Paul und die Jungs | Kapitel 10

Versuche

Ich bin ein Totalausfall. Mental zumindest. Alles Gequatsche aus Richtung Lehrerpult geht in mein rechtes Ohr rein und zum linken wieder raus. ‚Hast mal wieder auf Durchzug gestellt‘, wie Mutter ab und zu anmerkt. Das einzige Geräusch in meinem Schädel ist das Klingeln des Telefons. Das bisher fehlende Klingeln des Telefons. Vorgestern hatte ich angerufen. ‚Gib Katharinas Eltern Zeit‘, hat Mutter gesagt. Was kann an dieser Entscheidung so schwer sein? Wir sind ja keine verwahrlosten Gestalten, denen man seine Tochter nicht anvertrauen kann.
»Herr Konstantin?«
Gestern habe ich mich noch nicht mal dazu durchringen können, Jürgen zu besuchen. Nach Hause, aufs Bett, an die Decke starren. Als Paul mit Vater kurz vor dem Abendessen nach Hause kam, war er total kaputt. Früh aufgestanden, den ganzen Tag durch einen Metro laufen, alles aufmessen, Regale zählen, Toiletten, Waschräume, Büros. Nach zwei Scheiben Schwarzbrot ist er ins Bett gefallen. Vater war zufrieden mit ihm. Und ich mit einem Ohr immer Richtung Flur. Aber nichts.
»Herr Konstantin! Noch anwesend?«
Andi stößt mir den Ellenbogen in die Seite.
»Ich hab andere Sorgen«, erwidere ich.
»So so, andere Sorgen. Lassen Sie uns daran teilhaben. Geteiltes Leid ist halbes Leid.« Zwerenz, unser Politiklehrer. Unter ihm müsste jeder Stuhl zusammenbrechen, weil der Klügere ja angeblich nachgibt.
»Der Spruch war schon vor zweihundert Jahren scheiße«, sage ich und rotiere den Füller über vier Finger der rechten Hand.
»Mit der Nummer können Sie bestenfalls im Kinderzirkus arbeiten«, nickt er in Richtung meiner Jonglierkünste. »Aber für die harte Arbeitswelt da draußen taugt das nicht.«
»Dann werde ich eben Lehrer. Dafür wird es genügen.« Unterdrücktes Lachen aus unterschiedlichen Richtungen. Er reibt seinen Abraham-Lincoln-Bart und holt einmal tief Luft. Es wird mucksmäuschenstill in der Klasse.
»Ich möchte von Ihnen nur wissen, ob Sie sich inzwischen ein Thema für das Politik-Referat ausgesucht haben und mit wem Sie zusammenarbeiten. Mir fehlen noch Konstantin aus dieser Klasse, Rabenacker aus der ‚a‘, Lombardi und Petrović aus der ‚d‘. In zwei Wochen ist Projekttag.« Ach ja! Den vermaledeiten Projekttag habe ich total vergessen. Ich starre Zwerenz an. Er ahnt meine Gedanken und grinst. Es ist ihm sicher eine Genugtuung. Aber bin ich nicht momentan mitten in einem politischen Thema? Party hinter Mauern? Angst vor Entdeckung?
»Logisch habe ich ein Thema, Herr Zwerenz. Wie wäre es mit ‚Die Kriminalisierung der Homosexualität‘? Wie finden Sie das?« Er hebt nicht den Kopf, dafür den Blick. Erinnert mich an die Unholde aus alten Schwarzweiß-Filmen, Licht von unten, um das Dramatische zu betonen.
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
»Nicht, dass ich wüsste. Könnte ich aber …« Gelächter. Kichern. Ich grinse breit. »Das Motto der Referate lautet doch ‚Aktuelle gesellschaftliche Konflikte in der BRD‘«, komme ich einer Erwiderung zuvor. »Und aus meiner Sicht ist das ein gesellschaftlicher Konflikt. Ich bin also ganz am Motto dran.«
»Da hat er recht«, sagt Andi. Zwerenz nickt. Nicht aus Einsicht. Es bedeutet lediglich, ihm ist klar, dass Andi zu mir hält und der Rest der Klasse auf ein Wortgefecht wartet. Er schaut auf die Wanduhr und presst die Lippen aufeinander. Stunde ist gleich um.
»Ich sehe zwar nicht, was an der strafrechtlichen Situation problematisch sein soll, aber wenn Sie eine schlechte Note kassieren wollen, bitte schön«, sagt er dann, öffnet das Klassenbuch und trägt das Thema der Stunde ein. Mit einer energischen Bewegung klappt er es zu und haut mit der flachen Hand drauf. »So! Also, Herr Konstantin, notieren Sie das Thema auf der Projekttafel in der Aula. Vielleicht finden Sie ja noch jemanden, den es interessiert. Wenn nicht, kann ich gleich die Sechs eintragen.« Ein süffisantes Lächeln folgt.
