. Transporteinheit 41, zehn Copter und zehn dieser sehr schnellen, bewaffneten Tragflügelboote. Sein Vorname war Hans. Alter deutscher Vorname, wie er mir knapp erklärte. Hans hatte die Steuerung im Griff. Geschickt wich er zu hoher Dünung aus, fuhr mit maximaler Geschwindigkeit, steuerte so elegant, als wäre er mit dem Boot und der See verwachsen. »Alle Achtung«, sagte Takuno bewundernd in die Gischt hinein. »Den muss ich mir merken.«
Spitzbergen war schon in Sichtweite. Ich grinste und versuchte im Auf und Ab das näher kommende Prinz-Karl-Vorland einigermaßen im Blick zu halten. Im dahinter liegenden Vorland-Sund lag die zentrale U-Boot-Basis des Atlantik-Konglomerats. Takunos Heimathafen. Warum eigentlich der Atlantik?, ging mir durch den Kopf. Takunos Vorfahren waren Japaner. Der Pazifik wäre doch naheliegender? Ich beschloss, ihn bei Gelegenheit danach zu fragen.
Die Hügel der Hauptinsel kamen schnell näher, bauten sich vor uns auf wie mächtige Barrieren. Schnee- und eisfrei, trotz des Februars. Ich erinnerte mich an Winter mit ein wenig Schnee. Allerdings waren sie schon damals selten. Jetzt kannte man sie kaum noch.
Wir fuhren um die Südspitze des Vorlandes herum, der Isfjord kam in Sicht. Takuno hob den Arm, zeigte auf etwas. Zwei dunkle Gebilde in der Ferne, deren Farbe man kaum vom Graublau des Wassers unterscheiden konnte; massive Stahlgebilde, die immer wieder vom nächsten Wellenkamm verdeckt wurden.
»Neue Inseln!«, rief er in den Wind. Offenbar waren seine Augen um einiges besser als meine. Aber mit jeder Minute wurden die Stahlungetüme größer, beeindruckender. »267 und 492!«, hörte ich ihn schreien. Er hob die Hand gegen den Tropfenregen der über die Bordwand stob, wenn die Flügel des Bootes sich kurz aus dem Wasser hoben und wieder eintauchten. Seine Augen glänzten. Ich beugte mich zu ihm und küsste seinen Mund. Dann konzentrierte ich meinen Blick auf die Inseln. 267 gehörte zu Gruppe 13 vor der neufundländischen Küste und 492 machte sich auf den Weg zu Gruppe 22 Richtung Sankt Helena. Das Recycling der Inseln war seit Jahrzehnten ausgereift. Aus alt wurde neu. Lediglich zehn Prozent zusätzlicher Stahl musste von den Ressourcenteams besorgt werden. Wir querten den Fjord zur südlichen Seite, zwischen den Stahlinseln hindurch, am Seitenfjord von Barentsburg vorbei, die Lichtbogenöfen in der Bucht von Grumant tauchten auf und Takunos Finger tasteten nach meiner Hand zwischen unseren dicht zusammengedrängten Körpern, den Wind im Gesicht. Schnell ergriff ich sie, drückte fest zu und ahnte in mir so etwas wie ein Glücksgefühl. Etwas tief Vertrautes, von dem ich annahm, es nie zu spüren. Ich war froh über den schneidenden Wind, der mir Tränen in die Augen trieb. So konnte ich weinen ohne mich zu schämen. Takuno drehte meinen Kopf zu sich. Ich tat etwas, das ich noch nie in 38 Jahren getan hatte. In aller Offenheit einen Menschen an mich heranzuziehen und nichts anderes zu tun, als ihn zu küssen. Egal, ob es jemand sah oder nicht. Mit klopfendem Herzen trat ich bewusst aus dunkler Nacht hinaus ins Licht. Kenzaburo öffnete meine Welt; und ich wusste nicht wie oder was mit mir geschah.

Wir verloren Geschwindigkeit. Der Bootskörper sank auf die Wasseroberfläche und drehte nach rechts auf die Bucht von Longyearbyen ein. Neben uns tauchte der alte Flughafen auf, der Eingangsbereich des Saatgutbunkers, Hafenanlagen, Trockendocks, zwei große U-Boote an einem der langen Piers.
