Buch | Kapitel 6

Kristiansand

Seit einem Tag nimmt die Zahl der Bäume zu. Kiefern hat Maga sie genannt. Sie sind nicht sehr groß. Einige zweimal ein Mensch, aber die meisten kaum größer als Maga. Buch umrundet sie immer wieder. Ihr Duft raubt ihm den Atem. Kein auch nur annähernd starker Geruch in seinem bisherigen Leben lässt sich mit dem der Kiefern vergleichen. Die Wurzeln, der Stamm, Äste und die Nadeln. So hat ihm Maga ihre Erscheinung erklärt. Aus dem wenigen Holz, das es in Åndalsnes gibt, kann man Pfähle für den Weidezaun schlagen. Doch aus diesen Kiefern lassen sich Häuser bauen, Schiffe und die Menschen können es verbrennen. Doch von der Lebensaufgabe eines Baumes, die Luft um uns herum sauber zu machen, erfährt er von Maga und staunt. Das also ist der Grund, warum die Baumsamen unbedingt ihr Ziel erreichen müssen. Alles ergibt nun einen Sinn. Die Menschen brauchen die Bäume, ihre besten Freunde. Als Buch über das Felsplateau zu Maga geht, schaut sie den Hang hinab in die Ferne, hält das Tablet hoch und macht Bilder.
»Ist das dort hinten Kristiansand?«
»Ja.«
»Dahinter ist nichts mehr.«
»Nur das Meer. Man nennt es Nordsee. Von Kristiansand sind es noch einmal 700 Kilometer bis zu unserem zweiten Ziel.«
»Wird der Mann mit seinem Schiff noch da sein?«
»Er ist ein Händler und transportiert Felle, Fleisch und Fisch von hier nach England und bringt Kohle zurück. Wie Johanna.«
»Kohle?«
»Schwarze Steine, die brennen. Aus ihnen macht man Koks und das benötigt man, um Metalle zu schmelzen.«
»Ich weiß gar nichts«, sagt Buch und setzt sich. Maga nimmt neben ihm Platz, legt den Arm um seine Schultern.
»Dafür hast du ja mich. Und du hast ja noch den anderen Vorteil, du kannst dir alles merken.«
»Aber merken ist nicht verstehen«, erwidert Buch. Maga muss ihm recht geben, sagt nichts, schaut nach Kristiansand und krault Buchs Haare. Er lehnt den Kopf an ihre Schulter.

Der Fluss ist ein Rinnsal, führt aber mehr und mehr Wasser, je näher sie der Stadt kommen. Buch und Maga sind auf der alten Straße entlang des östlichen Ufers. Drei Frauen laufen vor ihnen. Schweigend. Auf der gegenüberliegenden Seite sind Männer mit vollbeladenen Pferden in Richtung Stadt unterwegs. Buch spürt Unbehagen, aber er findet keine Worte dafür. Maga verlangsamt den Schritt und hebt das Tablet im Schutz ihrer Weste, vergrößert das Bild der Stadt. Buch denkt an die Pferde.
»War es klug, die Pferde freizulassen? Wir hätten sie tauschen können.«
»Vertrau mir. Eine Frau und ein Junge in der Stadt sind sicherer, wenn sie ohne wertvolle Pferde unterwegs sind.«
»Ich vertraue dir.«
»Gut, dann hör zu. Das Meer ist bis in die Stadt vorgedrungen. Was früher Hafen war, ist jetzt Meer. Du kannst es schon im Fluss sehen. Die alten Anlegestellen sind unter Wasser. Deshalb gehen wir über diese intakte Brücke in die westlichen Stadtteile.« Sie zeigt auf eine Stelle unterhalb einer Anhöhe. »Von dort laufen wir entlang der Hügel zu den Anlegestellen.«
»Meinst du, der Händler ist gerade hier?«
»Ich weiß es nicht. Für eine Überfahrt braucht er drei Tage mit löschen und laden der Waren. Wir werden nicht lange warten müssen.«
»Und wo werden wir warten?«
»In einem der Häuser oberhalb der Anlegestellen. Dort gibt es genug Übernachtungsmöglichkeiten.«
»Ich werde also Geschichten erzählen, um schlafen zu dürfen?« Maga lacht und Buch sieht eine der Frauen sich umdrehen. Ihr Blick ruht lange auf den beiden, dann dreht sich die zweite. Buchs Unbehagen steigt an. Sie wird zu einem Knoten in seinem Magen. So viele unbekannte Menschen. Was gäbe er, wenn er nur wieder zuhause sein könnte.
»Geschichten erzählen ist eine gute Idee.« Maga steckt das Tablet weg und Buch schaut nach den Frauen. Sie gehen schneller, sehen wieder nach vorne. »Bleib immer dicht bei mir und vertraue niemand. Verstanden?«
»Nur dir.«
»Genau.«

Alles ist so, wie Maga es beschrieben hat. Nur die vielen Menschen lassen Buch näher an sie heranrücken. Nicht alle sprechen die ihm vertraute Sprache. Er kann Englisch heraushören und noch mindestens drei andere Sprachen, die einen ähnlichen Klang haben, ihm aber völlig unbekannt sind. Auf der von Maga bezeichneten Brücke gibt es Händler, die viele unterschiedliche Waren anbieten. Einige haben Leder ausgelegt, andere nutzen einen Tisch oder gar einen Wagen, der von einem Pferd gezogen wird. Buch bleibt stehen. In einem der vielen Bücher hat er so etwas schon mal gesehen. Maga stoppt, dreht sich zu ihm und kommt die wenigen Schritte zurück.
»Was hast du entdeckt?«
»Ich habe noch nie einen Wagen mit Rädern gesehen.«
Maga greift seinen Ärmel. »Komm! Wir müssen weiter.«
»Kannst du alle Sprachen verstehen?«
»Ein paar.«
»Woher kommen diese Menschen?«
»Es gibt Händler die Dänisch und Schwedisch sprechen. Von einem weiß ich, dass er Deutsch redet, aber auch Englisch und Norwegisch kann. Als Händler musst du wissen, was deine Kunden wollen.«
»Ich meine, dass sich diese Sprachen ähnlich sind. Da gibt es immer wieder Worte, die ich verstehe, obwohl es nicht Norwegisch ist oder Englisch.«
»Ja, das ist auch so. In einem meiner Bücher habe ich gelesen, dass viele Sprachen nur abgewandelte Formen einer gemeinsamen Quelle sind.«
»Hast du viele Bücher?«
»Viele«, bestätigt Maga. Buch lauscht auf die Worte, die von allen Seiten in seine Ohren stürmen. Er starrt auf den Boden und beginnt, sie zu sortieren. Das in den norwegischen Topf, jenes in den englischen Topf, und das muss der dänische Topf sein. Etwas intensiveres als Worte dringt in seine Nase. Gerüche. Frisches Leder, saure Tonerde, Tran und Schnaps. Maga stupst ihn in die Seite und nickt mit dem Kopf nach rechts. Zwei dunkle Löcher im Fels in denen die Straße verschwindet. Buch staunt. »Was ist das?«
»Man nennt es Tunnel. Wenn ein Berg im Weg stand, hat man die Straße in einem solchen Tunnel einfach durch den Berg hindurch gebaut.«
»Wirklich?«
»Das ist der Beweis«, sagt Maga und hebt die Hand zu den beiden Portalen. Buch schwirrt der Kopf. Er muss jetzt an einen Ort, an dem völlige Stille existiert. Wände um ihn herum und eine Tür zum schließen. Niemand soll sprechen.
»Wie weit ist es noch?«, will er wissen und Maga hört das Zittern in seiner Stimme.
»Was ist mit dir?«
»Alles ist so viel. Ich will meine Ruhe jetzt. Sitzen, essen und schlafen. Keine Stimmen mehr.« Maga legt den Arm um Buchs Schultern, drückt ihn an sich. Buchs Augen sind zu Boden gerichtet.
»Wir gehen jetzt zu Agatha«, erklärt Maga und deutet mit dem Finger den Hügel hinauf.
»Du warst schon einmal hier«, stellt Buch fest.
»Ein paar Mal. Von hier bin ich nach Oslo oder Göteborg gereist.«
»Meine Welt ist klein«, muss Buch erkennen.