»Kein Problem, Herr Zwerenz. Da wird sich schon jemand finden.« Der Pausengong erlöst uns voneinander. Zwerenz packt zusammen und geht, sich seines kommenden Sieges sicher.


Das Schweigen des Telefons. Ob es kaputt ist? Ich rufe die Zeitansage an. Funktioniert. Also auflegen und ins Esszimmer. Es riecht gut und Andi hat schon gedeckt, sitzt brav auf dem Stuhl, den Löffel in der Hand. Mutter bringt den Topf. »Heute ist Milchreis-Tag. Bitte!« Kaum steht er auf dem Untersetzer, fallen wir drüber her. Zucker-Zimt in nicht zu geringer Menge drüber und los geht‘s. Bestünde das Leben doch ausschließlich aus Essen, es könnte so schön sein. Als Andis und mein Teller schon leer sind, hat Mutter noch zwei Drittel auf ihrem. Sie legt den Löffel weg.
»Sag mal, Heinrich, was hast du denn da bestellt? Heute Morgen kamen zwei wirklich große Pakete für dich. Der Paketbote hat sie mit einer Sackkarre vor die Tür gefahren. Sie stehen in Pauls Zimmer …« Ich bin wie elektrisiert. Andi schaufelt einen zweiten Berg Milchreis auf den Teller und räuspert sich lautstark. Warum habe ich mir da nicht vorher eine Ausrede einfallen lassen? Ganz ruhig den Löffel weglegen und Mutter anschauen.
»Das ist eigentlich für Andis Vater. Ein Geburtstagsgeschenk. Der sammelt doch so Militaria-Zeug. Orden, Bajonette, Uniformen und so was. Zwei so große Pakete kann Andi ja schlecht nach Hause liefern lassen.« Mutter nickt und hebt eine Augenbraue.
»Verstehe. Und deswegen hast du mir das anstelle von Andreas erklärt, weil ihm gerade nicht dieselbe Erklärung eingefallen ist wie dir?« Andis Gesicht wird rot wie eine Nebelschlussleuchte. Sein Kopf überhitzt offenbar gerade. Ich seufze.
»Na gut, das ist mein Zeug. Wir wollen Kurz eins auswischen.« Mutter fixiert Andi. Dann mich. Kein Platz für Ausreden. »Ich! Ich will Nazi-Kurz eins auswischen. Andis Vater hat Militaria-Kataloge. Da haben wir das Zeug gefunden und bestellt.« Sie trinkt einen Schluck Wasser und stellt langsam das Glas ab.
»Was habt ihr denn bestellt?« Andi und ich sehen uns an.
»Eine Wehrmachtsuniform«, gestehe ich leise. Sie schließt die Augen, lehnt sich an und sagt nichts. Das Telefon klingelt. Das Telefon klingelt?! Wie von der Tarantel gebissen springe ich auf. Der Stuhl kippt. Als er aufschlägt, bin ich schon im Flur und reiße den Hörer von der Gabel.
»Konstantin?«
»Ich bin’s, Katharina.« Ich habe Angst, dass mein Herz, einem hüpfenden Frosch gleich, aus meinem Mund springt und halte ihn lieber geschlossen. »Hallo? Heinrich?« Sag was, du Idiot!
»Ja! Ja, Katharina! Endlich rufst du an. Entschuldigung! Ich hätte nicht davonrennen sollen. Wirklich! Ich schäme mich.«
»Heinrich! Hör doch mal zu!«
»Okay, okay, ja, ich höre zu.«
»Gib mir mal bitte deine Mama.«
»Mama! Telefon!« Mutter kommt in den Flur, Andi im Schlepptau, der am Türrahmen stehenbleibt und sich anlehnt. Ich reiche den Hörer weiter. »Es ist Katharina.« Sie lächelt und lauscht in die Muschel.
»Hallo, Katharina.« Außer einem Gemurmel kann ich nichts hören. »Hab verstanden, Katharina. Dann gib mir mal deinen Papa.« Eine dunkle Stimme. Eindeutig die von Katharinas Vater. »Natürlich«, sagt Mutter, »das war ein Vorschlag meinerseits. Wir haben Platz und würden Katharina wie einen Augapfel hüten.« Die dunkle Stimme plappert pausenlos. Meine Knie werden weich. Ich muss mich setzen. »Ja, natürlich. Das verstehe ich«, sagt Mutter nickend. »Wissen kann man das nicht. Aber …« Wieder die Stimme. Warum unterbricht er Mutter? Ziemlich unhöflich. »Ja, natürlich. Wie? Ob das kein Weltuntergang ist, kann ich nicht beurteilen. Ich bin nicht unsere Kinder. Es ist deren Leben. Und sie sind alt genug, um das zu lernen.« Jetzt ist die Stimme auf der anderen Seite lauter. Mutter verdreht die Augen und ich will gar nichts mehr sehen, drücke den Kopf in beide Handflächen. Das läuft ganz und gar nicht gut! »Nun, mein Vorschlag wäre gewesen, dass Sie uns besuchen, um sich ein Bild machen zu können. Wie?« Mutter bekommt große Augen und runzelt die Stirn. »Dazu kann ich nichts sagen.« Jetzt kann ich Katharinas Vater fast verstehen. »Also, Herr … hören Sie! Das müssen Sie Ihre Tochter fragen. Nein. Garantieren kann ich das nicht und Sie ebenfalls nicht. Dabei geht es um Vertrauen.« Sie presst die Handfläche auf die Muschel und seufzt. »Ist gut. Das habe ich verstanden«, sagt sie dann. »Vielleicht überlegen Sie es sich ja noch. Ja, vielen Dank. Ihnen auch. Wiederhören.« Es klickt leise. Das Spiralkabel verdreht und es wird still im Flur. Wir sehen uns an. Andi gesellt sich zu uns.