»Das ist dein Zuhause«, sagte Takuno mit einem leicht feierlichen Ton.
Ich zuckte mit den Schultern. »Das war es mal, ja. Der feste Fels unter meinen Füßen, aber nicht das Haus in dem ich wohnte.«
»Dein Vater …«
»Ich bin adoptiert.« Keine Regung in seinen dunklen Augen, kein Zucken eines Muskels im Gesicht. Er sah mich einfach an. Durchdringend, aber schweigend. Dann zog er mich an sich, drückte fest zu. Wir schwiegen. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich ihn liebte.

Den Schritt vom Steg auf den Beton des Piers tat ich nicht einfach so. Es müsste etwas mit mir geschehen, vermutete ich. Aber es geschah nichts. Vier Jahre war ich nicht mehr hier gewesen. Reto und Kano gingen an mir vorbei. Bepackt mit einer Menge Ausrüstung.
»Willkommen daheim, Chatrina«, raunte Reto mir zu. Ich sah ihn an und nickte.
»Ja, danke. Willkommen auf Spitzbergen, Reto.« Eine Transportraupe der Polizeieinheiten wartete uns gegenüber. »Das ist unsere!«, rief ich Kano hinterher. »Packt alles da rein. Sie bringt uns aufs Plateau!«
Er hob die Hand zur Bestätigung und ich drehte mich zum Fjord. Die salzige Luft kitzelte eine Menge Bilder aus meiner Erinnerung. Vor allem an den Tag meiner ersten Abreise. Vergebens hielt ich nach Vater Ausschau. Nach dem Mann, der mich adoptierte, ein Mädchen gegen Medizin eintauschte. Raus aus dem Loch. Weg von Menschen, die sich nicht um mich scherten; es sei denn, sie wollten ihre Triebe abreagieren. Dort war ich Abfall. Kazumi und Bijan zogen an mir vorbei, lächelten, aber sie kannten meinen Blick, der durch alles hindurch ging. Bis hinüber zu den großen Werftdocks im Nordfjord, wo die Inseln gebaut wurden. Ich zählte drei Stück und im Sassenfjord waren es ebenso viele. Dann entdeckte ich kleine Boote, die lange Ketten mit Schwimmern zu Wasser ließen. Vor den Fjorden und zur Longyearbyen-Bucht. Das war mir neu. Ich holte die Optik aus dem Rucksack zu meinen Füßen und visierte die Boote an. Eine Hand legte sich auf meine Schulter.
»Dir entgeht nichts, oder?« Kenzaburos Stimme.
»Was machen die Boote dort?«
»Torpedonetze. Die lagerten in den marinen Werften im Sund, seit vielen Jahrzehnten. Das wird jetzt unsere erste Maßnahme gegen die unbekannten Torpedos«, erklärte er. »Ich hoffe, sie halten das aus«, setzte er leiser nach.
»Halten das aus? Sind sie nicht dafür gemacht worden?«
»Diese Torpedos sind schnell und haben eine hohe kinetische Energie. Wenn die Kegelspitzen der Torpedos scharfkantig sind, war es das mit den Netzen …« Ich erinnerte mich an Satos Warnung. Die Beschreibung der Torpedos …
»Was sind kavitative Torpedos? So funktionieren unsere nicht, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Torpedos mit kavitativem Antrieb erzeugen um sich eine Luftblase. In dieser Luftblase bewegen sie sich ohne Reibung vorwärts. Dadurch erreichen sie Geschwindigkeiten um die 500 Kilometer pro Stunde …«
»Fünfhundert Stundenkilometer?!«
»Ich habe Satos Berechnungen geprüft. Etwas über 470 Stundenkilometer. Kaum Vorwarnzeit.«
»Scheiße«, entfuhr es mir. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. »So schnell wie unsere Copter …«
»So schnell wie unsere Copter«, bestätigte Takuno. »Aber die Geschwindigkeit geht vielleicht auf Kosten der Reichweite.«
»Wie das?«
Takuno zog seine kleine Stablampe aus der Brusttasche, entnahm die Batterie und hielt sie hoch. »Energie. Eine hohe Geschwindigkeit benötigt eine Menge. Entweder sie werden über eine Schubdüse angetrieben oder über Impeller. Wie die Boote …«
»Was ist deine Vermutung?«, unterbrach ich ihn. Er sah mich eine Zeitlang an, seine Augen wanderten hin und her, als suchte er nach einer Lösung.
