Insel 64 | Kapitel 4

Rote Linien

Traumsequenz, Chatrina Sutter

»Wo ist Obmann Takuno?« Die junge Frau sah vom Pad auf. Der Holoschirm vor ihr zeichnete eine Route. Mit der rechten Hand hielt sie den Joystick. Süd, 180 Grad, 25 Knoten, informierte die Leuchtanzeige an der Instrumentenwand.
»Er ist auf der Brücke.«
»Danke«, nuschelte ich und quetschte mich zwischen den Menschen hindurch zum Schott, das zum Turm führte, stieg über die Leiter nach oben. Als ich durchs Luk kletterte, fröstelte es mich augenblicklich im schneidend kalten Wind. Takuno sah mich und schüttelte den Kopf, murmelte etwas in sein Mikrofon und nach kurzer Zeit reichte eine Hand von unten eine warme Jacke. Ich zog sie über und nahm den Platz neben ihm ein. Die hohe Metallbrüstung reichte bis an mein Kinn. Er hielt eine Optik vor die Augen und peilte über den Bug. Das Boot glitt seltsam ruhig durch die Dünung. Welle um Welle brach sich am gewölbten Stahl vor uns. Dann gab er mir das Fernglas und streckte den Arm aus. »Die norwegische Küste«, rief er.
Ich setzte es an und blickte hindurch. Im Dunst erkannte ich Felsen. Nichts Besonderes.
»Wir laufen genau auf Tromsø zu. Dort gibt es einen Marinestützpunkt. Mehrere Versorger.« Ich nickte und dachte an den Traum. Dass ich alleine war heute Nacht, denn Takuno besprach mit den anderen die exakte Route. Vorsichtig legte ich den Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Den Duft des Meeres empfand ich als eine wundervolle Wohltat. Der Wind trieb salzige Tropfen aus der Gischt bis zu uns hoch. Takuno stellte sich hinter mich, drückte sanft mit dem Körper. Beide Hände links und rechts auf der Brüstung.
»Kenzaburo, ich habe dich vermisst.« Ich sagte es dem Wind. Takuno hatte es vielleicht nicht gehört. So beugte ich den Kopf nach hinten und wiederholte es.
»Ja, mir ging es ebenso, Chatrina.« Er kniff die Augen zusammen.
»Du weinst?«
»Die Kälte«, erklärte ich.
Mit einem Lächeln quittierte er meine Lüge und tippte auf das Mikro. Ich verstand. Er deaktivierte es. »Zwar hört nur Sato zu, aber …«
»Wie wird sie reagieren?«, fragte ich ihn. »Ich will sie nicht verletzen …«
»Das weiß ich nicht, Chatrina. Rede mit ihr darüber. Sonst erfährst du es nicht.«
Ich sah nach vorne. Richtung Norwegen. Samstag, 17. Februar 2148. Jelena fiel mir ein. Mit uns auf einer Reise, die uns alle vielleicht nicht mehr heimkehren lässt. Es gab Parallelen in unser beider Geschichte. Was würde Jonna sagen?
»Was denkst du über das Mädchen? Jelena …«, wollte ich von Takuno wissen. Es war sein Boot. Sie einfach mitzunehmen, könnte sich negativ auf seine Personalie auswirken. Sein Blick war starr nach vorne gerichtet. Die Augen leuchteten ein wenig. Das musste dieser Moment sein. Im Wind stehend, auf dem Ausguck seines Bootes, das Meer um sich herum.
»Die Situation war unübersichtlich. Niemand hat an sie gedacht. Wir haben sie gescannt und nichts gefunden. Heute Morgen habe ich lange mit ihr geredet. Da gibt es niemanden, der sich um sie sorgt. Und am Ende denke ich, ist sie auch Jonna oder wem auch immer im Gruppenrat oder der Administration egal.«
»Aber es wird gefährlich«, warf ich ein.
Takuno sah mich überrascht an. »Ich lag falsch«, verbesserte er sich. »Es macht sich doch jemand Sorgen um sie. Nämlich du.« Ich nickte und starrte in den Himmel. Durchgehende Wolkendecke. Nach Süden hin immer dunkler. »Ich kann Tromsø anlaufen. Ein Versorger könnte sie bei der nächsten Möglichkeit zurückbringen«, schlug er vor.
»Nein. Ich will keine Zeit verlieren. Es ist, wie es ist. Etwas anderes macht mir mehr Sorgen …«
»Was?«
»Ich habe vorhin auf einer Karte die norwegische Küste betrachtet und wenn ich mich irgendwo verstecken wollte, dann dort. Sie ist prädestiniert dafür. Völlig unmöglich, in diesem Wirrwarr etwas zu finden.«
»Da hast du recht, Chatrina.«
»Wir könnten daran vorbeilaufen und würden nichts sehen!«
»Es ist, wie du sagst: unsere einzige Chance besteht darin, Personen zu finden, die uns Hinweise geben …« Er legte den Kopf schief, drückte seine Stirn an meine. »… und das wird nicht einfach werden …«
»Kenzaburo?«
»Ja?«
»Wir sind nur noch so wenige … ich habe Angst.«
Er drehte mich um.
»Vielleicht lässt sich Sato ja versetzen …«
»Ich meine nicht in meiner Truppe. Ich meine auf der Erde.«
Takunos Augen wurden groß. Der Wind riss an seinen Haaren. Die Optik schlug ein paar Mal gegen die Brüstung. Er presste zwei Finger gegen ein Ohr und tippte auf das Mikrofon. »Ich komme«, sagte er, stellte sich aufrecht und fasste meine Schultern. »Wir müssen nach unten. Jonna Andersen wartet auf uns.«