»Was war denn los?«


Mutter macht Tee und Andi sitzt auf der Couch, blättert in einem Bildband über die Ostküste der Vereinigten Staaten, den uns Mutters Schwester aus North Carolina letztes Weihnachten geschickt hat. Die dampfende Tasse stellt sie langsam auf den Untersetzer, nimmt ächzend Platz, als wäre sie schon kurz vor der Rente. Sorgfältig tunkt sie den Teebeutel wieder und wieder ins Wasser. Dann lässt sie ihn los und sieht mich an.
»Ich sehe Probleme kommen, Heinrich. Du auch?«
»Das eine oder andere …«
Noch mal der Teebeutel. Es ist ein Earl Grey. Etwas Milch ist schon in der Tasse.
»Da ist Paul mit seinem Berg an Problemen und er ist in dich verliebt …« Ich sehe Andis Ohren größer werden. Verdammt! Heute geht aber auch alles schief. »Da ist Katharina«, fährt Mutter fort. »In dich verliebt, aber sie zieht weg. Da bist du, beide Probleme vor der Nase. Das trifft dich. In der Schule, hier zuhause, es beeinflusst dein Leben, deine Entscheidungen, das, was du fühlst und denkst. Du bist voller Tatendrang und Ideen, wie wohl alle in deinem Alter.« Sie schaut an mir vorbei zu Andi. »Stimmt’s nicht, Andreas?«
»Joa, fast. Ich lass das eher alles auf mich zukommen«, sagt er und blättert um. Mutter grinst.
»Nicht alle gehen die Dinge so pragmatisch an wie du«, erwidert sie. »Vor allem Heinrich nicht.«
»Da ham sie recht, Frau Konstantin. Dass er nicht alles so ernst nehmen soll, predige ich andauernd.« Ich atme genervt ein, tief und deutlich hörbar.
»Ich bin froh, wenn er das mit Paul und Katharina ernst nimmt, denn es sind ernste Probleme. Aber sie zu lösen, geht nicht ohne Erfahrung. Manches Problem lässt sich aber nicht lösen. Weil es nur für eine Seite ein Problem ist und für die andere Seite lediglich eine Entscheidung …«
»Du meinst das mit Katharina, nicht wahr? Ihr Vater hat ‚Nein‘ gesagt, stimmt’s?«
»Ja, Heinrich. Er hat den Vorschlag abgelehnt.«
»Warum?« Mit vier Fingern ihrer rechten Hand klopft sie einen Takt. Worte suchen …
»Einen Grund, den er nannte, ist, dass er denkt, es käme sicher dazu, dass ihr beiden miteinander Sex haben werdet, und wir das nicht immer kontrollieren können.«
»Das haben wir jetzt schon. Niemand kann es kontrollieren.« Mutter nickt und schlürft einen Schluck Schwarztee.
»Das ahnt er vielleicht. Mir scheint, da geht es um die Angst vor Kontrollverlust, dazu wenig oder kein Vertrauen. Ich kann dir sagen, Heinrich, für Eltern ist das eine ziemlich schlimme Phase. Du hast gesagt, sie ziehen nach Oberkochen. Das ist am Ende der Welt. Sicherlich fünf Stunden Fahrt. Dieses Gefühl, das, was man von klein auf behütet hat, so urplötzlich irgendwo zurückzulassen, ist ziemlich schmerzhaft. Und sie ist noch nicht mal volljährig.«
Es hält mich kaum auf dem Stuhl. Am liebsten würde ich jetzt mit Katharina durchbrennen. Dann kann er seine Tochter für immer abschreiben! »Ihr vertraut mir doch auch«, begehre ich etwas lauter auf. »Katharina nimmt die Pille. Demnächst werden wir siebzehn.« Mutter hebt die Hand, legt den Zeigefinger an die Lippen.