Buch schläft. Agatha betrachtet die kleinen Gebilde. »Es sind drei«, sagt Maga. »Mehr werden es nicht. Auch dieses Mal nicht. Davon kannst du mindestens sechzig Tage leben.« Nacheinander steckt Agatha die mattgolden glänzenden Stücke zwischen die Zähne und beißt zu, nagt daran und kontrolliert, ob sich etwas verändert hat. Kleine Kratzer, Abschürfungen. Helle Striche auf dem Metall.
»Sechzig Tage ist nicht viel und so oft kommst du nicht, um mir mit dem Gold mein Leben zu versüßen bis zu deinem nächsten Besuch. Eventuell muss ich dieses Mal mehr verlangen.«
»Ich bin sicher, dein Nachbar wäre hocherfreut über diese Bezahlung. Hätte er Probleme mit der Bezahlung?« Maga beantwortet die Frage selbst. »Wohl eher nicht.«
»Ihr seid zu zweit«, erwidert Agatha. »Ich muss mehr Essen auf den Tisch stellen, mehr putzen und waschen. Das solltest du bedenken.«
»Buch wird dich dafür bezahlen.« Agatha steckt die Klumpen in einen Lederbeutel, hängt ihn um den Hals und versteckt ihn unter der Weste. Maga schenkt Schnaps in beider Gläser, trinkt ihres in einem Zug aus, dann lehnt sie sich an die Ziegelwand, schließt die Augen. Agatha steht auf, geht zur Feuerstelle und rührt einen duftenden Eintopf um. Langsam streut sie gemahlene Körner hinein.
»Pfeffer«, sagt sie. »Ein Händler aus Petersburg hat ihn mitgebracht. Dort gäbe es noch mehr. Ein großes Haus voll davon. Hast du schon mal probiert?« Maga lauscht Agathas Stimme. Dem Ton. Sie versucht ein Zittern zu erkennen, eine Ablenkung, eine darin versteckte Gefahr, aber mehr als Pfeffer aus Petersburg vermag sie nicht zu hören.
»Ich kenne Pfeffer. Er ist fast so viel wert wie das Gold. Wenn du also auf dieses Gewürz verzichtest, kannst du mehr als sechzig Tage von deiner Bezahlung leben. Du könntest die hinteren Räume ein wenig ansehnlicher umbauen, Betten hinein stellen, dann hast du mehr Platz für Gäste und wirst besser leben. Händler kommen genug.« Agatha rührt. Der Holzlöffel schrappt über den Topfboden. Der Pfeffer verbreitet einen besonderen Duft. Maga denkt an Zuhause.
»Wer ist der Junge?« Agatha gibt keine Ruhe. Sie braucht die Neuigkeiten ihrer Gäste, um auf dem Markt zu prahlen und aufgebauschte Geschichten zu erzählen.
»Hab ihn unterwegs aufgegabelt. Warte ab, bis er wieder wach ist. Dann wirst du erkennen, was ich meine.«
»Er ist auf jeden Fall nicht aus der Gegend. Das sieht man.«
»Du wirst genug zu erzählen haben bei den Händlern.« Agatha schlägt den Löffel ein paar Mal auf den Topfrand. Maga öffnet ein Auge und schaut, was geschieht. Agatha setzt sich an den Tisch und trinkt ein weiteres Glas.
»Du nimmst ihn mit nach Irland?«
»Das tue ich. Er hat kein Zuhause mehr. Und wenig Erfahrung mit der Welt dort draußen. Er würde nicht lange überleben.« Stille. Dann verschwindet noch ein Glas Schnaps in Agathas Kehle. Sie hustet.
»Du könntest ihn bei mir lassen. Hier hat er es gut. Ein Bett, zu essen, er kann das Haus sauber halten, Gäste bewirten und das Kochen bringe ich ihm auch noch bei. Ich könnte Hilfe brauchen, schließlich bin ich nicht mehr die Jüngste.«
»Such dir jemand in Kristiansand. Es gibt genug Menschen ohne ein Zuhause.« Agatha kratzt mit dem Daumennagel ein Muster in die Tischplatte.
»Du hast kein Herz«, sagt sie schließlich.
»Vielleicht«, erwidert Maga. »Aber wenn dem so ist, solltest du jetzt schweigen.« Agatha steht auf.
»Ich muss noch mal weg, Schnaps kaufen. Der Eintopf braucht noch zwei Stunden. Leg dich solange schlafen.« Sie presst die Lippen aufeinander, hängt eine Tasche über die Schulter und geht aus der Küche. Maga wartet auf das Knarren der Außentür, hört in die Stille des Flurs, das Knistern des Feuers. Sie steht auf und öffnet die Tür zum Schlafraum. Buch liegt an der gegenüberliegenden Wand. Maga schließt die Tür, greift nach dem Stuhl und klemmt die Lehne unter den Türgriff. Dann legt sie sich neben Buch und genießt sein ruhiges Atmen in ihrem Nacken.


Agatha löffelt die Reste aus dem Teller, kippt den Rest vom Schnaps hinein, vermischt die Eintopfreste damit und reibt mit einem Brot alles heraus, steckt es in den Mund, nimmt ein zweites Stück Brot und bald ist der Teller wie frisch gewaschen. Buch staunt. Maga lehnt an der Ziegelwand mit geschlossenen Augen.
»Deine Mama hat erzählt, du bist der Meister im Geschichten erzählen und bezahlst damit deine Schulden«, sagt Agatha und schenkt nach.
»Maga ist nicht meine Mama.«
»Ja, das weiß ich. Mir ja auch egal. Trotzdem hast du jetzt bei mir Schulden, schließlich benutzt du ein Bett und isst meinen Eintopf.«
»Maga hat bestimmt für mich bezahlt. Wenn nicht, hätte sie es mir gesagt.«
»Na, du hast ja viel Vertrauen zu ihr.
»Natürlich«, sagt Buch mit fester Stimme. »Nur das macht Sinn.« Er überlegt, was Maga gesagt haben könnte. Die Geschichten fallen ihm ein. Sicher hat sie Andeutungen gemacht. »Ich bezahle meine Schulden, indem ich Geschichten erzähle.« Agathas Augen werden groß.
»Ein Geschichtenerzähler?«
»Das bin ich. Deswegen heiße ich ja Buch.«
»Na gut, Buch. Wenn mir deine Geschichte gefällt, werde ich etwas Besonderes machen. Einen Apfelkuchen. Und deine Schulden sind damit beglichen.« Buch denkt nach. Das Wort Apfelkuchen kennt er aus Büchern. Die Menschen darin freuen sich, wenn es Apfelkuchen gibt. Es macht also Sinn, eine gute Geschichte zu erzählen, um solche eine Besonderheit zu bekommen.
»Gut. Dann erzähle ich dir von einer Familie, die fliehen muss.«

Buch sagt, die Geschichte heißt Die Früchte des Zorns und ein Mann namens John Steinbeck hätte sie einst geschrieben, zu einer Zeit, als die Welt noch eine andere war. Agatha trinkt einen Schnaps und stützt das Kinn auf beide Handrücken. Buch beginnt.
»Vor langer Zeit gab es in einem Land, das man Oklahoma nennt eine lange und furchtbare Trockenheit. Die Familie Joad kann ihre Schulden nicht mehr bezahlen, denn es gibt keine Arbeit und nur noch wenig zu essen. Einem Mann, den sie Grundbesitzer nennen, gehört alles. Der Boden, das Haus, sogar das nicht mehr fließende Wasser. Dieser Mann vertreibt die Familie von seinem Boden. Aber vielleicht wird alles gut, denn es gibt ein Land, wo immer die Sonne scheint und alles golden ist. Man nennt es Kalifornien. Dorthin wollen sie. Und noch viele andere Familien auch. Dort werden sie bestimmt Arbeit finden und Essen und Wasser, vielleicht ein Haus oder eine Hütte.Sie haben ein großes Auto, das nennen sie Lastwagen. Der ist zwar ein bisschen kaputt, aber sie werden es bestimmt schaffen. Die Familie ist groß. Es gibt einen Opa, eine Oma, Mama und Papa, drei Söhne, die heißen Tom, Al und Noah. Dann ist da noch eine Tochter. Rose of Sharon heißt sie und sie bekommt bald ein Kind. Und verheiratet ist sie mit einem Mann, der Connie heißt. Außerdem sind noch zwei Kinder dabei, Ruthie und Winfield und ein Mann, der Wanderprediger ist. Ich weiß nicht, was das ist, aber sein Name ist Jim Casy. Oma und Opa sind so schwach und haben Heimweh, sie sterben unterwegs, denn die Reise ist sehr schwer.« Buch schaut Agatha in die Augen. »Die Reise ist wirklich sehr, sehr schwer.« Agatha nickt unmerklich. Buch fährt fort. »Ein Sohn, der Noah heißt, und der Mann von Rose laufen weg. Lassen die anderen einfach zurück. Der Papa kann nicht mehr, er hat keine Kraft mehr und die Mama muss jetzt verhindern, dass die anderen auch noch weglaufen oder sterben oder aufgeben. Der Sohn mit Namen Tom war in einem Gefängnis. Ich weiß nicht, was Gefängnis genau bedeutet, aber er hat einen Menschen getötet. Ich glaube, nicht mit Absicht. Doch er ist eine große Hilfe für seine Mama und die Familie.«
Buch trinkt einen Schluck Wasser. Agathas Hände liegen inzwischen auf dem Tisch. Ihr Kopf ruht darauf. Gebannt schaut sie auf Buchs Lippen. Maga atmet leise und gleichmäßig. In Buchs Kopf ist das Bild eines Lastwagens und eine große, gelbe Sonne. Er erzählt weiter mit leiser Stimme, um Maga nicht zu wecken.
»Bald erreichen sie Kalifornien. Aber da ist kein Gold. Nur viel Arbeit und wenig Essen. Die Menschen dort sind böse zu ihnen, weil sie neu sind, von einem anderen Ort kommen. Die Familie hat großen Hunger und leidet furchtbare Not. Sie kommen in etwas, das autonom verwaltetes Migrantenlager heißt. Ich glaube, das ist wie ein kleines Dorf mit einem Zaun drumherum. Sehr viele Menschen auf sehr wenig Platz. Vielleicht haben sie ja Glück, denken sie, denn dort gibt es noch andere arme Menschen, die sich aber gegenseitig helfen. Dann aber geht alles schief. Diejenigen, die arbeiten und kaum etwas dafür bekommen, streiken, wollen also nicht mehr länger für so wenig arbeiten. Der, den sie Wanderprediger nennen, Jim Casy, schließt sich den Streikenden an, und der Grundbesitzer holt böse Menschen. Die erschlagen den Wanderprediger. Jetzt passiert es. Der Sohn Tom, der im Gefängnis war, rächt sich und tötet wieder einen Menschen. Er will jetzt so denken und reden wie der Wanderprediger, verlässt die Familie und gegen die bösen Menschen und die Grundbesitzer kämpfen. Die Mama kann die Familie nicht mehr in einer Hütte halten. Es kommt ein harter Winter, Schnee, Eis, Kälte. Die Tochter Rose bekommt das Kind, aber es ist tot. Sie ziehen alle weiter und treffen einen Mann, der verhungert. Rose füttert ihn mit der Milch, die sie jetzt nicht mehr ihrem Kind geben kann. Und das ist das Ende der Geschichte von der Familie Joad.«
Buch atmet tief ein und aus und findet, er hat gut erzählt. Immer besser wird er. Hat gelernt, an den richtigen Stellen innezuhalten, sein Gegenüber zu beobachten, was in den Augen passiert, im Gesicht. Jetzt ist Agatha ganz still. Buch ahnt, dass sie an Kalifornien denkt und an Tom, an Rose, deren Kind gestorben ist. Wie meine Mama und mein Papa. Gestorben bei der Geburt oder auf dem Weg danach. Agatha putzt die Nase, wischt mit dem Tuch durch beide Augen und dreht den Kopf nach rechts. Es werden Tränen sein, denkt Buch und Tränen sind ein schöner Lohn. Ein noch schönerer Lohn aber wird der Apfelkuchen werden.