»Na gut, mir egal. Nun habt ihr sie an der Backe. Werdet glücklich mit ihr.« Jonnas Meinung zu Jelenas Anwesenheit auf dem Boot. Mir war es recht. Dann kam mir plötzlich der Gedanke, vielleicht einfach nur egoistisch zu sein, sie um mich haben zu wollen … »Konzentrieren wir uns auf die Probleme«, setzte Jonna nach und beugte sich zur Kamera. »Insgesamt sind dreißig Gruppen unterwegs. Das sind dreihundertsechzig U-Boote mit neunhundert Leuten, die Besatzungen nicht mitgerechnet. Wir steuern jeden Handelspunkt an. Das alles ist größer geworden, als wir anfangs dachten … und vorhatten.« Sie stockte, rutschte auf dem Stuhl hin und her, sah mich dann direkt an. »Ich habe dem Gruppenrat vorgeschlagen, selbst die Leitung zu übernehmen, Chatrina. Du bist unterwegs und kannst einfach nicht überall sein. Ich hoffe, du verstehst das …«
»Natürlich, Jon…«
»Trotzdem benötige ich deine Einschätzung der Lage«, würgte sie mich ab. »Sobald du eine Eingebung hast, Erkenntnisse, Ahnungen, dein sechster Sinn sich bemerkbar macht, egal was, melde dich.«
»Wie weit ist der Satellit?«, erwiderte ich. Sie blickte hastig hin und her, als suche sie nach Worten.
»Ähm, ist morgen Abend in Position, soviel ich weiß. Ich werde Putkaradze kontaktieren …«
»Was ist mit den Eltern? Laufen die Verhaftungen?«
»Ja! In der Umsetzung«, bestätigte sie. »Sind auf dem Weg hierher. Ebenso alle anderen, die damit zu tun hatten. Gerade bin ich dabei, die Gruppen D und E auf volle Besatzungsstärke zu bringen.«
Ich nickte. Jonna setzte das um, was ich vorgeschlagen hatte. »Wie begegnet ihr den Fragen der Menschen?«
Mit einer Hand winkte sie eine Person herbei. Semjonowa tauchte in der Bilderfassung auf, nickte uns zu. »Wir sagen, wie es ist. Sezession kann nicht geduldet werden!«, machte Semjonowa unmissverständlich klar. »Obfrau Sutter … was ist denn Ihre Vermutung bezüglich der Babys?«, fuhr sie fort. Ich dachte kurz nach, was ich mir zurechtgelegt hatte, dann stutzte ich für einen Moment. Nicht wegen der Worte oder Semjonowas Erscheinen … nein. Es war mir unmöglich jene gerade empfundene Ahnung zu greifen, die wie ein Wolkenschatten über mich hinweg zog. Als hätte ich etwas Bedeutendes gesehen, nur um völlig begriffsstutzig daran vorbeizulaufen. Blind. Die Fadenenden wirbelten im Wind durcheinander. Es gelang nicht, sie zu verknüpfen. Mir blieb als Antwort nichts, als das Zurechtgelegte.
»Genetik.«
»Genetik?«, wiederholte Jonna und warf Semjonowa einen kurzen Seitenblick zu. Ich nickte.
»Was ist wichtig für die Zukunft des Menschen? Immunität beispielsweise. Es gibt natürliche Immunität …« Ich dachte an die Ansichtskarte. »Das Institut geht mir nicht aus dem Kopf. Genetische Anpassung von im Wasser wachsenden Pflanzen mittels Genschere herstellen. Warum also nicht auch den Menschen anpassen?«
»Das macht Sinn. Aber Bakterien und Viren verändern sich per Zufall andauernd. Also ist so eine Anpassung eher temporär«, warf Jonna ein. Ich zog die Augenbrauen nach oben und nickte langsam.
»Ich bin keine Wissenschaftlerin. Möglicherweise werden die Babys auch nur nach bestimmten Gesichtspunkten sozialisiert. Herangezogen für ein Ideal. Wir sind Polizisten und müssen es herausfinden. Das Motiv dahinter suchen. Und wenn sich die Details in diese Motivlage fügen, kommen wir der Sache näher.«
Semjonowa zog die Unterlippe ein und ließ sie gleich darauf wieder schnalzen. »Und wie passt dann das Verschwinden von Insel 64 in dieses Bild?«, hakte sie nach. Ich zuckte mit den Schultern.
»Ich denke nicht, dass Insel 64 unser Hauptproblem ist. Etwas auf 64 ist passiert, dass den Gegner und uns überrascht hat. Am Verschwinden können wir etwas feststellen. Erstens: Wir und auch der Gegner suchen nach der Insel. Zweitens: Die Menschen auf 64 wollen weder mit uns noch mit dem Gegner etwas zu tun haben. Und gesunken ist sie auf keinen Fall. Drittens: Auf dieser Insel gibt es etwas, dass Gegner und uns interessiert. Für uns sind das Antworten. Für den Gegner, nun … es ist eine neue Insel. Mit vielen technischen Neuerungen.« Ich blickte erst Jonna an, dann Semjonowa. Langsam lehnte ich mich an. Zum ersten Mal hatte ich meine Gedanken in dieser Art zusammengefasst und empfand es als wirklich schlüssig. Ist es mir etwa gelungen, ein lange gesuchtes Puzzleteil einzufügen? Jonna klopfte mit zwei Fingern einen Takt auf den Tisch.
»Wir werden uns ebenfalls anpassen«, verkündete Jonna. »Wir sind bereits dabei.«
Semjonowa setzte sich neben Jonna und starrte direkt in die Optik. War ihr Blick auffordernd oder flehend? Ich war irritiert. »Geben Sie Bescheid, wenn das erste Ziel erreicht ist«, sagte sie knapp. Das Bild wurde dunkel. Wir starrten noch einige Sekunden aufs Whiteboard.
»Das ging aber plötzlich«, meinte Sato verblüfft. Takuno wendete sein Käppi einige Male hin und her, fuhr mit einem Finger über den Blendschutz.
»Was meinte Jonna mit ‚Wir sind bereits dabei‘?« Ich schwieg. »Sato, wir tauchen«, sagte er dann. »Gehen Sie auf achtzig Meter. Sobald wir 70° Nord und 18° Ost erreicht haben, drehen wir auf 240 Grad. Rodriguez wird dann die Führung übernehmen. Wir tauchen auf, lassen uns zurückfallen und übernehmen die Rücksicherung.« Er gähnte ausgiebig. »Ich muss mich ein paar Stunden hinlegen.«
Sato sah mich kurz an, stand dann auf und hob kurz die Hand. »Ist gut.« Als sie die Tür hinter sich schloss, musterte Takuno immer noch das Käppi. Er grübelte.
»Das ist wirklich dein Markenzeichen, Kenzaburo … das gedrehte Käppi. Aus der Hosentasche, am Kopf kratzen, aufsetzen.« Plötzlich prustete ich los, lachte laut. Unbeherrscht. Wie lange nicht mehr. Durch die Tränen sah ich seine rasch nach oben gezogenen Augenbrauen, den verwunderten Blick. Ich beruhigte mich wieder und er wartete ab. Mit dem Ärmel wischte ich die Augen trocken, hustete. Er zog das Käppi auf.
»Semjonowa und Jonna Andersen wissen etwas, das wir nicht wissen«, sagte er trocken. Wie ein Blitz zuckte sein Satz hinter meiner Stirn auf. Genau das war es, was mir zuvor aufgefallen war. Eine Unregelmäßigkeit in Semjonowas Habitus. Ein schwaches Beben ihres Inneren. Es drang durch das unnahbare Äußere und wurde für einen winzigen Moment fühlbar.
»Du hast es auch gesehen«, erwiderte ich leise.
»Ja. Es war sehr deutlich zu sehen«, bestätigte er. »Ob aber beide über das Gleiche beunruhigt sind, ist mir nicht ganz klar.« Takuno führte die Hand zum Hinterkopf, stoppte, sah mich an und ließ es bleiben.
»Das kann ja nur zwei mögliche Bedeutungen haben. Entweder sie wissen grundsätzlich etwas, weil sie daran beteiligt sind«, mutmaßte ich, »oder sie sind nicht beteiligt, wissen etwas, aber noch nicht genug, um es uns mitzuteilen.« Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Oder Jonna weiß etwas über Semjonowa und hält sich noch zurück …«
»Das wird mir langsam ein bisschen zu viel …« Takuno stand auf, ging um den Tisch und stellte sich hinter mich. Küsste meine Stoppelhaare. »Ich brauche ein paar Stunden Schlaf.«
»Ist okay, Kenzaburo. Schlaf gut.«


Eine fast traumlose Nacht. Nur Fetzen. Teile von Bildern. Nicht intensiv genug, um unterzugehen oder schweißgebadet aufzuwachen. Stattdessen Takuno neben mir. Dienstag, 20. Februar 2148. Ereignislose zwei Tage lagen hinter uns. Und doch fühlte ich mich erfüllter als lange zuvor. Der Grund schlief dort unter der dünnen Decke, ruhig atmend. Schwarze Haare ohne erkennbaren Mittelpunkt. Fast ein wenig zu lang, wie ich ihm den Abend zuvor sagte, er aber mit einer schnellen Handbewegung abtat. Ich schwang die Decke auf Seite und betrachtete meinen Körper. Viele Narben, darunter sehr unansehnliche, mäandernde, unförmige Gräben mit ausgefransten Kanten. Zwischen all den Hässlichkeiten ein Meer aus Sommersprossen, Leberflecke. Takunos Körper hingegen wie aus einem Guss geformt, ebenmäßig und nirgendwo farbliche Unterschiede. Ein paar Bartstoppeln, aber vernachlässigbar. Er ist so rein, dachte ich. Außen so rein wie innen. Eine besondere Form der Unschuld. Ich stand auf, zog mich an, schluckte die Tablette und ging in die Messe. Sato lehnte am Teeautomat. Als ich mich neben sie stellte, schürzte sie die Lippen. Ihre Anziehungskraft war ungebrochen. Der Drang, über sie herzufallen, enorm.
»Lieben Sie ihn?«, kam unvermittelt die Frage, vor der ich seit Tagen Angst hatte.
»Ja.«
»Und er liebt Sie. Das kann man mehr als deutlich sehen.« Ich zog tief die etwas abgestanden riechende Luft ein und drückte einen Algentee. Aus einem mir unbekannten Grund fühlte ich mich, als hätte ich Sato um etwas betrogen.
»Sakura, es …«
»Ich weiß, Chatrina. Mach dir keine Gedanken. Es war nur ein Augenblick in unser beider Leben.« Sie sah mich lange an. »Wenn auch ein ganz besonderer Augenblick.«
»Du weißt, wie du auf andere Menschen wirkst, nicht wahr?«
»Es ist nicht meine Absicht«, erklärte sie, »aber ich weiß es. Auf Kenzaburo hatte ich seltsamerweise noch nie eine Wirkung.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Obwohl ich mir das oft gewünscht habe.«
Ich stellte den Teebecher auf den Automat und nahm Sato in die Arme. Fest. Mit einer Hand an ihrem Hinterkopf, langsam kraulend. »Ich habe dich sehr gern, Sakura«, flüsterte ich ihr ins Ohr. »Zum ersten Mal aber liebe ich jemanden.« Sie atmete kaum merklich. Wir waren für einen Moment zwei Felsen in einem wilden Fluss. Dann löste ich die Umarmung, nahm den Becher und setzte mich an einen Tisch. Einen Moment später tat Sato es mir nach. Es war kurz vor halb sechs. Die Tagschicht hatte noch nicht begonnen.
»Ich habe Angst, Chatrina«, sagte sie leise. »Angst vor dem, was kommen wird. Und ich habe niemanden, dem ich das erzählen kann …« Nickend sah ich in ihre Augen – und spürte den Sog, verschloss meine Lider jedoch rechtzeitig.
»Meine Angst ist sicher nicht geringer, Sakura. Unsere Welt gerät aus den Fugen. So hat es den Anschein. Wo sollten wir Menschen hin? Vielleicht …«, die Worte blieben in mir stecken, Traumbilder stürzten hervor. Mitten in die kleine Messe hinein, vermischten sich mit dem, was mich genau jetzt umgab.
»Vielleicht … was?«
Der Geschmack von Salz, die Feuchte in den Augenwinkeln, das Zittern … ich hörte den Mann mit dem Messer rufen.
»Was ist los?« Takunos Stimme.
»Ich weiß nicht, Obmann Takuno, plötzlich …« Sato verstummte.
»Was hat sie gesagt?«, bohrte er.
»Ich … wir haben über Angst geredet …«
»Schon gut, Sato. Schauen Sie bitte nach unserer Position. Ich denke, dass wir gegen 0700 Ousseant erreichen. Ich komme gleich nach.«
Schabende Geräusche, ein Teebecher wurde in den Mülleimer geworfen. Ich hielt die Augen geschlossen und spürte Takunos Arm auf meinem Rücken, die Hand griff nach der Schulter. Plötzlich der Duft seiner Haare an meiner Seite. Wie sollte ich in all dem bestehen, wenn die Träume es schafften, in meine Realität einzudringen?