»Er nannte noch einen zweiten Grund. Bis zum Abitur sind es noch etwas mehr als zwei Jahre. Zwei Jahre, in denen sie hier wohnt. Er fragt sich, ob ihr euch nicht in dieser Zeit trennt. Streitet. Auseinanderlebt. Euch auf den Geist geht. Dann ist sie hier ein Zimmer weiter und muss doch nach Oberkochen, wieder eine neue Schule, sich dort eingewöhnen, vielleicht kurz vor dem Abi …«
»Mama«, muss ich unterbrechen. »Katharina hat einen Notendurchschnitt von 1,2 und ist weit und breit ganz oben auf der IQ-Liste der Menschen. Sie würde, egal wo, die beste Schülerin sein.«
»Das ist ihr Kopf, Heinrich. Und was ist mit ihrem Herz?«
»Mit ihrem Herz?«
»Mit ihren Gefühlen. Du kannst noch so intelligent sein, wenn deine Gefühle dir in die Quere kommen, ist es nicht selten, dass der Kopf nicht mehr mitmacht. Dann bricht ihre schulische Leistung ein. Vor dem Abi. Das wäre fatal.« Schon bei der ersten Hälfte von Mutters Erklärung schüttele ich den Kopf.
»Ich glaube nicht, dass Katharinas Kopf ein Opfer ihrer Gefühle wird. Dafür hat sie sich viel zu sehr im Griff und weiß, was wichtig ist und was nicht … im Gegensatz zu mir.« Mutter steht auf, nimmt den Stuhl und setzt sich neben mich. Sie legt die Hand in meinen Nacken und krault den Haaransatz.
»Heinrich, ich bin sehr stolz auf dich, dass du Katharina so siehst. Und zugibst, dass du selbst durchaus ein ziemlicher Hitzkopf sein kannst. Was würdest du also tun, wenn du Katharinas Vater wärst?«
»Als Heinrich? Oder als seine Person?«
»Du kannst eine dir fremde Situation nur bewerten, wenn du versuchst, dich in die Person hineinzuversetzen, die mit dieser Situation konfrontiert ist.« Ich schließe die Augen. Ist es nicht das, was ich bei Paul tue? Oder bei Jürgen? Ich werde niemals Kinder kriegen. Das ist mir viel zu kompliziert.
»Als er würde ich wollen, dass sie mit nach Oberkochen geht. Und als meine Mutter würde ich sie hier wohnen lassen.«
»Genau. Aber wir sind nun mal nicht ihre Eltern. Er hat eine Entscheidung getroffen, nicht ohne lange darüber nachzudenken. Das müssen wir akzeptieren.« Andi klappt den Bildband zu.
»Scheiße!«, sagt er. »So eine Scheiße. Und jetzt?«
»Und jetzt reden wir mal über die zwei Pakete«, klärt Mutter ihn auf. Pakete? Können wir das nicht vertagen? Katharina wird verschwinden wie Nebel in der Morgensonne. Ich halte einfach die Augen geschlossen. Vielleicht ändert sich ja wundersamerweise etwas in dieser Welt. Dann jedoch kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten.


»Können wir nicht mal tauschen?«
Tauschen? Was will Andi denn tauschen? »Die Unterhose?«
»Oh, Mann, hab dir nix getan, Heinrich. Sei nicht so ein Arschloch!« Es regnet Bindfäden. Ich habe keine Lust stehenzubleiben, tu es aber doch und schlüpfe in einen Hauseingang. Andi drückt sich neben mich. Das Alugestell des großen Rucksacks stößt gegen seine Brust.
»Du hast ja recht. Tschuldigung, Andi.«
»Vergiss es. Viel mehr würde mich interessieren, wieso wir bei dem Mistwetter die Kackuniform zu mir tragen müssen?«
»Dann haben wir es morgen nicht so weit zur Schule. Das Zeug ist schwer.« Er seufzt und hält die Hand in den Regen. Jetzt ist immer noch nicht klar, was er tauschen will. »Was willst du tauschen? Du den Rucksack und ich die Stiefel?«
»Nee, deine Eltern gegen meine natürlich.« Ich muss lachen. Es klickt und die Haustür hinter uns öffnet sich. Fast wäre ich in die Öffnung gefallen.
»He!«, tönt eine hohe, kratzige Stimme. Eine Wolke Tabakqualm legt sich zwischen uns. Wir husten beide. Über die Schulter erkenne ich eine alte Frau.
»Junge, was ist denn das für ein Kraut?«, rutscht es Andi raus.
»Mal nicht so frech, junger Mann!«, erwidert sie und schiebt uns in den Regen, bleibt mit verschränkten Armen im Hauseingang stehen und mustert uns. Ein Zigarillo im Mundwinkel, ärmelloses Hauskleid von der Resterampe und lange Haare am Kinn, wie Baumgerippe in der Wüste. »Macht mal die Biege hier. Rumlungern is nicht. Arbeitsloses Gesindel!«
»Wir sind Schüler!«, begehrt Andi auf. Ich gehe los und ziehe ihn mit. Die Alte flippt den Zigarillo hinter uns her, trifft aber nur den parkenden Käfer am Bordsteinrand.
»Leute gibt’s«, brabbelt Andi.
»Wieso willst du deine Eltern eintauschen?«
Die paar Meter bis zur nächsten Kreuzung schweigt er.