Maga handelt. Redet in einer anderen Sprache mit einem alten Mann, der seinen Wortschwall mit Händen und Füßen unterstützt, immerzu von einem Fuß auf den anderen tritt und einen sehr roten Kopf bekommt. Buch steht abseits, an eine Hauswand gelehnt. Er beobachtet die vorbeiziehenden Menschen und lauscht. Ein Berg aus Worten, Lachen, Flüchen. Englisch, Dänisch, Schwedisch, Norwegisch und zwischendrin immer wieder Deutsch. Er sortiert Silben, streicht Buchstaben weg oder hinzu. Ein Topf Englisch, ein zweiter für Schwedisch, in einen dritten packt er das Dänische. Wie ähnlich sich viele Worte sind, darüber muss er staunen. Es muss viele Sprachen in der untergegangenen Welt gegeben haben. Ein Gedanke kriecht heran. Aus einer dunklen Ecke seines Kopfes. Es gibt zwei Entfernungen. Der in die Ferne, zurück nach Åndalsnes etwa, und dann noch jenen zurück in die Zeit. Nach Åndalsnes kann Buch es schaffen, aber zurück in die Zeit niemals. Ausgeschlossen. Niemand kann das, denn sonst wäre es schon passiert und die Welt sähe anders aus. Das steht für Buch fest. Der Weg nach Hause in Bestemurs Tal und die Zeit. Das eine existiert, das andere ist wie Luft. Unsichtbar. Die Worte kreisen vor seinem inneren Auge und er bemerkt in der Ferne eine Bewegung. Drüben, bei der großen Insel, hinter deren Horizont schälen sich zwei Masten aus dem Dunst. Ein Schiff. Langsam umfährt es die Schären und steuert in den schmalen Kanal zum Hafen.
»Träumst du?« Magas Stimme. Sie ist fertig mit dem Handel obwohl Buch nicht sieht, dass ihre Taschen schwerer geworden sind. Er schüttelt den Kopf und deutet auf das entfernte Schiff. »Na, endlich«, sagt Maga. »Morgen kommen wir hier weg.« Buch reißt die Augen auf, stößt sich von der Wand ab und streckt sich.
»Das ist unser Schiff? Woher weißt du das?«
»Zwei dunkelrote Dreiecksegel und drei Hauptsegel. Er ist es, ganz eindeutig.«
»Du kennst ihn gut?«
»Seit vielen Jahren.«
Buch hört Magas Stimme. Sie ist knackendes, knirschendes Eis in den Flanken der Berge, wenn die Sonne emporsteigt. Der auf dem Schiff kann kein guter Mensch sein. Zu Beginn ihrer gemeinsamen Reise war Buch noch einen halben Kopf kleiner als Maga. Nun ist er größer als sie und überragt die meisten Menschen auf dem Markt. Vielleicht muss er sie bald beschützen, und nicht umgekehrt. Buch muss lernen zu kämpfen. Das nimmt er sich vor. Maga schirmt mit der Hand die Augen gegen die Sonne ab. Ihre Nasenflügel zittern.
»Was hast du gehandelt?«
»Hm?«
»Bei dem Händler, was wolltest du von ihm?« Maga stöhnt und Buch lässt die Schultern hängen. »Verzeih, Maga, frage ich zu viel?«
»Nein, schon gut. Ich habe Medizin besorgt.«
»Für was?«
»Gegen Entzündungen, Wundbrand, falls uns jemand verletzt.« Buch runzelt die Stirn. Wundbrand?
»Wird es für uns gefährlich auf dem Schiff?« Maga legt den Arm um Buchs Schultern und schiebt ihn auf die Straße, langsam den Hang hinauf.
»Ist nur ein Gefühl, Buch. Als wir in Cork unsere Reise begannen, waren wir zu fünft. Nun bin ich alleine. Denk an Johanna, die Kapitänin. Lieber bin ich vorsichtig.«
»Aber wir haben doch nichts! Keine Schafe, keine Pferde, nichts was wichtig wäre. Warum sollte uns jemand etwas tun? Warum sollten wir verletzt werden?«
»Ich habe den Koffer, und darin die Samen. Das ist mehr wert als alles andere um uns herum. Die Mannschaft braucht Zeit zum Laden. Wir gehen zu Agatha, holen unsere wenigen Sachen und werden oben auf dem Hügel warten bis es dunkel ist. Dann gehen wir an Bord.« Buch denkt an jedes gesagte Wort.
»Ich weiß nicht, ob mir diese Welt gefällt. Lieber wäre ich bei Bestemur, aber sie ist ja tot. Oder bei Kraut. Niemand kommt und stört unser Leben.« Maga nimmt Buchs Hand und schwingt beide Arme vor und zurück. Solange bis Buch sie angrinst.
»Du erinnerst mich an jemanden«, sagt sie.
»An wen?«
»Vielleicht erzähle ich es dir eines Tages. Jetzt muss ich an wichtigere Dinge denken.«
»Das verstehe ich. Aber wenn Zeit ist, dann erzählst du es mir.«
»Versprochen«, sagt Maga und nickt. Der Weg wird steiler. Agathas Haus kommt in Sicht. Es ist noch eines der am besten erhaltenen auf diesem Hügel. Buch mag Agatha nicht. Bestemur hätte gesagt, sie ist vorne nicht wie hinten und es hat lange gedauert, bis er verstand, was damit gemeint ist. Er folgt einem Faden in seinem Kopf. Die komische Agatha, Medizin für gefährliche Wunden, ein Kapitän auf dem Schiff, der Magas Stimme verändert, wenn sie von ihm spricht. Es ist eine Wolke, die hinter dem Berggipfel sichtbar wird und vielleicht ein Unwetter in sich trägt.


Maga wirft den kleinen Stein gegen einen größeren. Er prallt ab und landet im Dreck. Ein zweiter folgt, der in zwei Stücke zerbricht.
»So kenne ich dich nicht«, stellt Buch fest. »Du bist unruhig. Es macht Sinn, mir deine Sorgen mitzuteilen, denn wenn ich nicht weiß, über was du nachdenkst, werde ich vielleicht falsch reagieren, sollte etwas geschehen.«
Marga wirft einen dritten Stein, der am größeren vorbeigeht und schaut Buch an. »Vielleicht hast du ja recht, mein Großer, aber es ist eben nur ein Gefühl. Und über Gefühle muss ich mit dir nicht reden, oder?«
»Das stimmt. Sie sind mir ein Rätsel.«
»Darum beneide ich dich manchmal.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich.«
Buch überlegt. Menschen wie Maga oder Bestemur kennen zwei Welten. Die Welt des Denkens und die Welt des Fühlens. Also ist es wie mit den beiden Entfernungen. Den Weg nach Åndalsnes kann er bestimmen und gehen, aber den Weg in die Zeit zurück nicht. Und Maga sicher auch nicht. »Ist es möglich, in die Zeit zurückzugehen?«
Maga runzelt die Stirn und versucht im zunehmenden Zwielicht des Abends Details in Buchs Gesicht zu erkennen. Seine Stimme ist viel dunkler geworden. Und voluminös. Als gäbe es eine große Höhle in seinem Inneren. Buch kann sehen, wie sie schmunzelt.
»Also über deine Fragen muss ich mich immer wieder wundern. Es würde mich interessieren, ob dir diese Gedanken kommen, weil du so viele Bücher gelesen hast, oder einfach so.«
»Das weiß ich nicht, Maga. Woher sollte ich das auch wissen?«
»Nein, das kannst du nicht wissen. Und um auf deine Frage zu antworten: Niemand kann in der Zeit zurückgehen. Ich habe es jedenfalls noch nirgendwo gehört, und das hätte sich auf jeden Fall herumgesprochen.«
Buch nickt. So hat er sich das gedacht, und doch ist da ein Loch. Gleich dem, das Bestemur hinterlassen hat. Vielleicht kann es doch jemand, nur hat er es nicht erzählt. Buch könnte ihn finden, in die Zeit zurückgehen und Bestemur retten und dann noch weiter zurückgehen und …
»Du würdest gerne wissen, wer deine Eltern waren, nicht wahr?« Buch zuckt zusammen. Magas Worte sind – gleich einer heiße Nadel im Wachs – in seinem Kopf versunken. Da ist etwas in ihm, das er nicht kennt. Ganz weit unten. Jemand muss nur die richtigen Worte aussprechen, dann öffnet sich der Boden und ein Abgrund ist zu sehen. Es muss ihm schnell eine neue Frage einfallen.
»Was weißt du über die untergegangene Welt?«
»Hm«, Maga lehnt sich an einen vertrockneten Baumstamm. »Die untergegangene Welt. Das ist schwierig, weil es so viel ist und doch wie im Nebel …«
»Versuch es.«
»Das tue ich bereits. Ich versuche mich an all das Gelesene, Gesehene und Gehörte zu erinnern …«
»Wie meinst du das? Gesehene und Gehörte, wie kann das sein?«
»In Cork haben wir noch mehr von diesen Geräten wie das Tablet. Ein Teil von uns lebt und arbeitet unter der Erde in einem alten Gebäude, das man Universität nennt. Dort finden sich viele Aufzeichnungen aus vergangenen Jahrhunderten. Darin sind wir auch auf den Saatgut-Bunker gestoßen. Dort finden sich zuhauf Texte, Bilder und Gesprochenes über die alte Welt. Ob es tatsächlich so wunderschön war, kann ich nicht nachvollziehen. Dazu fehlt mir das eigene Erleben, die Erfahrung. Aber es ist das Gestern, das kann uns nicht interessieren. Wir wollen an das Morgen denken. Und mit diesen Baumsamen können wir diese Zukunft besser machen.«
»Ich verstehe den Sinn in deinen Gedanken, doch ich frage mich, ob einer schönen Zukunft nicht wieder das passieren wird, was der untergegangenen Welt passierte. Ob es nicht sinnvoller wäre, ein Leben wie Kraut, Tausch und Bestemur in Åndalsnes zu führen. Es war ruhig und wir hatten alles.« Maga sog die kühler werdende Abendluft ein, atmete langsam aus.
»Vor allem hattet ihr Krankheiten, die man nicht mit Moos heilen kann. Du darfst die Neugier in dir nicht vergessen. Diesen Hunger kannst du nicht stillen. Denk an die Löcher in dir. Bestemur, Tausch und die anderen. Hättest du ihnen mit mehr Wissen helfen können? Diese Fragen werden dich nicht loslassen. Das Verlangen nach Wissen ist stärker als alles andere. Die Welt vor uns besaß dieses Wissen.«
Buch schweigt. Die dunklen Löcher. Jedes unergründlich tief. Kraut nannte sie Trauer, Verlust. Menschen, die man liebt. Keine Worte, die Buch versteht, aber neben den Löchern zu stehen, macht ihn unruhig und er träumt von ihnen.
»Ich ahne, dass du recht hast, Maga.«
»Leider, Buch. Das Leben wird nicht einfacher dadurch. Und jetzt schlaf. Ich wecke dich morgen vor Sonnenaufgang.«