»Eine Schubdüse«, sagte er dann. »Gasgemisch, Festbrennstoff. Im Prinzip eine Rakete im Wasser.«
»He!«, rief Reto. »Wir müssen los!«
Takuno drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Ich werde zwei Tage im Sund auf der U-Boot-Werft sein. Ingenieure treffen.«
Er löste sich, steckte die Batterie ein und ging schnell zu einem kleinen Transferboot am Ende des Piers. Ich schnappte nach Luft. Viel zu schnell, dachte ich und spürte eine erwachende Sehnsucht. Dann packte ich den Rucksack und marschierte zum Transporter.


Die Transportraupe setzte sich ruckartig in Bewegung, Richtung Svalbard-Plateau, einem ausgedehnten, leicht gewölbten Tafelberg. Dort oben war das zu weiten Teilen tief im Berg gelegene Ausbildungszentrum der Polizeieinheiten. Auf der Oberfläche die Reste einer ehemaligen Satellitenanlage mit den noch funktionierenden Antennen zur Funküberwachung und Nachrichtenübermittlung. Ich starrte aus dem Seitenfenster der Raupe auf den Isfjord. Immer höher ging es hinauf. Langsam. Die Elektromotoren summten mich fast in einen Halbschlaf. Dort drüben, die neuen Inseln im Nordfjord. So viel haben wir schon geschafft im Laufe der Jahrzehnte, sinnierte ich. Zwölf Werften in vier Fjorden. Alle drei Monate verließ eine Insel Spitzbergen. Und nun das. Gegner, die wir nicht kannten. Von denen niemand wusste, wo sie zu finden waren.
Reto räusperte sich, hustete leicht. Ich drehte den Kopf und sah ihn an. Wie alt er doch geworden war. Fast sechzig Jahre. Sein Großvater hatte als Jugendlicher noch die Landflucht erlebt und seinem Enkel viel über die alte Welt erzählt. Davon träumte Reto – oder besser: er malte Landschaften. Sicherlich mit Elementen aus den Geschichten seines Opas. In zwei Jahren wollte er sich zur Ruhe setzen und nur noch malen. Hatte mit seiner Frau zusammen einen Transfer auf Gruppe 121 beantragt, einer Inselgruppe in der Salomonensee, hauptsächlich belegt mit ehemaligen Mitgliedern der Polizeieinheiten. Wieder ein leichter Hustenanfall.

»Alles in Ordnung mit dir, Reto?« Ich beugte mich vor und tätschelte sein Knie. »Du könntest dir noch ein paar zusätzliche Tage frei nehmen«, schlug ich vor. Er reagierte nicht.
»Ich habe gehört, dass eine neue Inselgruppe zusammengestellt wird«, platzte Aljona heraus. »Sie soll zwischen Oahu und Kauai liegen. Da werde ich mich für melden. Schon frühzeitig«, machte sie klar und grinste uns an. Reto hustete und blickte auf den Boden.
»Frühzeitig?«, lachte Hilario. »Du bist gerade mal dreißig. Was verstehst du unter frühzeitig?«
»Leck mich«, blaffte Aljona und deutete auf ihren Schritt. Etwas tropfte auf den Steg vor Retos Schuh. Fast hätte ich es nicht bemerkt. Schnell stellte er den Fuß drauf und hob den Kopf, schob das Bein einige Male hin und her, klopfte sich auf die Schenkel und lachte. Dann fing er meinen Blick auf und sah zu Aljona.
»Sag mal Aljona … du bist doch Russin. Dieses Sprichwort mit dem Bär, der erst tot ist, wenn man ihn gegessen hat … ist das wirklich russisch?«
»Nie gehört«, betonte sie lapidar. »Hat sie sich bestimmt nur ausgedacht.«
»Das war eine Drohung«, erklärte ich. Die Raupe stoppte mit einem Ruck und ein grünes Licht zeigte an, dass wir aussteigen konnten.