Nur eine Handbreit stand die Sonne über der Reede von Brest. Kaum Wolken am Himmel, lediglich der gelbe Schleier des Saharasandes. Noch war es nicht so intensiv, als dass wir Masken tragen mussten. Ich blickte zurück. Die Kommunikationsphalanx über mir warf lange Schatten auf das Hinterdeck.
»Heute wird es heiß. Um die dreißig Grad sind vorausgesagt für die französische Atlantikküste«, merkte Sato an.
»Audioüberwachung?«, fragte Takuno.
»Alle Richtmikrofone sind ausgerichtet. Keine Auffälligkeiten bisher.«
»Wir starten drei Drohnen, dann sind wir schneller fertig«, schlug er vor. Ich drehte mich und setzte die Optik vor die Augen. Die Karte auf meinem Pad bezeichnete den auf der linken Seite sichtbaren Ort als Plougonvelin. Mehr als zerfallene Häuser und eine alte Festung entdeckte ich dort jedoch nicht. Vereinzelt standen Baumgerippe an den Hängen, niedriges Buschwerk, angewehte Sanddünen vor den Gebäuderesten. Keine Zeichen von Leben.
»Reduzieren auf zehn Knoten, 70 Grad halten«, sagte Takuno ins Mikrofon. »Wir haben auflaufendes Wasser. Eine starke Strömung. Bleiben wir auf Abstand von der Mole. Auf der Höhe des Pointe des Espagnols drehen wir auf Steuerbord 30 Grad, fahren zwei Seemeilen in die Reede und positionieren uns dort. Das sollte eine ausreichende Entfernung sein. Machen Sie bitte die Drohnen klar, Sato.«
»Ich empfehle zwei weitere Drohnen, die westlich und südlich die Gegend absuchen«, schlug sie vor.
»Eine gute Idee«, stimmte ich zu. »Wir nehmen bewaffnete Drohnen. Kein Risiko.«
Takuno war einverstanden. Er stemmte sich hoch und sah über die Brüstung nach unten, auf beide Seiten des Bootes. »Sato, haben Sie bitte ein Auge auf die Algendichte in der Reede. Eventuell müssen wir vorher stoppen. Bereiten Sie vorsichtshalber einen Pressluftausstoß vor.«
»Ist gut.«
Ich setzte mich auf den Sockel der Kommunikationsphalanx und starrte zum Himmel. Er wurde zunehmend diesiger. Wehenden Fahnen gleich, transportierten die Winde den Sand in großen Höhen nach Norden, den alten Kontinent langsam unter sich begrabend. Wieder drängelten sich Bilder in die Realität. Semjonowas inneres Beben vor Augen, der Moment einer Erkenntnis, die ich noch nicht beschreiben konnte, dazu die Anweisung zur Kontrolle dieser alten Bunker; all das nagte in mir. »Ich glaube nicht, dass wir etwas finden werden«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu Takuno oder Sato. »Wer wäre schon so blöd, alte U-Boot-Bunker als Basis zu verwenden, die zudem so leicht erreichbar sind? Warum also sind wir hier?«
Keiner der beiden drehte sich um oder antwortete. Sie waren zu sehr mit ihrer Aufgabe beschäftigt. Warum sollen wir Orte überprüfen, die keiner von uns auswählen würde, wenn er sich verstecken wollte? Täte ich das? Selbst die Überlegung, dass das Offensichtliche wohl das beste Versteck ist, träfe hier nicht zu …
»Sato?«
»Ja, Obfrau Sutter?«
»Wo liegt der nächste Handelspunkt?«
»Noch gibt es in Ferrol einen Handelspunkt, aber dort sind die meisten Ressourcen entfernt. Auch in Porto lässt sich nichts mehr holen. Bleibt nur noch Algeciras bzw. Gibraltar.«
»Das ist nicht gerade um die Ecke.«
»Zweitausend Kilometer«, klärte mich Takuno auf. »Was ist dein Gedanke?«
»Mein Gedanke … du sagtest, wir sollten auf die Algen aufpassen. Ist der Algenwuchs so dicht, dass er dem Boot schadet?« Takuno drehte sich um und zog das Käppi ab.
»Die Algen können die Ausstoßöffnungen der Ballasttanks zusetzen, den Impeller behindern …«
»Würde es also Sinn machen, sein U-Boot hier zu verstecken?«
Er sah mich einen langen Moment an. Sato murmelte ein paar Sätze in ihr Mikrofon, die ich nicht verstand.
»Nein, mein Boot würde ich hier nicht verstecken. Bei diesen Temperaturen sind die meisten Buchten voller Algen. Drunter wegtauchen geht auch nicht. Wir haben nur zwanzig Meter Wasser unterm Kiel.«
»Gehen wir also davon aus, dass unser Gegner das ebenso sieht. Zudem macht es keinen Sinn, hier Boote zu bauen, denn der Transport von Rohstoffen übers Meer würde lange dauern und irgendwann auffallen. Die nordeuropäischen Häfen sind alle leergeräumt.«
Takuno kratzte sich den Kopf. »Also, was machen wir?«
»Wir stoppen genau hier, fahren nicht in die Reede. Ich habe ein ungutes Gefühl … die Drohnen haben eine Funkreichweite von dreißig Kilometern. Das genügt.«
»Okay, ich stimme zu. Wir können das auch von hier erledigen. Sato, schicken Sie die Drohnen los. Steuerstand? Voller Stopp!«
Ich zog die Unterlippe in den Mund und kaute darauf herum. Meine Unruhe blieb. Das ‚Warum hier‘ … »Sato, wie viele Drohnen sind an Bord?«
»Zwanzig Aufklärungs- und zwanzig Angriffsdrohnen.«
»Wir starten jeweils die Hälfte«, befahl ich und stand auf. »Gehen wir ins Boot.«