Die Nacht ist ein seltsames Ding. Die Farbe des Himmels komplett verschwunden und das erlaubt der Schwärze, bis auf den Boden zu gelangen. Auf Felsen, in Fjorde, in die Augen derer, die hinaufschauen. Alles Licht sind nur Punkte. Unendlich viele. Ein Rascheln neben Buch. Die Umrisse eines Menschen. Es muss Maga sein. So groß. Sie benötigt wenig Schlaf und ist immer auf der Hut. Anders als Bestemur und der Rest aus dem Fjord, weiß Maga so viel mehr. Es ist Wissen aus der untergegangenen Welt. Der Himmel jedoch ist für alle immer derselbe, damals wie heute. Dann kann er nur zeitlos sein. Buch setzt sich aufrecht. »Mach dich bereit. Wir gehen.« Mehr sagt Maga nicht. Buch steht auf. Die Punkte über ihnen geben genug Licht. Unten in Kristiansand brennen Feuer. Es riecht nach verbranntem Torf. Buch und Maga helfen sich gegenseitig beim Aufziehen der Rucksäcke. Sie hängen je zwei Taschen über ihre Schultern, dann folgen sie dem Pfad hangabwärts, vorsichtig, langsam. Im fahlen Licht erinnert er Buch an den Weg zu Tal, der mitsamt seiner Schafe einfach verschwunden ist. Nie mehr in der Zeit zurück. Zwei Schritte hinter Maga. Bald sind sie auf den Resten einer Straße, vorbei an Agathas Haus, noch ein Stück hinab, zwei Händler bauen schon ihre Stände auf, dann sieht Buch ein seltsames Licht. Eines, das nicht flackert. Es hängt am ersten Mast des großen Schiffs. Die Schatten darunter sind hart, ihre Ränder wie mit dem Messer gezogen. Männer tragen Körbe, Fässer, Felle und Kisten über zwei Rampen an Bord. Nur hin und wieder fallen ein paar Worte. Jeder weiß, was zu tun ist. An der Spitze des Schiffs sieht Buch einen Mann. Er schaut auf die arbeitenden Männer und schreibt Dinge auf eine Tafel.
»Ist das der, den du Kapitän nennst?«
»Das ist er.«
»Wie ist sein Name?«
»Er nennt sich Magellan.« Buch wiederholt das Wort im Stillen. Magellan … Magellan. Niemals hat er das je gehört. Es muss eine Bedeutung haben, weil es bedeutungsvoll klingt. »Ich kann deine Gedanken bis zu mir hören, Buch. Du rätselst, ob der Name eine Bedeutung hat. Eine Bedeutung ist übertrieben, aber es ist der Name eines berühmten Seefahrers aus dem Land Portugal.«
»Vom Land Portugal habe ich schon gelesen, aber nicht von diesem Seefahrer.«
»Lass uns erst auf das Schiff gehen und ablegen.«
»Das macht Sinn.«


Das Schiff ist groß. Um vieles größer als das von Johanna. Eine junge Frau weist ihnen eine Kajüte im Unterdeck zu. Zwei Betten übereinander, ein kleiner Tisch an der Bordwand, zwei Stühle aus Metall davor. Die Frau erklärt, wann es Essen gibt, einmal morgens, einmal abends und alle Mitreisenden sitzen beim Kapitän im hinteren Raum um einen großen Tisch. Reden nur, wenn der Kapitän fragt oder es erlaubt. Wenn man austreten muss, dann im Unterstand auf dem Vordeck, dort ist ein Loch im Deck und der Ausgang führt direkt ins Meer. Außerdem hätte man immer das zu tun, was der Kapitän sagt. Kann auch mal sein, dass es an die Segel geht, sagt sie. Wer sich weigert, bekommt nichts zu essen. Waschen muss man sich verkneifen. Wasser ist knapp. Maga nickt und das erste, was Buch auffällt, ist der besondere Geruch an Deck, der sich im Unterdeck noch verstärkt. Eine Mischung aus Fisch, Schweiß, Urin und noch vielem anderen. Buch rümpft die Nase, die junge Frau wirft ihm einen kurzen Blick zu und schließt die Tür der kleinen Kajüte. Maga stellt den Rucksack auf den Boden, packt die Taschen drauf. Buch macht es ihr nach. Sie setzen sich aufs Bett und lehnen an die Wand. Das Holz ist klebrig, riecht nach Salz.
»Diese Frau kennst du nicht«, stellt Buch fest.
»Nein. Aber es ist auch schon viel Zeit vergangen.«
»Wie oft warst du schon auf diesem Schiff?«
»Einige Male in den letzten Jahren.« Da ist sie wieder, die Zeit, denkt Buch. Sie reißt alles mit sich. Egal ob Mensch, Meer oder Fels.
»Und beim letzten Mal bist du mit deinen Leuten von England gekommen. Und dann?«
»Dann sind wir von hier nach Tromsø gesegelt, haben dort eine Kapitänin beauftragt, uns nach Spitzbergen zu bringen, was nicht einfach war, denn kaum jemand wagt sich hoch in den Norden. Die Stürme können verheerend sein. So war es dann auch. Auf der Rückfahrt hat es uns vor Trondheim erwischt. Johanna hat mich aufgenommen und nach Åndalsnes gebracht.«
»Und dort hast du mich getroffen.«
Maga nickt und schließt die Augen. »Ja, und ich bin froh, dass du bei mir bist. Es beruhigt mich.« Buch sucht nach eben diesem Gefühl in seinem Inneren. Wie ist es, beruhigt zu sein? Gerne würde er Maga dasselbe sagen. »Ich weiß, was du sagen möchtest, Buch. Such nicht danach. Wichtig ist, dass wir zusammen hier sind. Und jetzt werde ich mich hinlegen und schlafen.« Einen Atemzug lang wartet die Zeit. Maga legt sich auf die Strohmatte, die Augen schon geschlossen. Buch steht auf, schaut auf die kurzen Haare, dann deckt er sie zu und geht hinaus.