»Eine Drohung?«, wunderte sich Kano.
»Aussteigen!«, forderte ich sie auf. Die Rampe klappte herunter. Ich drehte mich zu meinem Rucksack, zog ihn über und stand auf. Reto ging vor mir hinaus, folgte den anderen. Vor der Öffnung drehte ich mich um. Es war ein dunkelroter Fleck. Blut. Reto hustete Blut! Ich schloss eilig zu ihm auf. »Reto … «, zischte ich so leise wie möglich, »bleib stehen, bitte!« Ich zog den Atemschutz aus der Seitentasche und setzte ihn auf. Kano und Kazumi drehten sich um, starrten uns entsetzt an.
»Was …«
»Ihr geht weiter! Bereitet alles für die Besprechung vor!« Sie nickten zögernd, setzten den Weg aber fort. Reto starrte mich an.
»Chatrina, warum der Atemschutz?« Ich war fassungslos. Suchte nach Worten …
»Reto! Vielleicht hast du dich beim letzten Landgang infiziert? Die Inkubationszeit deckt sich durchaus mit den Tagen seit unserer Rückkehr …« Er legte eine Hand auf meinen Arm. Ich zuckte zurück, aber er griff nach und sah mich mit flehendem Blick an.
»Chatrina, bitte, ich habe mich nicht infiziert! Glaubst du etwa, dass ich euch gefährden würde?!« Alle Körperspannung war aus diesem großen Kerl gewichen. Er sackte förmlich in sich zusammen. »Ich habe Krebs«, gestand er.
»Krebs?!«
Reto nickte unmerklich, drehte sich und marschierte auf das Tor zu. Plötzlich fühlte ich mich um Jahre gealtert. Schwach. Fuhr mit der Handfläche über die Stirn. Immer wieder, als wollte ich dieses Unglück abreiben, riss die Maske runter, atmete tief ein, hielt die salzige Luft einen Moment in mir und stieß sie seufzend aus. Was sollte ich mit Reto machen? Ich hatte keine Antwort. Mir blieb jedoch nichts anderes übrig, als es zu melden. Verzweifelt folgte ich ihm in den Eingangsbunker.


Flucht! Das war mein Gedanke! Im Ausbildungskomplex war nichts mehr so, wie es sein sollte. Tausend Menschen beherbergte man hier. Frauen, Kinder, Männer! Auseinandergerissene Familien! Die Überlebenden von Gruppe 25! Sporthallen, Trainingsräume, Schulungssäle, alles bis auf den letzten Quadratmeter voller Menschen mit zunächst ungewisser Zukunft. Nach dem Passieren der doppelten Schleusen fand ich mich mittendrin im Chaos. Eingehüllt in einer Kakophonie aus Stimmen, Rufen, Befehlen, Weinenden, Angehörigen mit leerem Blick. Dazwischen Mediziner, Polizisten mit Tablets, die auf Personen einredeten, versuchten Fragen zu stellen. Ich stellte den Rucksack auf den Boden und blickte mich um, schüttelte dann den Kopf. Wie sollten wir hier jemals Ordnung reinbringen? Eine Hand griff nach meinem Oberarm und zog mich in die Kabine der Schleusenwache. Ein junger Polizist brachte meinen Rucksack in den Raum, schloss die Tür hinter sich und grüßte. Stille. Ich schüttelte die Hand ab und drehte mich. Ein kleiner, etwas rundlicher Mann, stand vor mir.
»Anouk …«, brachte ich nur heraus und wollte ihm um den Hals fallen. Er hob ahnungsvoll die flache Hand, unterbrach mich.
»Tulugaq, mein kleiner Rabe! Du darfst mich so nennen. Aber nicht vor den anderen.« Er blickte sich um. Drei Polizisten standen bei ihm. »Ich bin für alle nur Taqtuuqatiit. Der Kamerad.«
»In Ordnung, Kamerad Taqtu.«
»Ist mir egal, ob du Ebene zwei bist«, ergänzte er.
»Mir auch«, erwiderte ich, ging auf ihn zu und umarmte diesen um einen Kopf kleineren Inuit, den ich seit fast zwanzig Jahren kannte. Er hielt die Arme am Körper.