»Deine sind irgendwie richtige Eltern«, behauptet er, als wir endlich in der Brühler Straße sind. Langsam, aber sicher, kriecht die Nässe durch meinen Parka. »Ich hätte nicht gedacht, dass deine Mutter es dir überlässt, das mit der Uniform durchzuziehen. Ehrlich, mein Alter hätte mir zwei große Schellen verpasst.«
»Ja, okay, aber sie sagte auch, dass ich mit allen Konsequenzen leben muss, die da kommen mögen und ich solle es mir noch mal gut überlegen.«
»Aber sie hat was gegen Nazis. Das ist immerhin was. Mein Vater sollte nicht mitbekommen, was da im Rucksack ist.« Stimmt, denke ich. Mutter und Vater haben sogar entschieden was gegen Nazis. »Gehen wir dann gleich in den Comic-Laden?«, wechselt er das Thema. Ich schaue auf ihn runter. Sein Kopf ist fast komplett unter der Kapuze verschwunden. Nur die Nasenspitze ist zu sehen.
»Hab ich zumindest vor. Das muss erledigt werden. Paul braucht ne Wohnung. Vielleicht gibt es eine WG oder jemand hat ein Zimmer frei …«
»Stimmt es, dass er in dich verliebt ist?«
»Das hätte ich dir vorher erzählen sollen.«
Andi nimmt die Tüte mit den Knobelbechern in die andere Hand und betrachtet die geröteten Streifen auf der Haut. »Hättest du tun können. Schließlich bin ich dein Freund.«
»Hauptsache, du behältst es für dich.«
»Klar«, bestätigt er. »Ich schweige wie ein Grab.«

Wir erreichen das Kloster und queren die Straße. Andi sieht an der Hauswand empor und seufzt. Im Fenster seines Zimmers hängt ein ehemals roter Strohstern, den wir in der fünften Klasse gebastelt haben. Ziemlich ausgebleicht. »Also, dann mal los«, sagt er und schließt die Haustür auf. Pfannkuchenduft schlägt uns entgegen. Zwei Fahrräder neben den Briefkästen. Eines ohne Vorderrad. »Ich schließe auf und du gehst sofort in mein Zimmer. Stell den Kram hinter das Kopfende vom Bett. Ich geh zu meiner Mama und sag ihr, dass wir gleich noch mal weg müssen, paar leere Schulhefte, Bleistifte und Radiergummis kaufen.«
»Es geht nix über glaubhafte Ausreden.« Andi grinst über beide Ohren, geht voraus, die Treppe hoch. Ich wüsste gern, was er denkt. Vorhin hat er mich weinen sehen und dabei den Kopf auf seine Brust gesenkt, mit den Fingern geknetet. Fast kann man das Band zwischen ihm und mir erkennen. Ein unsichtbares Gummi, egal, wie weit wir voneinander entfernt sind. Ich bin wirklich dankbar, ihn um mich zu haben. Eines Tages werde ich ihm das sagen.


Jürgen sieht nicht aus, als hätte er viel Zeit. Vier Kunden stöbern durch die Regale, zwei stehen mit ihm an der Theke.
»Komm, wir setzen uns in die Leseecke und warten«, flüstere ich Andi zu, nehme einen mir unbekannten Comic. Auf Französisch. Der Zeichner nennt sich Benoît Sokal und es geht wohl um eine wie Bogart aussehende Ente.
»Du liest die Dinger auf Französisch?« Andi fläzt sich auf den alten Caféhaus-Stuhl und greift nach einem Asterix.
»Bisschen üben kann ja nicht schaden.«
Er schüttelt den Kopf und sieht nach, was Asterix und Obelix bei den Belgiern erleben. Ich bin schon nach den ersten fünf Seiten gefesselt von dieser seltsam gezeichneten Ente, die mit Trenchcoat, Schlips und im Mundwinkel klebender Zigarette durch die in melancholischen Pastellfarben gezeichnete Welt watschelt. Nach und nach verlässt ein Kunde nach dem anderen den Laden, ein oder zwei Comics in der Papiertüte. Immer wieder kontrolliere ich, ob Andi noch anwesend ist. Ihn beim Lesen eines Comics zu beobachten, ist eine langweilige Angelegenheit. Er blättert, als wäre es eine medizinische Fachzeitschrift. Trocken wie die Wüste Gobi. Ganz im Gegensatz zu mir. Die Ente heißt Inspektor Canardo und lebt inmitten einer Mischung aus Menschen und vermenschlichten Tieren. Die Schlossbesitzerin ist eine elegante Hündin, der Bürgermeister eine Bulldogge und der Bibliothekar ein Mensch. Eine seltsame Mixtur. Jürgens Wanduhr zeigt kurz nach vier. Der letzte Kunde ist weg und nach einem Moment hinter dem Vorhang gesellt er sich zu uns, drei geöffnete Flaschen Cola in der Hand.

»Guten Tag, die Herren! Danke für die Geduld.«
Andi legt den Asterix auf den Stapel zurück, trinkt einen Schluck, streckt sich und gähnt ausgiebig.