Die Rampen sind eingezogen, Gatter vor den Lücken in der Reling. Die junge Frau gibt Befehle und von Magellan ist nichts zu sehen. Buch steht auf dem hinteren Deck, an die rückwärtige Reling gelehnt. Wenige Schritte vor ihm ein großes Rad, auf seinem Kranz sind Griffe in regelmäßigen Abständen eingesteckt. Ein bärtiger Kerl hält die Griffe fest, bewegt sich nicht, dreht nicht das Rad und doch sieht Buch den Steg abdriften. Er geht auf die rechte Seite und schaut nach unten. Zwei kleinere Boote sind zu sehen, je acht Männer in ihnen, Ruder in der Hand. Sie ziehen das große Schiff weg vom Steg. Immer gleiche Befehle kommen von zwei weiteren Männern, die auf dem hinteren Brett eines jeden Bootes sitzen. Vor! Ruder ins Wasser! Ziehen! Ruder hoch! Vor! Buch ist fasziniert. Stück für Stück geht es hinaus in die kleine Bucht. Dann löst sich eines der Boote. Die Männer rudern um den Kiel, machen wieder fest. Jetzt gibt die junge Frau Anweisungen und langsam dreht sich das große Schiff Richtung Durchfahrt zum offenen Meer. Es kribbelt in Buchs Unterbauch. Es ist wie vor dem Beginn ihrer Reise. Nur viel stärker.
»Wird Zeit«, sagt der Große am Rad. »Die Ebbe setzt ein.« Als wären seine Worte ein Signal, sieht Buch, wie die junge Frau das Tau des vorderen Bootes ins Wasser wirft, nach hinten rennt, dort das Tau löst und den Männern auf dem Mitteldeck Worte ins Ohr schreit, die er nicht wirklich versteht. Besondere Worte. Jedes sortiert er in ein Töpfchen. Hände greifen zu vielen Tauen, auf quer aufgehängten Holzstangen stehen Männer, die Seile lösen, Segel fallen herab, werden gespannt, fest gebunden. Die Frau steckt zwei Finger in den Mund und hebt sie dann über sich. Sie winkt zweimal nach rechts, die Segelstangen drehen sich. Mit einem sanften Knall blähen sich die großen Tücher auf, wölben sich nach außen. Buch spürt die Bewegung in den Füßen.
»Bring uns raus, Martin!«, ruft sie. Der große Kerl dreht am Rad und Buch stellt sich mit wenig Abstand neben ihn. Davor steht ein Holzkasten. In ihm sieht Buch eine Scheibe mit vielen Pfeilen. Wie eine vielblättrige Blume. Sie dreht sich sehr langsam.
»Der Kompass«, sagt Martin, der Große.
»Kompass«, wiederholt Buch. »Das habe ich schon mal gelesen. Da steht Norden, Osten, Süden und Westen.«
»Sehr gut, Junge. Und in welche Richtung bewegen wir uns gerade?« Buch kratzt sich am Hinterkopf. Im Osten zeigt sich erstes Licht.
»Nicht ganz nach Süden. Etwas nach links.«
»Gar nicht schlecht. Da stehen Zahlen. Auf was zeigt das schwarze Dreieck?«
»Da steht 160.«
»Unser Kurs liegt an auf 160 Grad, Südsüdost. Das ablaufende Wasser kommt uns gelegen. Den Kurs halten wir für etwa sieben Seemeilen, dann drehen wir auf 200 Grad, knapp am Wind. Kurz vor England drehen wir nach Westnordwest. Es gibt einen Wind aus dem Kanal, der dann günstig ist für uns.«
»Aha«, sagt Buch, ohne etwas davon verstanden zu haben. Zumindest ist er sich sicher, dass Martin weiß, was er tut. »Wie nennt man das, was du hier tust?«
»Ich bin der Rudergänger«, erklärt Martin und wächst um eine weitere Daumenbreite.
»Und wer ist die Frau?«
»Ah, interessierst dich wohl für sie, was?« Martin grinst.
»Vielleicht«, lügt Buch.
»Vergiss es. Die rechte und linke Hand vom Käpt’n. Du willst sie nicht zum Feind haben.« Martin kontrolliert mit einem Blick auf den Kompass den Kurs und räuspert sich vernehmlich. »Sag mal, ich habe gesehen, dass du mit Maga an Bord gekommen bist. Woher kennst du sie?«
»Ich war alleine unterwegs und sie hat gesagt, dass sei gefährlich. Ich solle mit ihr kommen.«
»So so, und wie ich sehe, hast du das getan.«
»Natürlich. Das macht Sinn.«
Martin, der Rudergänger, lacht. »Das macht Sinn … wer redet denn so?«, sagt er, lässt einen der Griffe los und hebt sich den Bauch.
»Martin! Stimmt was nicht?!« Die rechte und linke Hand des Kapitäns kommt die Treppe herauf und mustert Buch, dann Martin. »Ich mag es nicht, wenn unser Rudergänger von Passagieren abgelenkt wird. Hier gibt es Untiefen. Laufen wir auf, dann gehst du über Bord! Also verzieh dich!« Sie wirft Martin einen grimmigen Blick zu. Buch steigt auf das mittlere Deck hinunter und lehnt sich an die Reling. Er spürt den Wind und kann ihn sehen in Form der geblähten Segel, die so seltsam schräg an den Masten hängen, dass er sich über die schnelle Fahrt des Schiffs wundert. Kristiansand wird kleiner, zusehends; und Buch ist froh darum. Froh, hier weg zu sein. Zwischen den Menschen dort war er unruhig.
»Junger Mann, wenn du Arbeit suchst, ich hätte was für dich.« Buch hat nicht gehört, das sich ihm jemand genähert hat, zuckt zusammen und dreht den Kopf. Der Kapitän. Magellan, wie Maga ihn nannte. »Der Koch braucht Hilfe«, sagt er mit dunkler Stimme. »Ist jemand krank geworden und wir mussten ihn zurücklassen. Wurzeln schälen und schneiden kannst du doch, oder?«
»Kann ich. Gar kein Problem.«
»Das höre ich gerne. Geh zum Vordeck, die Stiege nach unten, dann nach rechts. Dort ist die Kombüse. Sag dem Koch, ich habe dich geschickt. Wenn er anfängt zu maulen, sei einfach still und mach, was er sagt.«
»Gut, das kann ich.« Buch will sich abwenden, zum Vordeck gehen, weg von dem sehr bärtigen Mann, der Magas Stimme so eisig werden ließ.
»Nicht so schnell, junger Mann.« Eine Hand packt Buchs Schulter. Ein Griff so fest wie der Schraubstock, den Tal verwendete, um Nägel zu ziehen. »Du bist mit Maga gekommen. Wo sind denn ihre anderen Begleiter?«
»Von anderen Begleitern weiß ich nichts. Ich war auf der Reise nach Kristiansand. Unterwegs ist sie auf mich getroffen und hat mir angeboten, den Weg zusammen zu gehen, weil es alleine zu gefährlich sei.«
Der Kapitän nickt. »In diesem Fall eine kluge Entscheidung. Aber nimm dich in acht. Maga hat zwei Gesichter, wenn du weißt, was ich meine.« Zwei Gesichter? Nein, Buch weiß nicht, was damit gemeint ist. Der Kapitän deutet Buchs Schweigen richtig. »Na, ist auch egal. Wie ist dein Name, Junge?«
»Buch.«
»Buch? Wer zum Teufel nennt sich denn Buch?«
»Ich wurde von meiner Mutter so genannt, weil ich ein Geschichtenerzähler bin.« Die buschigen Augenbrauen des Kapitäns rucken nach oben, seine Augen werden groß.
»Ein Geschichtenerzähler? Na, auf so einen warte ich schon lange. Beim Abendessen wirst du uns eine deiner Geschichten erzählen. Das ist ein Befehl.«
»Man muss es mir nicht befehlen«, erwidert Buch. »Das mache ich gerne.«
Der Kapitän lacht, lässt Buchs Schulter los und gibt ihm einen Schubs Richtung Vordeck. Buch versteht und geht unter dem großen Segel durch auf die Stiege zu. Der Wind hat deutlich zugenommen und mit ihm die Dünung. Buch schwankt auf dem Weg zur Treppe. Er spürt ein deutliches Unwohlsein im Bauch.


Maga hat sich durchgefragt und findet Buch in der Kombüse, einen Berg in Scheiben geschnittene Wurzeln vor sich. Fahl im Gesicht schaut er auf und lächelt. Den misstrauisch äugenden Koch ignoriert sie.
»Seekrank?«
»Ja, so sagt man dazu, hat der Koch erzählt.«
»Er hat mir schon vier Mal in den Eimer gekotzt«, beschwert der sich. Maga hört nicht hin.
»Wer hat dir gesagt, dass du hier arbeiten sollst?«
»Der Kapitän.«
»Und was bekommst du dafür? Die Überfahrt ist bezahlt.« Der Koch setzt zu einer Widerrede an, aber Magas Blick verschließt seinen Mund. Buch presst die Lippen aufeinander, schält, schneidet, dann atmet er tief durch. Der Boden schwankt und manch eine der Wurzeln rollt über den Tisch, fällt runter. Buch hebt sie auf. »Na, meinetwegen, Buch. Wenn es dir Spaß macht. Sei pünktlich beim Essen.«
»Das werde ich sein, denn ich soll schließlich eine Geschichte erzählen«, beteuert er. Der Koch atmet geräuschvoll ein und schaut auf. Magas Blick lässt ihn weiter still im Topf rühren.
»Ich gehe zum Kapitän, falls du mich suchen solltest.« Buch nickt. »Geschichten erzählen …«, murmelt Maga und verlässt den Raum.
»Puh, die ist nicht ohne«, sagt der Koch. Er wirft eine Handvoll Salz in den Topf.


Maga klopft an die Tür und tritt ein. Der Raum ist fast leer, bis auf den großen, ovalen Tisch, eine Menge Stühle auf mehrere Stapel verteilt, ein wuchtiger Tisch an der hinteren Wand. Der Kapitän sitzt davor und überträgt Zahlen von einem Papier in eine Kladde, nimmt die Finger beider Hände, um zu rechnen, dann legt er den Kohlestift beiseite und steht auf. Maga wartet vor dem ovalen Tisch.
»Magellan.«
»Maga.«
Sie stehen sich gegenüber, laufen wie auf einen Befehl rechts um den Tisch herum und stehen sich im selben Abstand wieder gegenüber. »Zwei Wölfe«, sagt Magellan und holt sich einen Stuhl von einem der Stapel. »Nimm dir auch einen.« Maga zieht eine Kiste aus dem Eck und setzt sich drauf. Magellan zwirbelt langsam das linke Ende seines Schnauzers. »Wo sind deine Leute?«
»Tot«, sagt Maga. Er nickt.
»Das musste ja mal so kommen.«
»Ein Orkan, westlich von Trondheim. Von unserem Schiff blieben nur noch Trümmer. Auf einem lag ich, der Rest ist mit meinen Leuten und der Mannschaft verschwunden.«
»Das Meer wird uns alle holen. Auf die eine oder andere Art.«
»Weise Worte bringen uns nichts.«
»In der Tat. Es gibt zwei Möglichkeiten, Maga. Entweder ich lasse dich und den Jungen mit einem Beiboot auf der Höhe von Hull von Bord und du schaust zu, wie du quer durch England zu unseren Freunden nach Blackpool kommst …«
»Oder?«
»Oder ich nutze die Gelegenheit, beende ein Geschäft in Portsmouth, lasse euch beide von Bord und ihr nehmt von dort ein Schiff nach Galway.«
»Diese zweite Möglichkeit wird mich eine weitere Kleinigkeit kosten?«
»Eine Kleinigkeit nur.«
»Was?«
»Die schwarzen Platten, mit denen du Strom erzeugst. Meine sind alt und fast hinüber. Ich brauche Strom für die beiden Scheinwerfer.«
»Ich habe drei. Zwei kann ich dir geben.«
»Und wenn wir uns wiedersehen, noch zwei.«
»Einverstanden.«
»Noch ein Rat umsonst: Du solltest den Norden Englands zukünftig meiden. Dort wirst du gesucht. Es war nicht klug, den Sohn des größten Händlers zu töten, der dort die besten Geschäfte mit dem Orden macht.«
»Mich anzufassen, war ebenfalls nicht sehr klug.«
»Davon kann ich ein Lied singen«, presst Magellan leise hervor. Magas Lächeln lässt ihn frieren.
»Eins noch, alter Freund … lass den Jungen in Ruhe.«
»Was bedeutet er dir?«
»Er ist nur ein Geschichtenerzähler.«
Magellan hebt beide Hände abwehrend. »Vergiss, was ich gefragt habe. Eines aber musst du wissen. Wir haben einen der Ordensmänner an Bord. Auf jeder Fahrt, auf jedem Schiff zwischen England und Norwegen. Sie zahlen, wir nehmen sie mit. Hin und zurück. Immer wieder. Sie suchen jemand.«