»Das ist nicht angemessen, Kameradin Sutter.«
»Kann schon sein«, sagte ich lapidar und grinste.
»Da habt ihr mir einen fetten Wal ins Haus gelegt«, fuhr er ungerührt fort. »Mein Ausbildungszentrum ist keine Insel.«
Ich seufzte und schickte die drei Polizisten hinaus. »Helfen Sie draußen«, gab ich ihnen mit auf den Weg. Dann zog ich einen Stuhl heran und setzte mich, den Rucksack zwischen den Knien. Anouk tat es mir nach.
»Kamerad Taqtu, ich werde den Obleuten der Polizeieinheiten mitteilen, dass du die Gesamtleitung der Vernehmungen übernimmst und weisungsbefugt bist. Organisier bitte die Aufteilung der Vernehmung auf zweiundzwanzig Einheiten. Kinder lass erst mal außen vor …«
Ich sah ihn lange an, sein leicht rundliches Gesicht mit den stets verschmitzt wirkenden Augen. Bei Anouk konnte ich mir sicher sein, dass er Vernehmungen und Versorgung der Überlebenden effizient durchführte; und vielleicht noch das eine oder andere Detail aus dem Meer an Informationen filterte. »Anouk, ich habe Jonna dich als Leiter der Vernehmungen vorgeschlagen. Wenn jemand etwas findet, dann du.« Seine flache Hand landete auf der Brust. Er beugte sich über den Tisch und berührte mit seiner Nase meine.
»Danke, Tulugaq. Aber was genau soll ich denn herausfinden?«
»Stell dir vor, du gehörtest zu den Unbekannten. Warum und wohin verschwindet eine Insel mit fähigen Menschen? Welche Fähigkeiten sind das überhaupt? Wer könnte aus welchen Gründen abtrünnig werden? Was treibt die Menschen zu solch einem Schritt?« Etwas bestätigen durch Kopfnicken oder den Mund aufmachen war nicht Anouks Stärke. Er klopfte dafür mit der Hand einen Takt auf den Tisch.
»Ich habe dich zu einer guten Polizistin ausgebildet«, stellte er fest. »Und du hast es weit gebracht. Ebene zwei …«
»Deswegen vertraue ich dir. Denn was ich bin, verdanke ich Kamerad Taqtu.«
Er zog eine kleine Metallflasche unter der Uniformjacke hervor und stellte sie auf den Tisch. »Hier, trink!«
»Brennst du immer noch Seetang-Schnaps?« Seine Antwort blieb aus. »Gruppe eins schickt einen Verteilungsplan für die Überlebenden. Wünsche können berücksichtigt werden, sofern auf den Wunschinseln noch Kapazitäten frei sind. Elternlose Kinder kommen auf Gruppe zwei.«
Anouk klopfte seinen Takt. Ich öffnete die Flasche, roch daran und beschloss, den Gestank zu ignorieren. Ein Schluck davon konnte nicht schaden, also nahm ich einen großen. Das Zeug brannte. Den ganzen Weg hinunter, von der Zunge bis in den Magen. »Um Himmels willen …«, hustete ich ein paar Mal.
»Der Atem der Ahnen«, erklärte er. »Sie beschützen mich.«
Ich stellte die Flasche wieder auf den Tisch. »Wo hast du meine Leute hingeschickt?«
»Sind alle im UG8. Dort ist der einzige größere Raum, den wir noch für uns haben. Alle anderen Obleute sind schon dort. Sie warten nur auf dich.«
»Danke, Kamerad Taqtu …«
»Kameradin Sutter, ich habe deinen Bericht gelesen. Hat das Verschwinden von Insel 64 wirklich etwas mit den unbekannten Booten zu tun? Außer dass sie offenbar ebenfalls nach ihr suchten?« Ich musterte Anouk eingehend. Er sagte nie etwas, ohne nicht lange darüber nachgedacht zu haben. »Nun denn, Hauptsache, ich habe bald wieder meine Ruhe hier«, beendete er unser Gespräch abrupt, stand auf, ging mit Schwung um den Tisch und öffnete die Tür.