Mittwoch, 21. Februar 2148. Kurz vor Mitternacht. Ein großer Teil der Bunker in Brest war eingestürzt, die Mole zu weiten Teilen verlandet. Dort würde niemand mehr Boote bauen oder verstecken. Auch einen Handelsposten gab es seit dreißig Jahren nicht mehr. Ein ebensolcher Reinfall waren Lorient und Saint Nazaire. Nun lag die Gruppe über Nacht elf Seemeilen südlich der Loire-Mündung in der Baie de Bourgneuf in zwanzig Meter Wassertiefe auf Grund. Takuno und Sato neben mir an einem Tisch in der Messe. Von der Wand gegenüber blickten uns Khatri, Lehtonen, die Kommandantinnen und Kommandanten der anderen Boote an. Die Enttäuschung stand allen ins Gesicht geschrieben. Takuno drehte das Käppi unentwegt, bis Sato es ihm abnahm.
»Ich schlage vor, dass wir uns aufteilen«, forderte Lehtonen deutlich.
»Ich stimme zu«, erklärte Lin Zhang. »Wir vergeuden hier völlig nutzlos kostbare Zeit. Ich habe heute mit meinem Bruder im Pazifikkonglomerat gesprochen. Dort sind sie schon wesentlich weiter. Arbeiten Handelsposten nach Handelsposten ab. Was denken sich Jonna und der Gruppenrat nur dabei?«
Ich versuchte die Müdigkeit aus den Augenwinkeln zu reiben. Natürlich half es nichts. Lin Zhang und Lehtonen hatten recht. Von meinen Annahmen konnte und wollte ich weder den beiden noch der Gruppe etwas erzählen. Zum einen wusste ich nicht, wem ich trauen konnte, zum anderen bestand ja die Möglichkeit, dass ich mich in etwas verrannt hatte. »In Ordnung …« Takuno gab mir einen Tritt unter dem Tisch. Er war offenbar nicht einverstanden. »… Zhang/Lehtonen und Rodriguez/Khatri, ihr habt die Genehmigung für Bordeaux. Nehmt einen Versorger sowie die Boote 12560 und 12562 zur Absicherung. Der Plan ändert sich nicht. Ankern vor Cap Ferrat, mit Coptern zu den bezeichneten Koordinaten, Bunker untersuchen und zurück.«
Takuno seufzte leise. Er hob die Hand. »Ich möchte ergänzend vorschlagen, dass zwei Copter eine Kette aus Sonarbojen in einem Halbkreis um die Gruppe legen. Mindestens in einem Radius von fünf Kilometern.«
Ich nickte. »Das ist eine gute Vorsichtsmaßnahme. Kommandantin der Gruppe ist Lin Zhang. Die Führung beim Landeinsatz übernimmt Lehtonen. Neulinge werden keine eingesetzt.«
Lin Zhang lächelte in die Kamera. »Danke, Obfrau Sutter.« Sie tippte auf ihr Pad. »In einer Stunde brechen wir auf.«
»Für alle anderen geht es morgen um 0600 weiter«, erklärte ich. »Nun wünsche ich eine gute Nacht und der Gruppe von Lin Zhang viel Glück.« Ich schaltete ab. Sato stand auf, sammelte die Teebecher ein und warf sie in den Mülleimer. Sie streckte sich, griff in der Kühltheke nach einem Algensalat, einer Gabel und setzte sich auf die Tischplatte uns gegenüber.
»Mit Verlaub …«, begann sie, »… ich kann Obmann Takunos Bedenken nur teilen.«
»Seinen Tritt an mein Schienbein?«
Schweigend verschwand eine Gabel Salat in ihrem Mund. Dafür nickte sie.
»Uns aufzuteilen, schwächt uns«, sprang ihr Takuno bei. »Ich halte das für keine gute Idee.«
»Wir werden hier ebenso wenig entdecken, wie in den bisherigen Bunkern«, widersprach ich. »Lin Zhang hat recht: die Zeit läuft uns davon.«
Takuno nickte mit zusammengepresstem Mund. Er merkte, dass er nicht weiter kam. Sato aß ihren Salat und musterte uns abwechselnd. Ich stand auf. »Wir sehen uns morgen früh um 0600.« Müde verließ ich die Messe. Vor meiner Kabine wartete Jelena, auf dem Boden sitzend, angelehnt an die kühle Wand. Als sie mich kommen sah, stemmte sie sich hoch. »Du solltest schlafen, es ist schon spät …«
»Keine sehr freundliche Begrüßung«, erwiderte sie.
»Entschuldigung. Es war ein langer Tag und ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.«
»Können wir nicht noch ein bisschen reden?« Seufzend öffnete ich die Tür und schob Jelena in die Kabine. Mit wenigen Schritten war sie beim Bett und setzte sich drauf. Mir blieb nur die Bank.
»Zehn Minuten, mehr nicht«, legte ich fest. »In ein paar Stunden geht es schon wieder weiter.« Sie sah mich an. Vor der LED-Fläche an der Wand sitzend, die Beine ineinander gekreuzt. Ihre Glatze verschwand zusehends, das Licht spiegelte sich nicht mehr auf der Kopfhaut, sondern verfing sich in einem blonden Flaum, einer Ahnung von Haaren. »Takuno hat dich von oben bis unten scannen lassen …«
»Das war nicht fair«, begehrte sie auf. »Ich bin keine Attentäterin!«
»Aus deiner Sicht war es nicht fair. Aus unserer Sicht notwendig.«
Sie schwieg.
»Was ich eigentlich sagen wollte … hat der Scan gezeigt, ob du noch den Krebs in deinem Körper hast?«
»Er ist weg. Die Bestrahlungen haben wohl geholfen …«
Ich hob die Hand und fuhr über meine Haare. »Hast du sie schon gesehen?«
»Ja, jeden Morgen schaue ich in den Spiegel und hoffe, sie sind wieder ein Stück gewachsen …«
»Höre ich da Zweifel?«
Jelena antwortete nicht, schrieb mit dem Zeigefinger imaginäre Buchstaben auf den Tisch. Es war wohl ein Fehler, sie mitgenommen zu haben. Bei Retos Frau wäre sie wesentlich besser aufgehoben gewesen. Davon war ich überzeugt. Was ihr fehlte, war Zuwendung. Zeit, die eine Person mit ihr verbrachte.
»Warst du schon mal auf dem Festland?«, fragte sie plötzlich.
»Natürlich. So wie du. Auf Spitzbergen …«
»Nicht Spitzbergen. Auf den Kontinenten …«
Ich wurde hellhörig. »Ja, das gehört zu meinen Aufgaben.«
»Wie ist es da so?« Ihr Blick fixierte mich. Für einen Augenblick dachte ich daran, sie rauszuwerfen und ins Bett zu gehen, dann zog ich das Pad aus der Tasche, holte aus dem Archiv Aufnahmen unserer Einsätze und wischte das Bild an die Wand.
»Montevideo. Letztes Jahr im Sommer.« Die Kameradrohne zeigte das Einholen alter Containerschiffe in eine Dockinsel.
»Was sind das für großer Dinger?«
»Containerbrücken. Wir demontieren sie. Guter Stahl. Auf der Dockinsel werden sie zerlegt und in elektrischen Schmelzöfen eingeschmolzen.« Jelena folgte der Kamerafahrt mit fasziniertem Blick. Über die Bucht hinweg zur ehemaligen Raffinerie.
»Und diese großen Behälter?«
»Ein Tanklager. Daneben eine Raffinerie. Dort finden wir rostfreien Stahl.«
Ich wechselte die Aufnahme. »Das ehemalige Südafrika. Die Eisenerzmine in Kathu. Alles wird abgebaut, die Förderanlagen, alte Transportgeräte und …
Jelena drehte den Kopf. »Und?«
»Dort fördern Menschen noch Erze, tauschen sie gegen Medikamente und Gebrauchsgegenstände.«
»Leben auf den Kontinenten nur noch Infizierte?« Ich wischte weiter. Durban, Hafen und Gleisanlagen.
»Die meisten Menschen auf den Kontinenten sind infiziert. Aber Immune sind dort die Herrscher – und unsere Handelspartner …«
Jelena rieb mit Zeigefinger und Daumen ihr Kinn. »Stimmt es, dass man nirgendwo mehr wohnen kann?«
»Das stimmt nur bedingt. Schließlich bewohnen wir ja auch Spitzbergen, die Kerguelen, Hawaii und es gibt hier und da Außenposten. Aber auf den Kontinenten sind die Lebensumstände eine große Herausforderung. Hitze, Fluten, kaum Trinkwasser, die meisten Wälder sind verschwunden, die Versteppung macht große Fortschritte … selbst ohne die beiden viralen Pandemien hätten wir auf die Meere fliehen müssen.« Ihr Finger zeichnete wieder Figuren. Die Augen folgten den Linien. Ich deaktivierte das Pad.
»Werden wir sterben, Chatrina?« Der Mann mit dem Messer stand unsichtbar im Raum, neben uns. Ich konnte ihn riechen. Seinen Schweiß. Wie er uns Gewalt entgegen atmete. Der Traum wurde langsam zu meiner Realität. Jelena schwieg, legte sich auf dem Bett nieder, zog die Beine an, krümmte ihren Rücken. Es drängte mich zu ihr, auf die Bettkante, die Decke über ihrem schmalen Körper ausbreitend. Ängstlich näherte sich meine Hand dem Kopf neben meiner Hüfte, kraulte den Flaum. Ist es das, was eine Mutter tut? Einfach da sein? Ich wählte Takunos Code. Kurz darauf klopfte es und er trat ein, sah uns. Still setzte er sich dazu.
»Ich glaube, sie hatte gehofft, weinen zu können, Kenzaburo … aber es ging nicht.« Mit der Hand zog er mich zu sich. Wir schwiegen und warteten auf den Morgen.


Donnerstag, 22. Februar 2148, kurz vor sechs Uhr. Jelena schlief wie ein Stein. Takuno war fort. Als ich in der Dusche stand, spürte ich die Bewegung des Bootes. Wir lösten uns vom Grund und nahmen Fahrt auf Richtung La Rochelle. Einhundertsechzig Kilometer Seeweg, etwas über drei Stunden. Die andere Gruppe würde ungefähr jetzt ihren Zielort erreichen und die Copter aussetzen. Als ich die Dusche verließ, stand Jelena vor mir. Sie musterte mich von oben bis unten. »Du hast so viele Narben«, stellte sie erstaunt fest. »Sind die alle von deiner Arbeit als Polizistin?«
»Nein«, schüttelte ich den Kopf.
Jelena blickte verwundert. »Aber woher dann?« Ich cremte mich ein, zog Unterhose und Top an, hielt dann plötzlich inne.
»Setz dich, Jelena.« Sie tat, was ich sagte, während ich in die Borduniform stieg. »Ich bin eine Waise, wie du. Von meinen Eltern habe ich keine Ahnung. Ein Polizist hat mich aufgezogen, das hab ich dir erzählt …«
»Ja, das hast du schon erzählt.«
»Gefunden hat er mich bei einem Händler in Genua. Aus dieser Zeit stammen meine Narben. Er tauschte mich und einige andere Mädchen gegen Medizin ein und nahm mich mit. Ich war etwa in deinem Alter …«
Jelena starrte mich an; und durch mich hindurch. »Also war es keine schöne Zeit.«
»Nein, es war keine schöne Zeit. Und so gut wie jede Nacht träume ich davon.«
Sie stand auf, trat heran, legte ihre Arme um mich und drückte mit enormer Kraft zu. »Ich möchte, dass du mich adoptierst. Ich will zu niemand anderem«, hörte ich sie mit fester Stimme sagen. Der blonde Flaum auf ihrer Kopfhaut kitzelte mein Kinn. »Bitte, Chatrina! Nur dir vertraue ich!«
Nun kamen sie doch die Tränen. Kullerten an einem Stück zwischen die Härchen, über die samten glänzende Haut. Ohne Widerstand brach sich aus meiner Mitte ein Gedanke Bahn, ein Gefühl. »Ja, ich denke, das ist das, was ich auch will.«
»Wirklich?!«
Sie drückte sich von mir ab, die Hände um meine Oberarme gekrallt. Ich nickte. »Es fühlt sich richtig an, das zu tun.« Das Boot änderte den Kurs und wir gingen in Schräglage. Jelena lachte. Schnell presste ich sie an mich, bevor irgendjemand uns zu trennen vermochte.