»Die Regeln sind bekannt. Ich will Ruhe am Tisch. Zwei Tage ohne Essen, wer sich nicht daran hält.« Magellan setzt sich. Auf dem Tisch stehen ein großer Topf Wurzelpüree und ein Hammel auf einer gußeisernen Platte, zerlegt in viele Teile, über Feuer krustig gebraten. Kaum einer der Gäste kann an sich halten. Vier Männer und eine Frau, die neben Maga sitzt. Rechts von Magellan hat Buch seinen Platz. Setz dich neben mich, sagte der vor dem Essen und bedachte Maga mit einem freundlichen Nicken. Die zwei Solarmodule weiß er bereits in seinem Besitz.
»Kann losgehen«, sagt Magellan, greift nach einer Hinterkeule und beißt kräftig hinein. Buch nimmt sich Wurzelpüree, schaut immer wieder zu Maga, doch sie hat kein Auge für ihn. Ihr Blick ruht auf dem Mann rechts von Buch, ein Rothaariger. Er holt sich ein Stück Rippe. Am Mittelfinger ein silberner Ring. Das Schmatzen wird zu einem wilden Durcheinander. Kaum jemand benutzt Gabel oder Löffel. Bis auf Buch und Maga. Sie sieht nur den roten Umhang, das Kreuz auf dem Ring. Reste von Wachs kleben daran. Ein Siegelring. Langsam löffelt sie das Wurzelpüree. Es schmeckt wirklich gut. Sie nickt Buch zu, der dankbar ihren Blick auffängt und kurz lächelt. Maga beißt in ein Rückenstück und begegnet einem schnellen Blick des Rothaarigen, der sofort wieder auf den Teller schaut, verhalten rülpst und Buch angrinst. Nur Ihretwegen kann er an Bord dieses Schiffes sein, aber auf keinen Fall wissen, ob oder wann Maga in Kristiansand auftaucht. Ewiges hin und her fahren. Ewiges Warten. Um ihrer habhaft zu werden. Was für ein außergewöhnlicher Aufwand. Sie schaut ihn kauend an, steckt einen Löffel Püree in den Mund.
Buch mustert die anderen Passagiere, legt sich die Worte zurecht, hat eine Geschichte ausgewählt, die zu einer Seereise passt. Er hat sich satt gegessen, wischt mit einem Tuch über Mund und Hände, dann lehnt er sich zurück. Am Tisch zu schweigen, ist eine angenehme Erfahrung, findet er und will das unbedingt dem Kapitän mitteilen, verkneift sich gerade noch die Worte und trinkt einen Schluck Wasser. Nach dem Abstellen des Bechers spürt er eine kräftige Hand auf dem Rücken.

»Ich denke, es wird Zeit für deine Geschichte.« Buch nickt. »Meine verehrten Gäste, der junge Mann hier wird uns jetzt eine Geschichte erzählen, denn das ist sein Handwerk. Er ist Geschichtenerzähler, und wie ich hörte, ein sehr begabter. Nach wie vor gilt die Regel des Schweigens. Nur der Kleine hier darf sprechen.«
»Danke«, sagt Buch und nippt noch einmal am Wasser, sieht die Menschen am Tisch der Reihe nach an. »Ich weiß, dass diese Geschichte eine besondere sein wird. Meine längste bisher. Ich habe sie aus einem Buch das ‚Ins Herz der Finsternis‘ heißt. Sie handelt von den Erlebnissen eines Menschen, namens Charlie Marlow, der zurückblickt auf eine Reise mit dem Schiff, wie wir sie jetzt tun. Auch Charlie Marlow war einmal ein Kind, und als solches hat er sehr gerne Landkarten betrachtet und sich vorgestellt, in der Welt unterwegs zu sein. Wie Kapitän Magellan, wurde er ebenso ein Kapitän und war an vielen Orten der Welt, doch der Hunger nach dem letzten, noch nicht bewältigten Abenteuer konnte er nicht stillen. Eine Frau, die er seine Tante nennt, kann ihm helfen und er bekommt das Kommando auf einem Schiff, dass man Dampfboot nennt und einen großen, sehr großen Fluss tief hinein in den afrikanischen Kontinent befährt. Der Fluss heißt Kongo. Charlie Marlow muss den Mann besuchen, dem das Schiff gehört. Solch einen Mann nennt man Reeder und er wohnt in einer Stadt, die Brüssel heißt. Der sagt, der ehemalige Kapitän ist erschlagen worden von Eingeborenen. Das sind wohl Menschen, die auf diesem Kontinent wohnen.«
Buch trinkt und Magellan schenkt ihm nach.
»Danke, Kapitän. Weiter geht es. Auf Seite 21 im Buch steht: ‚Die Küste vor mir war fast gestaltlos, als befände sie sich noch im Werden, ein Anblick von eintöniger Grimmigkeit.‘ Charlie Marlow fährt auf einem französischen Dampfer nach Afrika. Mit ihm auf dem Schiff sind viele Menschen die Soldaten heißen oder Zollbeamte. Sie machen Halt an verschiedenen Stationen entlang der Küste. Nach 30 Tagen sind sie am ersten Ziel und er wechselt auf ein kleines Dampfschiff, um flussaufwärts zur ersten Station zu gelangen. Sie gehört dem Reeder in Brüssel. Es ist ein wenig einladender Ort, trostlos. Schwarze Menschen, die beim Bauen einer Eisenbahnlinie helfen – ich habe in einem anderen Buch gelesen, was das ist – arbeiten dort bis zum Umfallen. Manche liegen wie gestapelte Getreidesäcke übereinander und sterben. Niemand interessiert es. Auf Seite 28 steht: ‚Sie starben langsam – das war ganz klar. Dies waren keine Feinde, keine Verbrecher, sie waren nichts Irdisches mehr, nur noch schwarze Schatten der Krankheit und des Hungers, die durcheinander im grünlichen Schatten lagen.‘ Charlie Marlow begegnet einem Mann, der Prokurist genannt wird, was wohl sein Handwerk ist und der für den Reeder die Bücher führt. Er riecht gut und hat schöne Kleider. Der Prokurist erzählt von einem anderen Mann, der Kurtz heißt und einem letzten Außenposten des Reeders vorsteht. Etwas, das man Elfenbein nennt und besonders wertvoll ist, kommt von dort. Und dieser Kurtz ist derjenige, der am meisten davon liefert. Die Eingeborenen bekommen dafür nur schlechte Dinge, die sie nicht gebrauchen können oder völlig kaputt sind. Meine Mama würde sagen, sie werden übers Ohr gehauen. Charlie Marlow möchte unbedingt zu Kurtz. Das sind ungefähr 200 Meilen. Es heißt Karawane und besteht aus 60 Menschen, bestimmt Schwarze, die alles mitschleppen, was man dafür braucht. Und in diesem Afrika ist es ganz besonders heiß. Nur ein weißer Mann reist mit, der sehr schwer ist und der die Mühe auf sich nimmt, um reich zu werden. Als sie endlich am großen Handelsposten ankommen und die Reise auf dem Kongo mit einem Schiff fortsetzen wollen, ist da kein Schiff. Es ist gesunken. Aber Charlie Marlow lässt es aus dem Wasser ziehen und reparieren. Es dauert drei Hellmonde. Nichts funktioniert dort, wo sie jetzt sind. Alle und alles lebt einfach so in den Tag hinein. Doch Charlie Marlow hört zum ersten Mal mehr über Kurtz. Auf Seite 50 steht: ‚Schätze aus den Eingeweiden des Landes zu reißen, war ihr Wunsch, ohne einen anderen moralischen Anspruch als den eines Einbrechers, der einen Tresor knackt.‘ Das soll Kurtz gesagt haben und der Mann sagt, dieser Kurtz sei ein Genie, denn er könne einfach alles. Malen und besonders gut reden und er hat Visionen, was wohl so was wie Träume am Tag sind. Charlie Marlow freut sich darauf, Kurtz kennen zu lernen.«
Buch trinkt zwei große Schluck Wasser, räuspert sich und stellt fest, dass ihm alle gebannt zuhören.
»Endlich ist das Schiff repariert und es geht los. Einige weiße Passagiere fahren mit, um viel Geld zu verdienen. Aber das Fahren auf dem Fluss ist sehr gefährlich. Der Urwald zu beiden Seiten des Flusses, er besteht aus unzähligen großen Bäumen und ist immer grün, ist stumm und bedrohlich, nichts regt sich, nichts ist zu sehen. Die Passagiere bekommen mehr und mehr Angst. Nachts hört man Trommeln. Eines Tages entdeckt Marlow am Ufer eine verlassene Hütte. Davor liegt ein Stapel Feuerholz für den Dampfkessel des Schiffs und eine papierne Nachricht mit der Bitte, sich zu beeilen und ja vorsichtig zu sein. Und Marlow findet ein Buch über Seefahrt, das schon oft gelesen wurde und über und über mit seltsamer Schrift beschrieben wurde. Er nimmt es mit. Dann gelangen sie in einen engen Kanal. Sie ankern und übernachten in der Mitte des Kanals. Am nächsten Morgen ist undurchdringlicher Nebel über dem Fluss, wie vor dem Winter im Fjord. Und plötzlich prasseln Pfeile auf das Schiffsdeck. Kleine Holzstöcke mit Spitzen. Sehr gefährlich. Sie kommen aus dem undurchdringlichen Wald. Niemand kann etwas sehen. Die weißen Männer an Bord schießen blind zurück. Der schwarze Rudergänger wird von Pfeilen getroffen und stirbt. Charlie Marlow wirft die Leiche kurzerhand über Bord und fährt selbst weiter. Immer noch fliegen Pfeile. Dann drückt er auf einen Hebel und etwas was Schiffshorn heißt, macht so laute Geräusche, dass der Pfeilregen sofort aufhört. Die Eingeborenen werden sich erschreckt haben.«
Buch muss husten. Der Kapitän klopft so fest auf Buchs Rücken, dass er fast mit der Nase auf dem Tisch landet. Ruckartig richtet er sich auf, trinkt den Becher leer und fährt fort.
»Endlich sind sie am besagten letzten Außenposten und werden von einem jungen Mann empfangen, der als Russe bezeichnet wird und sicher aus dem Land Russland kommt, das es einmal gegeben hat. Dieser junge Mann hat das Buch beschrieben, das Marlow gefunden hat. Die Notizen sind in kyrillischer Schrift. Der junge Mann sagt, Kurtz habe ihn verjagt, aber weil er so an Kurtz hängt und fast für eine Art Gott hält, sei er wieder zurückgekommen, um ihn zu pflegen, denn Kurtz sei sehr krank gewesen. Und Kurtz habe tagelang geredet, über alles, was es auf dieser Welt gibt. Er sei ein Genie. Deswegen würden alle Eingeborenen, die schwarzen Männer, Kurtz folgen. Egal wohin. Der junge Mann will Marlow und die anderen Männer zu Kurtz Hütte führen und Marlow schaut durch ein Fernglas – ein Glas, mit dem man sehr weit gucken kann – zu der Hütte und sieht abgehackte Menschenköpfe auf Holzpfähle gesteckt. Dieser Kurtz ist so groß wie der liebe Tausch, der schon lange tot ist. Zwei Meter groß, sagt Marlow. Und er sei so voller Gewalt, dass ihn alle schwarzen Menschen dort fürchten und ehren gleichzeitig. Marlow bringt Kurtz aufs Schiff. Er ist sehr schwach, kaum noch der, von dem berichtet wurde, doch seine Stimme ist immer noch Ehrfurcht gebietend. Ich weiß nicht warum, aber Kurtz wusste, dass jemand wie Marlow kommt und hat ihm alle Papiere gegeben, die er beschrieben hat und die Marlow niemals mehr hergeben wird. Und es gibt noch eine große Gefahr. Kurtz hat den dort lebenden Menschen befohlen, das Schiff anzugreifen. Deshalb tönen nachts wieder die Trommeln. Charlie Marlow entdeckt, dass Kurtz verschwunden ist und sieht ihn bei den Lagerfeuern. Er bringt den todkranken Mann zurück aufs Schiff. Am nächsten Tag legen sie endlich ab. Alle Schwarzen kommen zum Ufer. Mit dabei auch ihre Königin. Marlow zieht wieder am Hebel für die Dampfpfeife und die Schwarzen bekommen Angst und laufen weg. Nur die Königin nicht. Auf der Rückfahrt redet Kurtz in Fieberträumen von Reichtum und Ruhm, doch bald darauf stirbt er. Seine letzten Worte sind: ‚Das Grauen! Das Grauen!’«
Buch schweigt und lehnt sich zurück, trinkt einen ganzen Becher Wasser und sieht in die Runde. Stille am Tisch. Nicht mal Atemgeräusche sind zu hören. Magellan sitzt da mit geschlossenen Augen, beide Arme vor der Brust verschränkt. Buch lächelt.