»Anwärter Bennani! Bringen Sie Obfrau Sutter ins UG8 zu den anderen!« Ich drückte mich an Anouk vorbei. Seine Hand landete auf meiner Schulter. »Abiola ist bei ihren Ahnen und sieht stolz auf dich herunter«, flüsterte er. Ich nickte im Davongehen. Bennani winkte mich zu sich. Unser Weg führte uns mitten durch die Menschenmenge. Ich zweifelte daran, hier etwas erfahren zu können. Alle Wortfetzen drehten sich nur um Verlust und Zukunft. Bennani drückte einen Knopf. Wir betraten die große Kabine, die Türen schlossen sich und die Stille kehrte zurück.


Bevor ich den Trainingssaal UG824 betrat, stellte ich den Rucksack im daneben liegenden Beobachtungsraum ab. Durch die polarisierte Scheibe blickte ich auf die Obleute der mir unterstellten Polizeieinheiten. Ein paar bekannte Gesichter. Dazwischen meine Leute an einem großen Tisch, einige umringt von den Männern und Frauen der Polizei. Die Menge an Fragen wird groß sein, vermutete ich. Fast hatte ich ein wenig Mitleid mit Kano, Kazumi und dem Rest, aber sie würden sich noch einige Minuten gedulden müssen. Ich drückte den Knopf der Sprechanlage. »Reto … komm bitte nach nebenan in den Beobachtungsraum.« Ich setzte mich auf den Drehstuhl. Er trat ein. Mit ausweichendem Blick. »Setz dich, bitte.«
Seufzend folgte er meiner Aufforderung. Schweigend saßen wir uns gegenüber, immer wieder die Stühle hin und her drehend. Obwohl ich seinen Blick aufzufangen versuchte, wich er aus. Dann ein leichtes Husten. Ich fasste mir ein Herz.
»Wie lange schon, Reto?«
»Bevor wir nach Kathu aufgebrochen sind, war ich wegen Schmerzen im Unterleib beim Doc.«
»Kathu? Das war letztes Jahr am 2. Oktober. Etwas über vier Monate … so schnell wächst doch kein Krebs. Verarsch mich nicht!«
»Nein! Nein, ich verarsch dich nicht! Okay, ich hatte schon ein halbes Jahr zuvor Schmerzen, immer wieder, aber da hab ich mir nur Tabletten besorgt. Hab dem Doc was erzählt …«
»Dem Doc was erzählt!?«, fuhr ich dazwischen. »Und was hast du ihm dann kurz vor dem 2. Oktober erzählt?« Reto drehte sich weg, bewegte den Kopf hin und her, als suchte er irgendwo die Worte.
»Er … es gab eine Kernspin-Untersuchung. Da sagte er Krebs. Im Darm … ich bat ihn, nichts zu sagen, nichts zu melden, denn alles wäre gefährdet! Mein Antrag auf Transfer zu 121 …«
»Weiß es deine Frau?«
Er hielt den Stuhl ruhig und sah mich an. »Ja, sie weiß es. Man kann ihr ja nichts vormachen.« Ich atmete geräuschvoll ein.
»Und was ist jetzt anders, weil du nun Blut spuckst?«
»Metastasen«, sagte er kaum hörbar. »So schnell … als wir von Gruppe 25 zurückkamen, war ich einen Tag zuhause. Der Doc hat gesagt, dass es selten ist, sehr selten, aber manchmal explodiert so ein Tumor plötzlich innerhalb kurzer Zeit …«
»Metastasen in der Lunge«, riet ich ins Blaue. Er nickte. Der große Kerl mir gegenüber wurde immer kleiner, sein Gesicht war aschfahl. »Wie lange noch?« Vielleicht die falsche Frage jetzt, aber im Moment musste einfach alles funktionieren und wir waren unter enormem Zeitdruck.