Jonna sah mich zweifelnd an. »Du und Mutter?« Jelena drückte meine Hand unter dem Tisch.
»Sie will es und ich will es«, bestätigte ich. Was mochte unter Jonnas rothaarigem Schopf nun vorgehen? Letztendlich konnte es ihr egal sein. Jelena besaß keine Eltern mehr, die Adoptiveltern waren tot, sie war noch minderjährig und brauchte rein rechtlich eine Betreuungsperson. Für elternlose Kinder gab es auf Gruppe zwei eine Einrichtung. Als Vormund galt ein Ausschuss des Gruppenrates. Stand allerdings eine adoptierende Person zur Verfügung, gab man dieser Lösung den Vorzug. Und das konnte ich sein.
»Du bist viel unterwegs. Wo bleibt Jelena dann in dieser Zeit? Schließlich hast du keine Verwandten, Chatrina.«
»Bei Retos Frau. Sie wird quasi die Großmutter. Aber ich werde von nun an ihre Mutter sein.«
»… und ich deine Tochter«, vollendete Jelena mit einem Grinsen. Ich drückte ihre Hand ebenso fest. Es war wie Strom. Wie etwas, das schon ein Leben lang fehlte. Ein Teil von mir kehrte zurück, machte mich vollständiger.
»Na, meinetwegen«, gab sich Jonna geschlagen und griff nach einem Tablet. »Ich werde die nötigen Schritte in die Wege leiten …« Sie tippte einige Worte, dann sah sie auf. »Okay, Jelena … willkommen in der Familie. Aber jetzt muss ich mit deiner Mama noch ein paar Worte unter vier Augen reden. Geht das?«
»Ja, natürlich. Vielen Dank!« Sie stand auf und ich meinte, so etwas wie ein Leuchten neben mir zu sehen. Glänzende Augen, leicht rötliche Wangen, als wäre sie neu geboren. Die Tür des Besprechungsraumes fiel leise ins Schloss und Jonna räusperte sich. Sie atmete schwer und fiel deutlich in sich zusammen. Ein Häufchen Elend vor der Kamera.
»Es hätte nicht viel länger dauern dürfen, eure Mama-Tochter-Angelegenheit, aber … ich freue mich für dich …« Jonnas Anblick machte mich sprachlos. Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande. Sie hob den Arm und deutete auf die Stelle, an der das Implantat saß. Wir stellten eine verschlüsselte Verbindung her.
»Jonna, wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, wem ich trauen soll.«
»Da sind wir schon zwei. Was deine Situation nicht verbessert, und meine auch nicht. Aber du hast jedenfalls deine Mannschaft.« Unwillkürlich atmete ich tief ein und aus. »Ich habe nur irgendwelche Trottel um mich herum … «, fuhr sie fort. Ich schwieg. »Es gibt wieder Tote«, erklärte sie dann ungerührt. Von einem Augenblick auf den anderen wie ausgewechselt. »Von den inhaftierten Eltern bzw. den in Verbindung mit verschwundenen Babys festgesetzten Personen haben inzwischen vier den Freitod gewählt …«
»Vier?!«
»… ohne dass wir sie befragen konnten. Alle Inhaftierten waren und sind jedoch separiert. Untereinander konnten sie nicht kommunizieren, sich nicht absprechen.«
»Das ist beeindruckend. Wirklich. Ihr gemeinsamer Nenner existiert also schon länger und er ist augenscheinlich sehr mächtig.«
Jonna machte ein verächtliches Gesicht. »Hm, immer wenn etwas mächtig Einfluss hat auf Menschen, dass sie dafür sogar freiwillig in den Tod gehen, ist Ideologie im Spiel. Das gefällt mir nicht.«
»Dagegen gibt es kaum Waffen, Jonna … außer eine …«
»So ist es. Wir haben den Rest zunächst in ein künstliches Koma versetzt.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. Künstliches Koma? »Wie wollt ihr sie dann verhören?«
Jonnas Gesicht blieb regungslos. Sie antwortete nicht. Schlagartig wurde mir klar, was das bedeutete. Zweifelsohne versuchte sie mein offensichtliches Entsetzen einzuschätzen, bevor sie mir die nächste Tatsache um die Ohren schlug.
»Unsere Ideologen haben Insel 2208 gekapert. Auf dem Weg von Hawaii zu Gruppe 103 vor den Aleuten …«
Für einige Sekunden starrte ich schweigend in die Optik. Es fiel mir schwer, das zu schlucken. »Eine Insel gekapert?!«
»Ein Neubau. Wir haben 2208 gefunden. In gutem Zustand. Zwei Boote bringen sie im Moment zurück nach Hawaii.«
»Was ist mit der Transportmannschaft passiert?«
»Über Bord geworfen …« Ich schloss die Augen. Vierzig Menschen! »Es fehlte nur eine Sache … die Batterien.«
»Die Batterien?!« Ich suchte instinktiv nach einem Becher Algentee auf dem Tisch. Das Verlangen nach dem leicht bitteren Geschmack war plötzlich sehr intensiv. Was hatte Jonna gesagt? Batterien? Strom?
»Sind diese Batterien etwas Besonderes?«
»Das sind sie«, bestätigte Jonna. »Feststoff-Batterien auf Natrium-Basis. Eine Entwicklung des 21. Jahrhunderts, aber aufgrund unserer beschränkten Möglichkeiten bisher nicht umsetzbar. Sie machen uns jedenfalls erheblich unabhängiger und sind einfacher herzustellen. Alle neuen Inseln, Boote und Copter besitzen diese Batterien.«
»Energie also … denen fehlt Energie … oder die Möglichkeit, sie langfristig zu bevorraten. Sie brauchen mehr Unabhängigkeit.«
Jonnas Hand hob und senkte sich mit gestrecktem Zeigefinger, was mich an einen ehemaligen Ausbilder erinnerte. »Unabhängigkeit, ja. Diese unbekannten Boote werden das brauchen. Da geht nichts viel speicherbaren Strom. Passt also sehr gut in dein Motivkonstrukt.«
Dann hingen wir wieder unseren Gedanken nach, als ob es eine andere Realität gäbe, in der wir seit einigen Wochen lebten; eine unfassbare Realität. Ich erklärte mir das damit, nur noch zu reagieren, nicht mehr zu agieren, den Problemen hinterherzulaufen. Ein wichtiger Gedanke jedoch wollte mir nicht aus dem Kopf.
»Jonna … jetzt über die verschlüsselte Leitung noch ein Gedanke. Oder nennen wir es Intuition … wobei, nebenbei bemerkt, Takuno die identische Intuition hatte …«
»Nur zu.«
»Semjonowa … sie weiß mehr als wir, hoffentlich auch als du …« Jonna erstarrte. »… eventuell, weil sie ein Teil des Problems ist«, schickte ich hinterher. Ihre Starre löste sich erst nach einigen Momenten.
»Das habe ich jetzt nicht gehört …«
»Denk drüber nach, Jonna. Seit einigen Monaten haben wir diese neuen Batterien. Und ausgerechnet jetzt taucht eine Gruppierung auf, die erwiesenermaßen schon in Teilen mitten unter uns lebt. Genau dann verschwindet eine der neuen Inseln komplett, deren Bevölkerung keine Verwandten sonst wo hat. Man ist uns immer einen Schritt voraus, egal wo …«
Sie winkte ab. »Schon gut. Ich denke drüber nach und werde etwas graben.«
»Tu das …«
»Übrigens, Chatrina, fast vergessen … der Satellit hat eine große Wärmequelle bei 107 Ost und 78 Nord entdeckt. Das liegt vor einer der Sewernaja Semlja-Inseln. Der wissenschaftliche Rat ist aber der Meinung, es können nur Schiffsreaktoren der russischen Marine sein, die dort verklappt wurden. Wir werden ein unbemanntes Tauchboot dort absetzen.«
»Bei Reaktoren fallen mir die alten Sprengköpfe ein …«
»Ich weiß«, unterbrach sie mich, »aber wir haben im Moment keine freien Kräfte mehr zur Verfügung. Ich behalte es im Blick. Okay?« Jonna deaktivierte. Ich löste die Verschlüsselung auf und ging in die Messe. Jelena tat sich Pfannkuchen auf einen Teller. Bijan, Kano und Kazumi unterhielten sich angeregt. Ich musste noch eine Kleinigkeit entscheiden und setzte mich dazu.


»Mir ist langweilig«, erklärte Bijan.
Kazumi grinste und Kano klaute Jelena ein Stück vom Pfannkuchen. Sie sagte nichts, riss aber ein weiteres Stück ab und reichte es ihm. Ich kam aus dem Staunen nicht raus. Als wäre sie schon immer ein Teil von uns gewesen. »Ich habe Jelena adoptiert«, sagte ich aus einer Laune heraus. Alle starrten mich an. Nur meine neue Tochter grinste, kaute munter weiter und hielt Kano ein drittes Stück unter die Nase, der es dankend abnahm.
»Meine neue Familie …«, stellte Jelena erfreut fest.
»Wir haben Zuwachs«, bestätigte Kano.
»Glückwunsch, Chatrina.«
»Danke, Kazumi.«
Bijan hob die Hand. »Das kam jetzt sehr überraschend, oder?«
»Stimmt«, gab ich ihm recht. »Für mich auf jeden Fall. Jelena hat mich gefragt und … ich habe mich einfach gut gefühlt bei dieser Spontanentscheidung.«
Kano griff sich ein weiteres Stück Pfannkuchen. »Ist es abgesegnet?«, fragte er kauend.
»Jonna hat die Anträge eingebracht. Aber für uns beide«, ich lächelte Jelena an, »ist es schon erledigt. Nicht wahr?«
»Auf jeden Fall, Mama …«
Was für ein seltener und seltsamer Augenblick das doch war. Inmitten der Menschen, die meine Familie waren und sind, nun ein Mädchen neben mir zu haben, das nicht kämpfte, nicht ermittelte, nicht verhörte, dem ich ganz andere Gedanken und Gefühle widmen durfte. Dessen Welt sich von meiner völlig unterschied. Für das ich da sein musste … und durfte. Dann fiel mir ein, was ich ursprünglich im Kopf hatte.
»Kano?«
»Ja, Mama?«
Wir lachten. Und vergaßen für einen Moment die Verzweiflung der letzten Tage und Wochen. »Ich habe meine Entscheidung, dich zu meinem Stellvertreter zu machen, an Jonna durchgegeben. Zusammen mit deiner Beförderung zum Obmann, Ebene fünf.« Kano lehnte sich zurück und blickte an sich herab.
»Danke, Chatrina. Das bedeutet mir viel …«
»Mir auch, Kano. Und wenn wir schon dabei sind … Kazumis Beförderung zur Obfrau Ebene fünf ist schon akzeptiert.«
»Wirklich? Danke, Wahnsinn …«
Bijans Blick war einfach zu interpretieren. »Bijan, Steven und Max sind unsere Küken. Ihr müsst euch noch ein Jahr gedulden.«
»Geh ein paar Smoothies holen für uns«, schlug Kano vor. »Das bringt dich auf andere Gedanken.« Er antwortete auf Arabisch. Aber der Ton machte klar, dass es ein Fluchen war.
»Ist er jetzt sauer?«, fragte Jelena.
»Enttäuscht. Aber er hat nun mal das nötige Alter noch nicht erreicht«, erklärte ihr Kazumi. »Außerdem ist er immer nur zehn Minuten sauer«, versicherte sie. »Danach ist er wieder ganz der gute Bijan.« Jelena grinste. Sato stürzte in die Messe.
»Lin Zhangs Gruppe wird attackiert!«, rief sie und verschwand wieder. Mein Pad vibrierte. Ich stellte es ab, bevor der Alarmruf sich aktivierte.
»Macht euch abmarschbereit! Waffen- und Anzugkontrolle!« Dann rannte ich in die Zentrale.