»Danke für die Cola, Jürgen«, sage ich mit dem Comic in der Hand wedelnd. »Gibt es diesen Sokal auf Deutsch?«
»Leider noch nicht, aber ein Verlag hat angekündigt, die Reihe zu übernehmen. Ist richtig starkes Zeug, oder?«
»Ja, unglaublich. Hast du noch mehr Alben?« Jürgen grinst. Wahrscheinlich bin ich einer seiner besten Kunden.
»Klar. Drei Stück, die aufeinander aufbauen.«
»Nehme ich gleich mit.«
»Ist gebongt, Heinrich, aber ich ahne, dass es mal wieder irgendwo brennt. Das kann man dir zehn Meilen gegen den Wind ansehen.«
»Dazu gehört nicht viel, ihm das anzusehen«, stellt Andi klar und trinkt die Flasche leer. Ein gedämpfter Rülpser folgt.
»Eigentlich nichts Schlimmes«, erkläre ich. »Paul braucht eine Wohnmöglichkeit. Vielleicht in einer WG.«
»Aha.«
Ich versuche, die Dramatik abzukürzen und beschreibe ihm das Ganze so nüchtern wie möglich. Er soll sich nicht gedrängt fühlen. Andi macht die Augen zu und verschränkt die Arme.
»Verstehe.« Jürgen steht auf. »Muss mal eben meine Kippen holen.« Als er hinterm Vorhang verschwindet, gibt mir Andi einen Tritt.
»Hast dich aber ziemlich zurückgehalten«, murmelt er. »Ich denke, es brennt?« Bevor ich etwas erwidern kann, ist Jürgen zurück, ein Reissdorf in der Hand.
»Euch Minderjährigen darf ich nix geben«, meint er und grinst. Nach einem tiefen Schluck fixiert er mich, dann Andi, der weiterhin in entspannter Position alles auf sich zukommen lässt. »Es gibt Leute, die helfen können in solchen Situationen«, fährt Jürgen fort. »Man kann sagen, der Bedarf ist da, nicht wahr?« Ich weiß nicht genau, was er mir sagen will, also nicke ich.
»Ist ja nicht so, dass all die Menschen mit ihren ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen so mir nichts dir nichts durchs Leben kommen. Überall Hindernisse, Verachtung, sogar Hass …« Was erzählt er da?
»Öhm …«
Jürgen hebt einen Finger an die Lippen. »Lass mich kurz ausreden, Heinrich.«
»Okay.«
»Paul ist sechzehn, sagst du. Dann schreib mir bitte die Telefonnummer seiner Mutter auf und sag mir, ob sie über alles Bescheid weiß und vertrauenswürdig ist.«
»Ja und ja. Zu einhundert Prozent.«
»Das ist gut. Ich höre mich um, Heinrich. Ein Zimmer würde ihm genügen?«
»Klar, Jürgen. Mehr als ein Zimmer ist es jetzt auch nicht.« Er lächelt und zieht das Reissdorf fast leer. Dann zündet er eine Kippe an. Offenbar war es das. Dann bleibt nur noch eine Sache zu klären. »Sag mal, Jürgen, hast du Lust, mir bei einem Politik-Referat zu helfen? Thema ist ‚Die Kriminalisierung der Homosexualität‘. In zwei Wochen ist Projekttag und die Referate werden vorgestellt.« Er rutscht schlagartig an die vordere Stuhlkante. Die Augen weit aufgerissen.
»Dein Ernst?«
»Sein Ernst«, sagt Andi und gähnt.


»Was hast du eigentlich für ein Thema?«, will ich von Andi wissen. Wir sind in der Breite Straße, haben die Alibi-Schreibwaren gekauft und steuern einen der größeren Friseure an.
»NATO-Doppelbeschluss. Zusammen mit Karla, Heike, Rüdiger und Markus aus der ‚e‘.«
»Auch nicht schlecht.«
»Ziemlich einfach«, meint er lapidar. »Mit Karla muss man sich keine Sorgen bei so einem Thema machen. Sie ist ein Lexikon auf zwei Beinen.« Schön für Andi. Warum mache ich den Mist nicht einfach solo? Und liefere eine Doktorarbeit ab. Eine Sechs für Qualität. Das wäre es wert. Ich öffne die Tür. Drei Kunden in Bearbeitung.
»Hast du schon jemanden für dein Referat? Alleine machen ist ne sechs. Gruppenarbeit, weißte ja.«
»Ja, weiß ich, und nein, hab ich nicht.« Ein junger, grauhaariger Mann begrüßt uns. So jung und schon graue Haare.
»Einen wunderschönen Nachmittag, die Herren. Alle beide?« Andi winkt ab.
»Nee, nur ich.« Er lächelt mir zu und deutet mit der Hand auf einen freien Drehstuhl. Ich nehme den Platz ein, rutsche etwas vor, Andi nimmt einen Sokal-Comic aus der Papiertüte und setzt sich in den Wartebereich. Der Grauhaarige stellt sich hinter mich und schaut verzückt auf die Lockenpracht.