»Ein halbes Jahr … etwa.«

Ich schloss die Augen, pustete langsam die Luft aus. Es war so still im Raum. Alles schalldicht. Tief im Inneren von Spitzbergen. Fester Boden unter den Füßen. Es müsste mich beruhigen. Tat es aber nicht. Reto hustete. Erst leicht, dann wurde es stärker. Ich hörte ihn etwas ausspucken und öffnete die Augen. »Geh nach Hause, zu deiner Frau, Reto. Ich regle alles.«
Er blickte mich mit panischem Blick an. »Und der Doc? Wir haben uns strafbar gemacht!«
»Sicher«, gab ich ihm recht, »du hättest es mir sagen müssen und der Doc nach Gruppe eins melden. Wer weiß …«, es hielt mich nicht mehr im Sitz. »Vielleicht hätte eine Operation ja auch geholfen!«, fuhr ich ihn an. Mit einem Mal wurde ich wütend. »Verdammt, Reto!«
Ich hieb auf den Tisch neben mir. Er begann zu weinen. Aus heiterem Himmel. Niemals in zehn Jahren hatte ich ihn weinen sehen. »Scheiße!« Mehr brachte ich nicht raus, stellte mich hinter ihn und drückte seinen Kopf an mich. »Ich werde dich nach der Instruktion verabschieden, dann fährst du nach Hause … verbring noch ein paar schöne Wochen mit deiner Frau. Ich erledige den Rest.«
Er löste sich, stand auf und nahm mich für einen Moment in die Arme. Dann verließ er den Raum. Ich setzte mich wieder, zog das Pad raus, rief Jonna und erzählte ihr alles, schwieg am Ende für einen Moment und bat sie dann, nicht im Sinne der Regeln tätig zu werden. »Für seine Verdienste als guter Polizist über all die Jahre«, begründete ich es. Sie kratzte ihre rote Haarpracht ausgiebig, presste die Lippen zusammen, bis nur noch weiße Linien zu sehen waren und knurrte ab und zu. Dann sog sie die Luft ein.
»Okay. Ich stimme dem Transfer nach 121 zu. Ein paar schöne Wochen mit seiner Frau. Hat er sich verdient. Und der Doc …«, sie überlegte lange. Ich sagte nichts. »Den Doc kontaktiere ich. Das war eine einmalige Aktion. Passiert es noch mal: Festland.«
»Danke, Jonna.«
Sie nickte und winkte ab. »Wir erreichen alle eine Grenze«, sagte sie unheilvoll. »Unser Problem muss gelöst werden.« Das Pad wurde dunkel. Ich steckte es ein und wechselte den Raum.


Dann stand ich vor ihnen, meinen Kolleginnen und Kollegen. Als ich eintrat wurde es überraschenderweise ruhig. Keine Fragen mehr. Das war mir mehr als angenehm, bedeutete aber auch, dass alle gespannt warteten, was nun käme.
»Viele von Euch kennen mich. Entweder persönlich«, ich nickte einigen zu. »Oder zumindest dem Namen nach. Vierundzwanzig Polizeieinheiten und eine entsprechende Anzahl Transportgruppen. eine solche Menge an Mannschaften haben wir schon seit sehr langer Zeit nicht mehr zusammengezogen.« Ich legte eine Pause ein und sah in die Runde. »Wir werden alle brauchen … vielleicht noch mehr. Zunächst aber alle Geschehnisse der Reihe nach.«
Ich schaltete das Licht aus und warf Grafiken an die Wand, erzählte alles vom Tag unserer Abholung durch Takuno in Durban bis zur jetzigen Stunde. Jedes Detail. Mit einem Wisch gab ich die gesamte Ermittlungsdatei frei, übertrug sie an die Obleute im Raum. Dann sendete ich das Frageprotokoll.
»Dieses Protokoll wurde von Gruppe eins entworfen. Fragen zur darin festgelegten Strategie und Rhetorik richtet Ihr bitte direkt an Anouk.« Ich ließ es dunkel und setzte mich. »In den nächsten sieben Tagen werden die meisten hier Vernehmungen durchführen. Ich gebe zu, dass ist keine besonders aufregende Tätigkeit, aber die Menschen müssen so schnell wie möglich wieder einem geregelten Leben nachgehen auf neu zugewiesenen Inseln, brauchen Zeit und Ruhe für die sehr wichtige Trauer und wir die Daten! Hierbei möchte ich betonen, dass wir alles aufzeichnen. Jedes Atemgeräusch, wenn es sein muss. Auch visuell. Im Vernehmungsprotokoll finden sie alle Parameter.«

Ich schwieg. Das machte die Stille unter den Zuhörenden umso deutlicher. Ein Rascheln, auch ein Flüstern. Ich hatte erwartet, dass ein wenig mehr Unruhe aufkäme. Aber das Geschehene zeigte womöglich eine tiefere Wirkung als vermutet. Dann endlich eine Stimme.