Rotes Licht. Takuno winkte dieses Mal nicht. Ich drängelte mich durch die Menschen zum Kartentisch und setzte das Komm-Gerät auf, eine Kakophonie von Geräuschen im Hintergrund. Das Hologramm zeigte Position, Geschwindigkeit und Tiefe unserer Gruppe. Takuno registrierte meine Anwesenheit, sah mich an.
»Achtung, Sonar! Gibt es Kontakte?«
»Nur unsere Gruppe, Obmann«, hörte ich im Ohr. Unsere fünf Boote bildeten ein Pentagramm, den Versorger in der Mitte. Wir machten 25 Knoten Fahrt in zehn Meter Tiefe.
»Lehtonen und Khatri haben bei Cap Ferrat zum Versorger übergesetzt. Mit den Coptern sind sie entlang dieser Linie …«, er vergrößerte den Bereich von Cap Ferrat zur Stadt, »… Richtung Stadtzentrum geflogen, haben Position auf der dem Hafen gegenüberliegenden Anhöhe bezogen und sind dort unter Beschuss geraten.«
»Verluste?«
»Offenbar nur Piloten und Waffenbedienung.« Ich presste die Lippen zusammen und suchte zwischen den Stimmen, Händen, dem Blau des Hologramms nach einer Lösung, einem Weg raus aus all dem, was momentan passierte. Jelena fiel mir ein. Ich fühlte eine neue Art von Angst wie eine ungewollte Saat aufgehen. Die Angst um jemand, der mir überraschend nahestand wie noch niemand sonst. »Chatrina?« Takunos Hand schimmerte bläulich, als er sie durchs Hologramm schob und auf meinen Arm legte. Ich kehrte aus meiner Gedankenwelt zurück und lächelte ihn an.
»Fremde Boote?«
Er verneinte. »Nichts im Umkreis von fünfzig Kilometern.«
»Und darüber hinaus?«
Takuno veränderte die Lage des Hologramms. »Im Westen beginnt nach diesen fünfzig Kilometern in gerader Linie zum Cap Ferrat der Abbruch des Festlandsockels. Für einen Hinterhalt eine sehr geeignete Stelle. Wir sind recht zügig bei dreitausend Meter Wassertiefe. Um zu sehen, was hinter dieser Kante ist, müssten wir Sonarbojen aussetzen.«
»Copter sollen das sofort tun. Bojen und Tiefensonden.«
»Ich veranlasse das …« Er gab die Anweisung an Zhangs Gruppe weiter. Ich verkleinerte das Hologramm und zentrierte Bordeaux. Vier Anhöhen genau östlich des Hafens. Ein roter Punkt zeigte den Zielpunkt der Copter.
»Was ist das da?« Ich deutet auf eine größere Struktur.
»Ein großes Gebäude. Laut alter Karte eine ehemalige Sporthalle. Eingestürzt, mit Flugsand fast bedeckt, aber die Mauern bieten noch Schutz.«
»Können wir Verbindung aufnehmen?«
Er atmete tief ein und aus. »Zur Gruppe ja, zum Festland nicht.«
Ich war erstaunt. »Warum nicht?«
»Ein starker Störsender vermutlich …«
»Ruf Zhang«, bat ich ihn. Er stellte die Verbindung her. Die Geräuschkulisse auf Zhangs Boot war wesentlich lauter.
»Moment, Obfrau Sutter …« Gleich darauf ebbten die Stimmen ab, ihr Gesicht erschien auf dem Kartentisch. Verschwitzt und offensichtlich in großer Sorge.
»Wer genau ist an Land gegangen?«, wollte ich sofort wissen.
»Lehtonen und Khatri in voller Stärke.«
»Und es gibt keine Funkverbindung?«
»Nein. Es liegt eine Störfrequenz über dem ganzen Band. Der Sender ist in der Nähe des Landepunktes und hat offenbar nur begrenzte Reichweite, sonst könnten wir ebenfalls nicht kommunizieren.«
»Wann haben Sie festgestellt, dass kein Kontakt möglich ist?«
»Als das Feuer eröffnet wurde, fiel die Verbindung aus«, erklärte Zhang. »Getroffen wurden die Copter. Piloten und Waffenbedienung. Eine Pilotin hat es bis hierher geschafft, die anderen …«
»Also wissen Sie nicht, ob Lehtonen und Khatri unter Feuer geraten sind. Lediglich die Copter wurden ausgeschaltet?«
»So ist es«, bestätigte Zhang.
»Haben Sie Drohnen gestartet?«
»Selbstverständlich …«
»Mit welchem Erfolg?«, unterbrach ich sie.
»Vier Aufklärungsdrohnen. Sie wurden eliminiert.«
Ich schnalzte mit der Zunge. Unabsichtlich. Das kam nicht sehr oft vor und es war mir peinlich. »Wie lange brauchen wir noch bis dorthin?«, fragte ich Takuno.
»Etwa sechs Stunden. Der Versorger kann nicht mithalten, wenn wir volle Kraft laufen. Zudem haben wir ablaufendes Wasser …«
»Zhang … wir machen einen Plan. In einer halben Stunde sprechen wir uns wieder. Unternehmen Sie nichts bis dahin. Sichern Sie Ihren Rücken wie durchgegeben.« Sie nickte und deaktivierte. Über das Pad rief ich meine Truppe in den Besprechungsraum.


Mein Pad summte. Jonnas Symbol. Verschlüsselt über das Implantat. »Moment«, vertröstete ich alle, drehte mich auf die Seite und hielt das Pad an meinen Unterarm. Die Übertragung zweier Dateien wurde bestätigt. Mit einem Wisch öffnete ich sie und überflog den Inhalt. Ich hatte das Gefühl, dass alles Blut aus meinem Gesicht verschwand. Schnell quittierte ich den Empfang, zog die Schultern zusammen und atmete tief ein. Dann drehte ich mich wieder in den Raum. Takuno und Sato hörten mit einem Ohr, was aus der Zentrale für Informationen kamen. Auf dem Whiteboard leuchtete unser momentaner Kurs, entlang der Küste.
»Diese Stadt wurde schon vor mehr als fünfzig Jahren bis in den letzten Winkel durchkämmt. Ressourcen in nennenswerter Konzentration gibt es dort nicht mehr«, sagte Kano, auf sein Pad blickend. »Steht zumindest hier …«
»Vier Drohnen aus unbekannter Entfernung und Position auszuschalten, ist eindeutig Sache eines oder mehrerer Scharfschützen«, warf Aljona ein. »Und Copter vom Himmel holen geht am besten mit großkalibriger Munition. Du musst die empfindlichen Punkte kennen und auch noch vorhalten …«
»Also Schützen mit Erfahrung, meinst du …«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Wie viele Einsätze hattet ihr, bei denen Scharfschützen Anteil hatten oder etwas in der Art wie jetzt geschah?«, fragte Takuno.
»Ein einziger«, antworteten Kano und Aljona wie aus einem Mund.
»Ja, das war vor zwei Jahren in Casablanca. Ein für tot erklärter Polizist tauchte im dortigen Handelsclan auf und bot seine Dienste an«, erklärte ich Takuno.
»Was ist aus ihm geworden?«
»Du meinst, ob das hier der Typ sein könnte?« Aljona lächelte spöttisch. »Nein. Denn ich habe damals dafür gesorgt, dass er das nicht mehr tut.« Maximilian klopfte ihr auf die Schulter. An Überheblichkeit mangelte es Aljona nicht. Aber auch nicht an bedingungsloser Loyalität. Sato räusperte sich und klopfte mit dem Daumen auf den Tisch.
»Was genau passiert hier? Unbekannte verwickeln uns an einem wertlosen Punkt in ein Gefecht … für was? Wussten sie, dass wir kommen? Kam unser Auftauchen überraschend? Fremde U-Boote sind offenbar nicht vor Ort – oder wir haben sie noch nicht entdeckt, aber … während alle anderen Gruppen Handelsclans unter Druck setzen, untersuchen wir zweihundert Jahre alte U-Boot-Bunker …«
»… und treffen zufällig auf einen sehr gut bewaffneten und ausgebildeten Gegner«, vervollständigte Takuno Satos Gedanken.
»Wenn es Zufall ist, dann gut, lösen wir das Problem«, warf Kazumi ein. »Wenn es kein Zufall ist, dann … ja, was hat der Gegner erwartet? Wenn er sich bewusst wird, wie groß unsere Gruppe ist, weiß er doch, was jetzt kommt … oder?« Ich dachte an Jonnas Nachricht, lehnte mich an und suchte in Satos und Kazumis Fragen nach dem Knoten, den wir zu erkennen versuchten. Alle starrten auf die Karte an der Wand. Die stetig aktualisierte Position. Sechs Boote … wir passierten im Moment die Île d’Yeu, zwei Stunden bis La Rochelle, dann die Untersuchung des Bunkers, der Umgebung. Erst gegen Abend wären wir regulär in Bordeaux eingetroffen, bei beginnender Dunkelheit … vielleicht erst morgen früh ins Stadtzentrum aufgebrochen …