Die rechte und die linke Hand des Kapitäns setzt bedächtig einen Fuß vor den anderen, prüft mit den Sohlen die Planken, den Knoten eines Taus, blinzelt in die Sonne. Der Wind ist kräftiger geworden. Buch steht neben Martin und sucht nach den Umrissen einer Küste. Nichts ist zu sehen. Wasser auf allen Seiten bis zum Horizont. »In mir ist ein dunkles Loch«, sagt er in den Wind. »Es ist nicht, weil jemand gestorben ist, dem ich vertraut habe. Das Loch ist das viele Wasser um mich herum. Gibt es denn überhaupt kein Land mehr? Wie groß ist das Meer?«
»Ganz genau weiß ich das nicht«, erwidert Martin, »aber ich verwette meinen Bart, dass es wesentlich mehr Wasser gibt als Land.«
»Nichts kann uns hier retten. An nichts können wir uns festhalten.«
»Wo du recht hast, hast du recht. Aber Angst hilft nicht weiter. Ich bin seit langer Zeit auf diesem und anderen Schiffen und lebe immer noch.« Andere leben nicht mehr, denkt Buch. Stattdessen wirft er einen Blick auf den Kompass. Der schwarze Pfeil zeigt auf die Zahl ‚200‘, ist jedoch unruhig, mal etwas links, dann wieder rechts davon. Das muss der Wind sein, der versucht, das Schiff vom Kurs abzubringen. Buch schaut zu Martin, der die Nase am Ärmel abwischt und wie ein Fels vor dem Steuerrad steht.
»Wenn du Angst hast, hilft es vielleicht, jemandem zu vertrauen, der größer ist als wir alle.« Martin verdreht die Augen und Buch dreht sich um. Die Geräusche von Dünung, Wind und knarzendem Holz erlauben es, dass sich jemand unbemerkt nähert. Das gefällt Buch nicht. Es ist der Passagier mit dem Ring. Der dunkelrote Umhang endet knapp über den Planken. Zwei lange und an den Handgelenken sehr weit genähte Ärmel sind die einzige Auffälligkeit.
»Ich vertraue Martin«, sagt Buch.
»Eine gute Wahl. Doch manchmal kommt man in Situationen, da genügt es nicht, auf einen Menschen zu vertrauen, denn es ist eben nur ein Mensch. Und Menschen haben Schwächen.«
»Lasst mich in Ruhe arbeiten«, fordert Martin. »Geht woanders hin!«
»Natürlich. Komm, Buch, wir gehen zum Vordeck. Da können wir reden.« Der Mann schiebt Buch Richtung Treppe. Er ist kräftig. Sein Umhang flattert im Wind.
»Reden? Über was sollen wir denn reden?«
»Ich möchte mich mit dir über deine Geschichte von gestern Abend unterhalten. Da schwirren noch so viele Fragen in meinem Kopf.«
»Na gut«, gibt Buch nach. »Gehen wir zum Vordeck.« Er sucht Maga, entdeckt sie aber nicht. Vielleicht schläft sie, ruht sich aus. Es ist wichtig, dass Maga sich ausruht. »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Ich bin ein Ordensmann und heiße Augustin.« Dieser Augustin schiebt Buch immer noch vor sich her, die Treppe runter, übers Mitteldeck, unter den Segeln durch, vorbei an Männern, die Planken schrubben, Taue aufrollen oder einen Becher Wasser trinken. Als sie ankommen, lockert sich der Griff, Augustin zieht beide Hände zurück und steckt sie jeweils in den Ärmel des anderen Arms. Nur das Gesicht ist noch zu sehen, doch Buch spürt noch den Händedruck auf seiner Hüfte. Ein dunkles Loch öffnet sich in seinem Inneren und er weiß nicht warum. Vielleicht das, was Bestemur Angst nannte.
»Eine ganz wunderbare Geschichte war das«, sagt Augustin. »Und du bist ein sehr guter Erzähler. An den richtigen Stellen Pause machen, die Stimme heben oder senken, lauter, leiser werden, du hast schon viel Übung.«
»Danke«, sagt Buch und wartet, was nun kommt.
»Ich habe dieses Buch übrigens auch gelesen. Einige Dinge hast du weggelassen. Warum?« Buch staunt. Mitten auf dem Meer trifft er auf einen Menschen, der dieselbe Geschichte gelesen hat. Ob er die Wahrheit sagt? Oder lügt, um Buch in Sicherheit zu wiegen?
»Manche Dinge wegzulassen, macht Sinn. Um sie in ihrer Gänze zu verstehen, müsste ich noch von der untergegangenen Welt erzählen. Das wollen viele Menschen gar nicht hören, es interessiert sie nicht. Außerdem wäre ich nach zwei Tagen immer noch nicht fertig.«
»Das stimmt«, grinst Augustin. »Eine sehr pragmatische Einstellung.« Buch weiß nicht, was das ist, aber er wird sich das Wort merken und mit Maga drüber reden.
»Was ist denn nun mit dem Größeren, dem man immer vertrauen kann?« Augustin nickt anerkennend, stülpt die Lippen vor.
»Nur keine Zeit verlieren, was? Das mag ich. Direkt zum Ziel kommen.« Buch denkt daran, dass er dem Koch versprochen hat, das Lamm mit Wurzeln und Zwiebeln zu füllen. »Ich rede von Gott. Nicht von irgendeinem Gott, sondern vom DEM Gott. Er ist der Größere. Der, dem man immer vertrauen kann.«
»Ich habe davon gelesen. Aber auch, dass es viele Götter gegeben hat, nicht nur einen. Sogar die Namen habe ich …« Augustin zieht schnell die Hände aus den Ärmeln, hebt sie von sich weg, die Handflächen knapp vor Buchs Gesicht, der hastig zurückweicht.
»Sprich nicht die Namen dieser Möchtegern-Götter aus, denn es sind keine Götter! Du beleidigst nur den Namen des einen, wahren Gottes.«
Buch runzelt die Stirn. »Und der ist?«
»Du bist einfältig. Es ist Gott! Sein Name ist Gott!«
»Also ist Gott ein Ding und trägt den Namen Gott. Name und Ding sind ein- und dasselbe. Wie Schiff oder Pferd.« Der Ordensmann starrt Buch an. Doch Buchs Gesicht ist sehr ernst. »Aber weder ein Schiff noch ein Pferd sind größer oder kleiner als andere Dinge«, fährt er fort und überlegt. »Sie haben einen Zweck. Einen Sinn. Wir geben ihnen einen Sinn. Indem wir dem Pferd unsere Lasten aufladen, bekommt es den Sinn eines Trägers. Ich sehe das Pferd und den Sinn. Jetzt musst du mir sagen, wo es dieses Ding namens Gott gibt, der noch weitaus größer ist. Erzähl mir etwas über seinen Zweck. Den Sinn.« Aus dem Abgang der Stiege zur Kombüse kommen laute Flüche. Etwas scheppert, ist offensichtlich auf den Boden gefallen. Augustin geht an Buch vorbei zur vorderen Reling unter der ein kurzer Holzstamm angebracht ist und wie eine Nase aus dem Rumpf ragt. Immer in die Richtung, in die gesteuert wird. Über ihnen sind zwei dreieckige Segel, straff gespannt vom Wind.
»Hat dir noch niemand etwas vom einen Gott erzählt? Nicht deine Mutter? Nicht dein Vater?«
»Nein.« Buch schüttelt den Kopf. »In vielen Büchern steht etwas über Gott oder Götter. Auch Bilder habe ich gesehen, von Menschen gemalt. Götter in fernen Ländern, die es heute nicht mehr gibt …«
»Genug!« Augustin dreht sich zu Buch. »Ich will nichts mehr hören. All das nennen wir Blasphemie. Wir bestrafen die Menschen, wenn wir diesen Dingen begegnen. Du bist ein junger Mann und kennst es nicht anders. Ich darf dir verzeihen und statt einer Strafe anraten, ein Buch zu lesen. Wenn du es gelesen hast, wird es in deinem Leben kein anderes mehr geben, als dieses. Das einzige Buch. Das verspreche ich dir.« Augustin umkreist Buch, geht auf ihn zu, bis der die Reling im Rücken spürt und Augustins Atem im Gesicht. An dessen Ohr vorbei entdeckt Buch Maga die Stiege heraufkommen. Schnell und leise wie die Stille der Nacht. Buch ahnt, was passieren wird. Ist Maga schnell wie der Wind, dann … Augustins Gesichtszüge frieren ein, Magas Hand presst den geöffneten Mund zu, er fällt gegen Buch. Etwas drückt zwei oder drei Mal gegen Augustins Rücken. Dann sackt er zusammen, doch Maga ist schneller, mit einem Schwung unter ihm, stemmt den Körper hoch und wirft ihn über die Reling. Nichts ist zu hören, das Klatschen der Wellen gegen den Bug viel zu laut. Buch sieht ein Messer, rot bis zum Schaft. Maga wirft es ins Wasser.
»Es wird Zeit, dem Koch zu helfen. Komm, gehen wir nach unten«, sagt sie. Buch zittert. Kein Loch ist entstanden. Dafür gleicht das Zittern einem Sturm.