»Chatrina … du sagst uns, dass wir es hier mit einer Gruppe, zu tun haben, die das bekämpft, was wir als einzigen Ausweg aus der Katastrophe seit mehr als hundert Jahren versuchen aufzubauen?«
Ich kratzte meinen Hinterkopf, zog an einem Haarbüschel. Sie wurden schon wieder zu lang. »Ich kenne nicht die Ziele dieser Menschen, aber momentan lässt das Passierte keinen anderen Schluss zu, als zu vermuten, dass jemand mit dem was wir tun, wie wir leben, nicht einverstanden ist …«
»Aber wie sollte man denn sonst leben?!«, kam die verzweifelte Frage, und ich war froh, dunkel gelassen zu haben, nicht in aller Augen sehen zu müssen. »Auf den Kontinenten kann man nur noch vegetieren! Entweder, wir stecken uns an oder die Dürren und Extremwetter zerstören alles, was aufgebaut wird …«
Ich hörte jemanden fluchen, eine beruhigende Stimme. Ein verzweifeltes Auflachen. Worte der Trauer dazwischen. »So viele mussten sterben …« Langsam dimmte ich das Licht heller. Wir blinzelten. Manche deckten ihre Augen für einen Moment ab.

»Reißt Euch zusammen!«, rief ich lauter als gewollt. »Sie werden keine Torpedos für 3.221 Inseln haben! Nicht genug Mannschaften, um Hawaii, Spitzbergen oder die Kerguelen anzugreifen. Und wenn doch … für was? Ihre Boote tauchen tiefer?! Unsere Ingenieure werden ebenfalls solche Boote bauen! Ihre Torpedos sind schneller?! Warten wir ab, was wir können!« Ich blickte in die Gesichter. »Sie sind skrupellos? Na und? Das werden wir auch sein! Das sind wir schon seit wir aufs Wasser mussten, um zu überleben! Ich bitte euch nur um eines: Seid gute Polizisten und geht jedem Detail nach, das Ihr bei den Vernehmungen und Einsätzen entdeckt! Auch wenn es noch so uninteressant klingt, noch so harmlos, könnte es der entscheidende Hinweis sein! Von uns ist es abhängig, ob wir einigermaßen heil aus der Sache herauskommen!«
Ich setzte mich auf das Trainerpult.
»Danke! Das war es erstmal. Instruiert eure Leute, haltet Euch zwingend an das Vernehmungs- und Fragenprotokoll. Anouk hat alle Verantwortung und ist weisungsbefugt. Berichtet zuerst ihm, sucht ihn auf, wenn ihr Zweifel an etwas habt oder es aus Eurer Sicht Unstimmigkeiten gibt.« Ich suchte Khatri und Lehtonen, entdeckte beide in der hinteren Stuhlreihe. »Die Einheiten 105 und 301 bleiben bitte hier«, rief ich ihnen zu. Dann winkte ich meine Leute herbei. Reto saß abseits, erhob sich ebenfalls, machte sich sichtlich gequält auf den Weg.

»Was gibt es, Chatrina?«, wollte Kano wissen. Ich antwortete nicht, fasste seine linke Schulter und winkte Kazumi zu mir, griff ihre rechte Schulter.
»Wir bilden einen Kreis und nehmen Reto in die Mitte.« Niemand fragte weshalb. Erstaunte Blicke, aber sie schwiegen. Ich spürte ihr tiefes Vertrauen und war dankbar. Reto trat in die Mitte und Aljona schloss den Ring. »Reto …«, forderte ich ihn leise auf. Er zögerte. Nur kurz, dann zog er ein Vlies aus der Hosentasche und zeigte es allen. Wir sahen das Blut.
»Krebs«, sagte er. »Dauert nicht mehr lange. Ich gehe jetzt nach Hause, zu meiner …« Seine Stimme versagte oder versiegte? Mir kamen die Tränen und Kazumi sackte weg. Wir hielten sie und zogen den Ring um Reto zusammen.

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