»Ein bisschen kürzen, nehme ich an.«
»Nee, alles runter.«
»Wirklich?!« Sein entsetzter Blick im Spiegel lässt mich kurz grinsen.
»Kennen Sie die Frisuren aus den Dreißigern? Sie wissen schon, blond, blauäugig, Seiten fast rasiert, oben streng auf eine Seite, Nazi-Look …« Für einen Augenblick weiß er wohl nicht, was sagen. Dann runzelt er die Stirn.
»Nehmen Sie mich auf den Arm?«
»Keinesfalls. Ich spiele im Schultheater den Gestapo-Mann in ‚Des Teufels General‘. Und alles muss echt sein.« Die Blicke seiner Kollegen und deren Kunden sind deutlich zu spüren. Andi schielt über den Rand des Comics. Unschwer zu erkennen, dass er an sich halten muss, um nicht lachend aus dem Geschäft zu rennen.
»Habe ich gesehen, den Film. Mit Curd Jürgens.«
»Genau. Ich will mal Schauspieler werden und finde, man muss in der Rolle ganz aufgehen. Oder?« Der Grauhaarige atmet tief durch, kippt ein paar Mal den Kopf auf die Seite.
»Tja, also, eine Rolle muss man ernst nehmen«, bestätigt er. »Haare vorher waschen?«
»Gerne.«
Es geht los und schnell passiert, was ich seit Kindheitstagen kenne. Ich döse im Friseurstuhl ein. Es dauert, die Haarpracht radikal zu kürzen. Stimmen, das Klappern der Scheren, ein Rasierapparat, dann der Haartrockner; ich gleite in ein stilles, leeres Land. Einer ausgedörrten Ebene sehr ähnlich. Zwei identische Menschen stehen nah oder fern, ich kann es nicht deuten. Zwei Mal Katharina. Eine lächelt, die andere weint. Sie stehen nebeneinander und versuchen sich an den Händen zu fassen, aber der zerfurchte Boden dehnt sich zwischen ihnen auf wundersame Weise. Wie Rosinen im aufgehenden Hefeteig. Ich will beide halten, bin aber wie angeschraubt. Hilflos. Mit all meiner Kraft nur ein Schwächling. Es ruckelt, etwas öffnet meine Augen. Da ist mein Gesicht im Spiegel. Tränen rollen deutlich über die Wangen. Der Grauhaarige dreht langsam meinen Kopf, holt ein Tuch aus der Tasche und trocknet die Tränen, an meine Seite gebeugt. Die Wärme seiner Schläfe ist zu spüren. »Ist gut so?«, flüstert er.
»Perfekt. Danke«, erwidere ich ebenso leise und erkenne die Stimme. Es ist meine. Aber nicht mein Kopf, nicht mein Gesicht. Ich bin ein anderer. Der Umhang verschwindet, das Abbürsten der Haare, es ist kühl.
»Kommen Sie bitte zur Kasse.«
Er möchte dreißig Mark. Ich gebe zwei Zwanziger. »Passt schon«, sagt der andere oder ich mit der frierenden Kopfhaut und verlasse den Laden.
»Mann, ehrlich«, höre ich neben mir und schaue nach rechts. Die Breite Straße hinunter. Dann in Andis Gesicht. »Du siehst aus wie ein Nazi. Aber original.«
»Gut. Und jetzt gehen wir was essen.« Katharina turnt durch meinen Unterleib. Saltos und Überschläge. Dumpfe Stöße. Es tut weh.


Je mehr ich von den Uniformteilen anziehe auf der Bank der Bushaltestelle, desto weiter reißen die aus den Türen der Busse quellenden Jungs und Mädchen die Augen auf, tuscheln. Koppelschloss zumachen. Hosenbeine umschlagen und in die Knobelbecher schlüpfen. Vorsichtshalber klebt auf beiden Fersen eine Doppellage Hansaplast. Mit den dicken Sohlen sollte ich jetzt so groß wie Rektor Kurz sein. Die Nägel schrappen über den Asphalt. Kragenspiegel richten, den Stahlhelm unter den rechten Arm klemmen.
»Passt und sitzt wie angegossen«, bestätigt Andi und zieht seine Instamatic aus der Jackentasche. Bevor ich protestieren kann, ist das Foto gemacht.
»Na, dann los«, sage ich mit tausend Ameisen im Bauch. Es gibt kein Zurück. Die ersten hundert Meter sind eine Art Spießrutenlauf und ich ignoriere die wenigen Rufe, das Gelächter oder die Fragen. Etwas passiert mit mir oder in mir. Das kann ich deutlich spüren. Es wird nicht mehr gerempelt oder gedrängelt, gelacht, gequatscht. Je näher ich dem Haupteingang komme, desto schneller bildet sich eine Gasse. Andi stapft hinter mir her. Dann stehe ich vor der Tür und sehe mich im Glas. Langsam stülpe ich den Helm über, korrigiere den Lederring, dann sitzt er.