Blutige Hände erzählen immer eine Geschichte, denkt Buch. Und wenn diejenige diese Geschichte nicht erzählen will, dann hilft sie, ein Lamm zu schlachten. Aus Menschenblut an den Händen, wird Blut des Lamms. Die eine Wahrheit mit einer anderen zudecken. Das macht Sinn. Magas Hände sind wieder sauber, gewaschen in einer Schale Wasser. Die Passagiere sitzen am ovalen Tisch. Nicht alle. Der Kapitän hat das Reden heute erlaubt. Für sich selbst. Alle anderen essen Lammbraten und hören schweigend zu.
»Wie es aussieht, haben wir einen Esser weniger«, ist das erste was er sagt. »Nun, bezahlt ist die Überfahrt und vom Lamm bleibt mehr für den Rest von uns.« Niemand erwidert etwas. Er schaut zu Maga und nickt, dann zieht er ein großes Stück Fleisch vom Braten und beißt hinein. Das Essen hat begonnen. Buch und Maga kauen still. Der Platz neben Buch ist leer und keiner der Anwesenden bricht die Regel, um nachzufragen, wohin der Mann mitten auf dem Meer verschwunden ist. Es schmeckt hervorragend. Der Koch versteht sehr viel von seinem Handwerk.
»Frischer Pfeffer aus Genua«, sagt der Kapitän und riecht an der Kruste. »Wer von euch war schon mal in Genua? Antwortet, ohne etwas zu sagen.« Wieder fixiert er Maga länger als üblich. Buch ahnt, dass Maga schon in Genua war. Und dass der Kapitän weiß, was mit Augustin passiert ist, liegt ebenso klar auf der Hand. Keiner der anderen Passagiere reagiert. Sie essen. Oder trinken. Buch denkt an die erste Reise mit Bestemur. In die Stadt. Jedes Stückchen Weg war neu, noch nie von ihm beschritten. Und so ist es hier. Maga und Magellan kennen sich. Sie weiß einiges über ihn und umgekehrt. Buch muss sich zurechtfinden in dem was zwischen beiden existiert.
»Seit ich mich Magellan nenne, hat mich noch niemand gefragt, warum und wieso dieser Name. Meinen vorigen Namen habe ich vergessen, so unwichtig war er. Magellan jedoch ist gleich dem Nordstern. Für uns Seefahrer ist er der, dem wir nachstreben, der uns leitet. Er war der erste, der die Welt umsegelt hat.« Der Kapitän zuckt mit den Schultern und zieht den Kopf ein. »Zumindest versucht hat er es. Seine Mannschaft hat Magellans Werk vollendet. Er wurde unterwegs getötet. Aber das tut der Sache keinen Abbruch. Zum ersten Mal die Welt umsegelt. Ich wünschte manchmal, ich würde das tun.« Er räuspert sich. Buch kann sich nur schwer die Worte verkneifen. Maga fixiert ihn eindringlich. »Ich kann allen Anwesenden nur empfehlen, etwas über Ferdinand Magellan zu lernen. Es könnte euer Leben besser machen.« Buch beißt sich auf die Lippen. Zu jedem Satz möchte er etwas erwidern, Sinn und Unsinn darin finden, aber er lässt es sein. Der Kapitän beißt wieder ins Fleisch, kaut langsam und mit halb geöffnetem Mund. Fleischsaft rinnt aus den Mundwinkeln. »Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht genau, wann Magellan gelebt hat. Noch in der alten Welt jedenfalls.« Er legt das Lamm aus der Hand, wischt sich am Wanst ab und trinkt einen großen Schluck Wasser, zieht aus einer Innentasche seiner Weste eine kleine Flasche, schraubt den Verschluss ab und trinkt sie leer. Buch riecht Schnaps. Ein Rülpser folgt. »Unser junger Geschichtenerzähler weiß doch sicher etwas über Ferdinand Magellan, nicht wahr?« Buch schweigt. Zwei Tage ohne Essen ist keine schöne Vorstellung. »Ach ja, ich vergaß«, sagt der Kapitän. »Niemand darf reden.« Er nickt Maga zu, steht auf und verlässt den Raum. Sie folgt ihm und Buch weiß nicht, welchen seiner Gedanken er verfolgen soll. Nichts mehr macht Sinn.


Magellan jagt den Koch aus der Kombüse. Maga lässt ihn vorbei und betritt den stickigen Raum. Sie setzt sich auf den Tisch und lässt die Beine baumeln. Ein paar Wurzeln rollen in einem Topf von einer auf die andere Seite, halten inne und den selben Weg zurück. Drei aufgehängte Töpfe schlagen gegeneinander. Magellan hängt sie ab, nimmt eine Pfanne, dreht sie und legt sie beiseite. Er kommt um den Tisch herum, lehnt sich neben Maga.
»Du hast mich in eine brenzlige Lage gebracht. Nichts dagegen, den Kerl über Bord zu werfen, aber ausgerechnet auf meinem Schiff? Er wäre mit euch von Bord gegangen. Mit Sicherheit. Du hättest ihn an Land erledigen sollen.«
»Sie hätten ihn gefunden oder jemand etwas gesehen. Immer dann, wenn etwas klappen muss, geht es schief. Nein! Das war schon richtig so.«
»Und der Junge?«
»Der Junge steht außerhalb von allem. Unter meinem Schutz. Er ist harmlos.«
»Wie es aussieht, hat er ein Gedächtnis wie zehn von uns zusammengenommen.«
»Er hat keine Gefühle. Aber dafür einen Kopf, wie ich noch keinen gesehen habe. Am Ende seines Lebens kann er noch genau wiedergeben, was du vorhin über Magellan gesagt hast.«
»Wort für Wort?«
»Wort für Wort.«
»Das ist mir nicht geheuer.«
»Er ist mir ans Herz gewachsen.« Magellan stößt sich ab und stellt sich ihr gegenüber. »Wie ein Sohn«, setzt Maga nach und blickt ihn an. Verwahrlost sieht er aus, stinkt nach Schnaps.
»Schau an. Mit mir wolltest du keine Kinder.«
»Du trinkst. Und wenn du getrunken hast, kennst du weder Freund noch Feind. Weder Frau noch Kind.« Magellan knurrt und setzt einen Fuß auf die unterste Stufe. Eine frische Brise kommt die Stiege herab.
»Das Wetter trübt sich ein. Könnte eine unruhige Nacht werden. Morgen früh sind wir in Portsmouth. Ich werde dich und den Jungen vor der Isle of Wight von Bord lassen. Zwei Mann von der Mannschaft gebe ich dir mit. Sie rudern euch nach Ventnor. Von dort fährt eine Händlerin nach Galway. Gib ihr genug Gold, und sie fährt direkt. Sie heißt Cromwell, besitzt eines dieser elektrischen Schiffe und hat genug Gründe, die Ordensmänner zu hassen. Ich will nicht sagen, dass du dich auf sie verlassen kannst, aber Cromwell ist dicht in meinem Fahrwasser.« Maga lässt sich vom Tisch gleiten, stellt sich vor Magellan und küsst ihn auf die Stirn. »Ich wecke dich um Schlag vier«, sagt er leise. »Und Maga … die beiden von der Mannschaft sind Schwachköpfe und die Heuer nicht wert. Ich brauche sie nicht mehr. Und du brauchst keine Zeugen.« Sie nickt. In seinen Augen entdeckt sie ein Schimmern. Er hat noch nicht genug getrunken.
»Ich danke dir, Magellan. Wir werden uns wiedersehen.«
»Ich weiß nicht, ob das so gut ist für mich und mein Geschäft. In Portsmouth muss ich erklären, wohin der Ordensmann verschwunden ist. Es ist also besser, wenn wir uns …«
»Die Zukunft ist nicht festgeschrieben«, unterbricht sie ihn. »Also abwarten, Kapitän.« Maga geht zügig die Stiege hoch aufs Vordeck.

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