»Wir sind zu früh«, stellte ich unvermittelt fest. »Zhangs Gruppe ist zu früh. Hätte ich nicht ihrer Bitte nachgegeben, käme nun erst La Rochelle an die Reihe. Wir wären frühestens heute Abend am Cap Ferrat eingetroffen. Weiß der Gegner, dass wir uns geteilt haben? Nein. Eine Spontanentscheidung meinerseits, nicht wahr? Das konnte niemand wissen oder ahnen …«
»Bedeutet aber auch, dass der Gegner noch nicht richtig aufgestellt war«, vermutete Takuno, »er hat noch nicht mit unserem Erscheinen gerechnet, Zhang hat ihn überrascht und es wird erst noch richtig unangenehm … außerdem ist er jetzt …«
»… alarmiert«, beendete ich den Satz. Ich kratzte meinen Hinterkopf, legte das Pad auf den Tisch und drehte es einige Male. Dann schaute ich in die Runde. Alle sahen mich an. »Zeigen Sie mir Bordeaux, Sato.« Sie vergrößerte die Stadt. Fünf Anhöhen, unterbrochen durch Einschnitte östlich der Garonne. Zerfallene Gebäude, teilweise mit Dünen durchsetzt. Kaum Vegetation. »Wenn wir volle Kraft laufen, Takuno, wann können wir an der Garonne-Mündung sein?«
»Äh … in zwei Stunden, aber dann kann man uns bis nach England hören, und der Versorger schafft nicht mehr als 25 Knoten.«
»Aljona … die von dir vermuteten Waffen können nicht von jedem bedient werden, nicht wahr?«
»Langes Training ist erforderlich …«, bestätigte sie.
»Handelsclans wollen mit uns Geschäfte machen, brauchen Medikamente und technische Unterstützung. Warum sollten sie die Hand abhacken, die sie füttert? Also gehen wir mal davon aus, der Gegner hat einen Trupp dort abgesetzt. Wie?« Die Antwort gab ich mir selbst. »Mit U-Booten. Ebenso wie wir das tun. Demzufolge warten die Boote irgendwo …«
»Unterhalb des Festlandsockels. In einer Tiefe, die wir nicht erreichen«, beendete Takuno. Ich stand auf, stellte mich vor das Whiteboard und deutete auf einen Punkt nördlich der Mündung.
»Zwei Mannschafts-Copter des Versorgers machen wir jetzt auf dem Oberdeck fest. Wir fahren aufgetaucht. Du setzt uns hier ab», ich tippte auf einen Punkt nördlich der Garonne-Mündung. »Von diesem Punkt fliegen meine Leute und acht Neulinge so tief wie nur möglich entlang des Ostufers zu einer Stelle nördlich der ersten Anhöhe …«, markierte dabei mit dem Finger eine Flugstrecke. »Das sind etwas über 120 Kilometer, also zwanzig Minuten. Die Copter fliegen jedoch zurück zum Versorger …«
»Der Versorger wird zwei Stunden später ankommen«, gab Takuno zu bedenken.
»Egal. Zudem bleiben zwei Boote beim Versorger als Aufpasser. Sie sollen beide nördlich der Mündung auf Grund gehen und sich tot stellen.«
»Zwei?«, wunderte sich Takuno. Ich ignorierte seine Zwischenfrage.
»Und was machen wir?«, fragte Sato.
»Auf die Lauer legen. Der Abbruch des Festlandsockels … ist da Mischwasser oder vielleicht eine andere Temperaturschicht?« Takuno lächelte unmerklich und fixierte mich mit seinem undurchdringlichen Blick. Ich meinte, ein helles Flackern in seinen Pupillen zu erkennen.
»Bei einsetzender Flut, um diese Jahreszeit, die Dichte … es werden mehrere thermische Schichten sein, sobald man über die Kante kommt …«
»Wer also von unten kommt, ist erst mal im Nachteil?«
»Ein kurzer zeitlicher Vorteil für uns, ja«, bestätigte er. »Wir werden uns tot stellen, mit bewässerten Rohren und geöffneten Luken …« Ich nickte und fing Satos ungläubigen Blick auf.
»Lass die Boote in angemessener Entfernung einen nach Westen offenen Halbkreis bilden«, wies ich ihn an, ging zum Tisch, nahm das Pad und rief Zhang. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. Verschwitzt und offenbar nicht glücklich mit der Lage. Ich berichtete von unserer Vermutung und erklärte ihr den Plan.
»Zhang, wenn es wirklich andere Boote geben sollte, haben wir die Möglichkeit, eines oder mehrere zu untersuchen. Diese Gelegenheit sollten wir uns nicht entgehen lassen.«
Takuno kam heran und schaute über meine Schulter. »Wir beraten später über die besten Abfangpositionen«, teilte er Zhang mit.
»Gut, aber wann erfahren wir, wie der Fortschritt der Aktion in Bordeaux ist?«
»Zhang, entweder kommt der Gegner, um ein erfolgreiches Team abzuholen, oder um die Reste einzusammeln, nichts zurückzulassen, was uns Hinweise geben könnte. In beiden Fällen haben wir die Möglichkeit, an so ein Boot zu kommen.«
Zhang schwieg für einen Moment, hob dann die Hand. »Viel Erfolg für Sie und uns.«
Sie deaktivierte. Mein Blick fiel auf die Karte, dann steckte ich das Pad ein. »Kano, wir nehmen nur leichte Kampfanzüge mit. Ich will schnell sein. Nur Handdrohnen, keine großen. Aber dafür doppelt so viele. Kümmere dich um die Akten der Neulinge. Wähl nur die wirklich besten aus. Wenn alles vorbereitet ist, ruht euch aus, esst eine Kleinigkeit.«
»Ist gut, Chatrina.«


Takuno schaltete den Projektor aus und war im Begriff, meinen Leuten zu folgen. Sato steckte ihr Pad ein und warf mir dabei einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte, bevor sie ebenfalls den Besprechungsraum verließ.
»Kenzaburo, bitte bleib noch«, bat ich ihn. Er setzte sich und ich gab der Tür einen Stoß. Klackend fiel sie ins Schloss. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ihn in meine Gedanken einweihen zu wollen. Er brauchte ebenso einen klaren Kopf wie alle anderen.
»Du musst dir keine Gedanken machen, Chatrina, wird schon schief gehen«, eröffnete er mir und ich musste lächeln. Er vermutete zurecht, dass ich voller Ängste und Ahnungen war. Ihn zu verlieren durch eine meiner Entscheidungen … unvorstellbar. Doch das schob ich in eine dunkle Ecke.
»Ich habe von Jonna zwei Dateien bekommen«, eröffnete ich ihm und legte das Pad auf den Tisch. »Wir haben einen verschlüsselten Kanal für unsere Kommunikation. Ich informiere dich jetzt über den Inhalt, denn danach werde ich sie wieder löschen. Setz dich.«
Er zögerte einen Moment. Vergeblich suchte ich in seinem Gesicht nach einer Regung. Dafür beneidete ich ihn. Langsam ließ er sich auf dem Stuhl nieder.
»Wir fragen uns alle, was 200 Jahre alte U-Boot-Bunker für einen Wert haben in diesem Versteckspiel und wer auf die Idee kam, uns etwas so Sinnloses durchführen zu lassen. Jonna bekam diese Anweisung von Semjonowa und Khaled Hamza …«, erklärte ich knapp und schob ihm mein Pad über den Tisch. Er beugte sich vor und las. »Wir haben uns auch gefragt, ob es nicht sein kann, dass unsere Kommunikation abgehört wird und wieso wir immer einen Schritt hinterherhinken …« Ich ließ ihn weiterlesen und dachte an Jelena. Meine Sorge um ihr Leben war ebenso mächtig. Zwei geliebte Menschen auf einem Boot …
»Khaled Hamza … der Obmann der Ressourcenbeschaffung«, stellte er mit matter Stimme fest. »Und Semjonowa …«
»Die Batterien der Copter und der Boote unterscheiden sich im Aufbau und der Effizienz von denen auf einer Insel. Beide führen besonders fähige und ausgereifte Entwicklungen dieser neuen Technik mit. Und unsere zwei Versorger sind Neubauten inklusive der neuen Copter.« Ich machte eine Pause. »Es geht um die Akkumulatoren, Kenzaburo. Erwischt der Gegner einen Versorger, hat er auf einen Schlag alles, was er braucht.«
»In der Tat …«
»Semjonowa hat angeordnet, diese Bunker aufzusuchen. Angefangen bei Brest, so dass jemand genügend Zeit hatte, einen Hinterhalt in Bordeaux zu legen …«
»Wir sind ihm aber zuvorgekommen durch Zhangs Drängen.«
Ich nickte. »Jonna schreibt nur, dass sie einen Hinterhalt vermutet … nun, das können wir inzwischen bestätigen. Sie bittet uns, falls sie recht hat, ihr dies gleich mitzuteilen, um beide verhaften zu lassen. Aber damit werden wir warten.«
Takuno gab mir das Pad zurück.
»Warum das?«
»Gebe ich jetzt einen Zwischenbericht und Jonna reagiert unbeherrscht, lässt sie vielleicht beide zu früh verhaften. Dann weiß unser Gegner mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass hier etwas nicht so läuft wie geplant und bläst seine Aktion ab. Das wäre fatal, denn ich will so ein Boot – und einem dieser Menschen in die Augen sehen! Komme, was wolle!«
Takuno schloss die Augen, rieb sich intensiv den Kopf und atmete tief ein und aus. Ich beugte mich zu ihm, legte die Hände auf seine Knie, spazierte mit je zwei Fingern seine Oberschenkel hinauf, ließ sie an seinem Penis zusammentreffen und strich wieder zu den Knien zurück. Er seufzte, legte seine Stirn an meine.
»Warum können wir nicht einfach irgendwo zusammen ein ruhiges und friedliches Leben führen, mit Jelena, ich als Papa, du als Mama …«
»Ich dachte, du bist ein Seemann, Kenzaburo Takuno?«
»Das bin ich wohl, ja. Und du eine Kämpferin …«
Ich griff um seinen Hinterkopf, zog ihn zu mir und küsste den Seemann.