»Soldat Andi! Aufmachen!«
»Oui, mon General«, bestätigt er und reißt die Tür auf. Es geht los. Durch die Aula. Die genagelten Sohlen sind nicht zu überhören. Langsam und in bester Haltung, Schritt für Schritt über die Granitfliesen. Ich stelle mir vor, in einer Reihe zu laufen und entdecke Kurz neben dem Hausmeister-Kabuff. Die Stille in der Aula fällt auf. Das Klackern der Nägel drängelt sich durch die vielen Menschen. Kurz entdeckt mich und erstarrt, schiebt den Kopf nach vorne, als könnte er so besser sehen, was da auf ihn zukommt. Jetzt kann ich deuten, was in meinem Unterleib grummelt und wächst. Etwas mir ganz Fremdes. Das Schweigen, die Blicke, viele Fragezeichen über den Köpfen, aber auch Angst. Furcht in den Gesichtern. Sie ist sehr deutlich zu sehen. Es lässt mich noch wachsen. Einen oder zwei Zentimeter. Was ist das? Das Wort fällt mir ein als ich fast angekommen bin. Es ist Macht. Ich habe Macht, weil da Furcht ist.
»Herr Konstantin!«, ruft mir Kurz seinen Gruß zu. »Ist das nun ein guter Morgen und ihr letzter Tag bei uns?« Der Schlussakt. Einen Meter vor ihm bleibe ich stehen und schlage die Hacken zusammen, ziehe den Helm ab. Seine Augen weiten sich.

»Guten Morgen, Herr Rektor. Gemäß Ihrer Bitte war ich beim Friseur und habe mich kleidungstechnisch angepasst. Ich hoffe, Ihrem Wunschbild von mir nun zu entsprechen.« Er schließt die Augen, dreht den Kopf auf die Seite. Für einen Augenblick drückt er mal wieder Zeigefinger und Daumen an die Nasenwurzel. Ich mag die Stille in der Aula, nur wenig Geflüster. Alle Blicke ruhen auf uns, warten auf den Sturm, eine furchtbare Explosion, wie sie die Schule noch nicht gesehen hat. Mit der Hand greift er an mein Revers und zieht mich in den Kopierraum, schließt die Tür. Es riecht nach Essig. Die Neonlampe macht ihn älter als er ist, blasser, Schatten in den Falten.
»Herr Konstantin …«
»Herr Kurz?«
»Das alles steht Ihnen außerordentlich gut. So gefallen Sie mir.« Er macht eine Pause. Ich starre ihm in die Augen und denke an Katharina. »Heutzutage darf man das ja nicht mehr sagen, aber viele Menschen wären stolz darauf, so einen hübschen, großen Kerl in dieser Uniform zu sehen.« Um es zu unterstreichen, nickt er zackig. Oh, Katharina! Tu mir das nicht an! Lass mich nicht allein mit diesen Irren! Es gefällt ihm also. Mein idiotischer Plan verläuft im Sand. Wie konnte ich nur annehmen, ein Nazi würde sich an einer Uniform der Wehrmacht stören?
»Danke, Herr Kurz. War gestern extra beim Frisör. Darf ich wegtreten?«
Er neigt den Kopf, ein Auge zugedrückt. »Wie es aussieht, sind Sie ja jetzt wach geworden. Bleiben Sie so, Herr Konstantin. Sie dürfen wegtreten.« Er grinst und ich will salutieren, verwerfe den Gedanken aber, drehe mich um und marschiere mit lautem Klacken unter den Sohlen hinaus, direkt in die Klasse. Alle machen Platz, aber das Gefühl, mächtig zu sein, stellt sich nicht mehr ein. Im Gegenteil. Ich gehöre nicht mehr dazu. Scham kriecht langsam wie ein Reptil in morgendlicher Kälte unter dem Stein hervor. Auf der Suche nach der Wärme einer bald aufsteigenden Sonne. Mein Platz, Andi sitzt schon. Den Stahlhelm hänge ich an den Haken für die Taschen. Das Grau der Uniform auf dem Tisch. Die Stimmen flüstern meinen Namen. Uniform, Helm, die Schuhe, was ist nur in ihn gefahren … so viele Worte, die mich nicht erreichen.
»Mensch, Heinrich«, höre ich Michaels Stimme hinter mir, »das war der Clou, der Streich schlechthin. Damit gehst du in die Annalen ein.«
»Qui, mon Capitan«, bestätigt Andi. Zwerenz kommt in den Raum geschlurft, legt die Tasche auf den Tisch, entdeckt den Stahlhelm, dann mich. Kopfschüttelnd schlägt er das Klassenbuch auf.
»Ich glaube, das gibt einen Eintrag ins Klassenbuch. Ein Grund wird mir noch einfallen im Laufe des Tages«, meint er und notiert irgendwas.
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, erwidere ich, winke ab, packe den Stahlhelm und setze ihn auf.

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