Durch die Turmschleuse suchte ich die ruhige Wasseroberfläche nach etwas ab, das mir die Gewissheit gab, richtig zu handeln; diese Aktion zu einem Erfolg führen zu können. Das Meer war spiegelglatt. Keine Dünung. Völlige Windstille und 30 Grad Außentemperatur über dem Wasser. Die beiden Copter standen mit laufenden Rotoren auf dem Vordeck. Flinke Hände kontrollierten den Sitz meines Rucksacks, Waffen- und Munitionsgurte, Sprechfunk. Zwei Schläge mit der flachen Hand auf die Schulter.
»Alles in Ordnung!«, rief mir Sato ins Ohr.
»Danke, Sato!«, erwiderte ich, drehte mich und sah zwei Tränen ihre Wange runterkullern. Sie erschrak und wischte sie schnell ab, schniefte, trat einen Schritt zurück, bevor ich auf dumme Gedanken kam. Die rechte Hand griff nach dem Schleusenschalter. Ich verstand, grüßte und trat ins Freie. Unter meinen Füßen der schwarze Stahl von Boot 12651. Zeit aufzubrechen, um den hinteren Rotorenring herum in den Mannschaftsraum. Die Luke schloss sich und es wurde angenehm still.
»Los geht‘s«, sprach ich ins Mikrofon. Wir hoben ab, neigten uns nach vorne und begannen den Flug nach Bordeaux. Zwanzig Minuten in geringstmöglicher Höhe. Vier der Neulinge in meinem Team. Die anderen vier im zweiten Copter, zusammen mit Kano, Hilario, Steven und Bijan. Ich setzte mich neben Aljona. Sie grinste mich an.
»Endlich geht es mal wieder nach draußen. Gott, habe ich das vermisst …«
Ich knuffte sie auf die Schulter. Aljona war eine der Wenigen, die sich nach Festland-Einsätzen sehnten. Und wenn es schwierig wurde, lief sie zur Höchstform auf.
»Entschuldigung, Obfrau Sutter …« Die Stimme kam vom jungen Mann mir gegenüber.
»Was haben Sie auf dem Herzen, äh …«
»Nung Chih Cao, Obfrau. Nennen Sie mich bitte Nung.«
»Nung Chih Cao? Ist das ein chinesischer Name?« Er schüttelte den Kopf.
»Meine Vorfahren stammen aus Vietnam, vom Volk der Nung.«
»Das habe ich ja noch nie gehört«, meinte Aljona. Der junge Mann bedachte sie mit einem ernsten Blick. Fast wie Takuno, nur kompromissloser vielleicht.
»Ignorieren Sie Aljona. Sie sagt, was sie denkt. Was haben Sie für eine Frage?«
»Keine Frage«, erwiderte er. »Eine Bitte …«
Ich nickte und hob auffordernd eine Handfläche. »Nur zu.«
»Ich habe gehört, dass in Ihrem Team ein Spezialist für lautlose Annäherung fehlt …«
Das überraschte mich, denn Informationen über vakante Positionen blieben grundsätzlich unter Verschluss. »Sagt man wo?«
»Auf Spitzbergen. Wir unterhalten uns, in welche PU wir möchten …«
»Und Sie möchten zu mir als Spezialist fürs Anschleichen?«
»Unbedingt. Ich bin gut!«
»… Achtung, wir nähern uns der Küste!«
Ich tippte auf das Mikro. »Schalten Sie die Außenbeobachtung ein. Legen Sie die Sensorendaten auf die hinteren Schirme.«
»Verstanden, Obfrau.« Die Bildschirmreihen über unseren Köpfen aktivierten sich. Akustik, Radar, Infrarot, CO2-Spektrometer, Falschfarben.
»Beobachtet die Schirme! Wenn irgendwo ein Staubkorn fliegt, will ich das wissen! Pilot! Geben Sie die Flugdaten nach hier.«
»Kommt!« Ein weiterer Schirm zeigte die Flugdaten der beiden Copter. Knapp 300 Kilometer in der Stunde, Südost, fünfzehn Meter Höhe, variierend. Mein Blick fiel auf Nung, der mich immer noch mit demselben ernsten Gesichtsausdruck fixierte. Eine nicht zu übersehende Unbedingtheit lag in seinen Augen, etwas wie eine Aura um ihn herum. Er wusste, dass er das leisten konnte und strahlte dies aus. »Gut, Nung«, stimmte ich zu. »Sie haben den Job.«
»Danke, Obfrau.«
Ich deutete nach rechts. »Aljona, Scharfschützin, hast du ja schon kennengelernt. Rechts von dir, der gleich anfängt zu schnarchen, ist Maximilian, Kommunikation …«, ich trat gegen dessen Stiefel. »Max! Beobachte die Schirme!«
Der Copter vollführte einen Sprung nach oben. »Entschuldigung!«, kam die Pilotenstimme aus dem Kopfhörer.
»Nung! Zwei Sitze links von dir ist Kazumi, Sanitäterin.«
»Ich werde Sie nicht enttäuschen, Obfrau Sutter.»
»Er nimmt den Mund ziemlich voll«, merkte Aljona an. Ich musste grinsen, denn das war mehr oder weniger ihre Königsdisziplin.

Wir erreichten die Küste. Unter uns Dünenlandschaft bis weit ins Innere. Vereinzelte Busch- und Strauchreihen, dann Reste von Dörfern, verrostete Stahlgerippe ehemaliger Fischkutter, überwucherte Straßen. Überbleibsel der Zivilisation.
»Kontakte?!«, rief ich ins Mikro.
»Negativ.«
»Wir umfliegen Royan im Norden«, teilte der Pilot mit. Die Maschine ging in Schräglage und gewann an Höhe, zog über einige Erhebungen hinweg. Vereinzelte Gehöfte ohne Dächer, Reste von Mauern und ab und zu fast intakte Kamine. Montagne-sur-Gironde wanderte über den Bildschirm, teilweise unter Wasser. Bei aufkommender Flut breitete sich der Fluss wesentlich weiter ins Landesinnere aus.
»Bitte 3D-Ansicht …«, bat ich den Pilot.
»Kontakt voraus«, informierte uns Kazumi. »Ein Feuer oder wohl eher eine Feuerstelle.« Wir näherten uns zügig. »Fünf Wärmequellen, vier davon Menschen. Jetzt optisch erfasst …«
»Wer macht bei der Hitze ein Feuer?«, schüttelte Aljona den Kopf.
»Einzelheiten, Kazumi?«
»Keine Gefahr, Chatrina. Infizierte. Erhöhte Körpertemperaturen, optisch in schlechtem Zustand.« Wir zogen an ihnen vorbei. Ob sie zu uns herüberblickten, uns zur Kenntnis nahmen, war nicht festzustellen.
»Wir hätten sie ausschalten sollen«, meldete sich Nung.
»Da ist was dran«, pflichtete ihm Aljona bei. »Könnten auch Informanten sein.«
»Lehtonen und Khatri sind unser Ziel. Wir wissen nichts. Vielleicht benötigen sie dringend unsere Hilfe …«
»… oder sie legen die Füße hoch, bis endlich jemand kommt, um sie abzuholen«, ergänzte Aljona.
»Möglich«, erwiderte ich, »aber unerheblich.« Die dritte Möglichkeit sprach niemand an und ich vermied es, daran zu denken. Nung blickte starr geradeaus. Durchaus wahrscheinlich, dass er kurz vor seiner Feuertaufe stand.
»Wir passieren Blaye und drehen landeinwärts nach Pugnac«, teilte der Pilot mit.
Es war an der Zeit, eine letzte Kontrolle durchzuführen. »Kontrolliert noch einmal Waffen und Atemschutzmasken. Sind die Brillen in Ordnung? Infrarot, Nachtsicht und sichtbares Licht?«
»Kontakt«, meldete Kazumi. »Eine Gruppe Menschen auf einer Straße vor uns! Zweiundzwanzig Wärmesignaturen. Sehr unterschiedliche Körpertemperaturen … auch viel zu niedrige.«
»Infizierte«, kommentierte Kano. Ich beobachtete die Neulinge. Mit welcher Ausdauer und Genauigkeit sie ihre Ausrüstung kontrollierten. Exakt so, wie man es ihnen in den Ausbildungsjahren eingeimpft hatte.
»Sie haben uns bemerkt. Einige bleiben stehen …«
»Reaktionen, Kazumi?«
»Nein, Chatrina. Sie ziehen weiter.«
»Arme Schweine …«, murmelte Kano.
»Wir überqueren gleich die Dore«, informierte der Pilot.
»Macht Euch bereit«, ordnete ich an und blickte in die Runde. »Pilot … nach dem Absetzen sofort zurück zum Versorger. Nehmen Sie einen anderen Weg. Weiter im Landesinneren. So tief und schnell wie möglich!«
»Verstanden, Obfrau.«
Nung arretierte das Magazin in seiner Waffe und presste den Kopfhörer in sein Ohr. »Neulinge, hört gut zu!« Ich sah jeden Einzelnen an. »Da draußen gilt: Was ich sage, wird gemacht! Keine Einzelaktionen!«
Vom Pilot kam ein Pfeifsignal über die Kopfhörer. »Achtung! Wir sind über der bezeichneten Stelle. Straßenkreuz östlich der Anhöhen und landen jetzt!« Wir lösten die Gurte, zogen Masken und Brillen auf. Ein Ruck ging durch den Copter, die Luke öffnete sich. Kazumi sprang als erste hinaus, wir anderen folgten. Das erste, was ich spürte, war die Wärme. Dreißig Meter neben uns landete der zweite Copter.


»Max, wann wird es dunkel?«, flüsterte ich ins Mikro.
»In einer Stunde.«
»Hast du die Kommunikation überprüft?«
»Hab ich, Chatrina. Keine Verbindung möglich.«
»Kannst du den Störsender orten?«
Er schürzte die Lippen, war für ein paar Sekunden hochkonzentriert. »Mit drei Drohnen kann ich triangulieren.«
»Dann leg los.«
Wir waren der großen Straße gefolgt, soweit sie noch erkennbar war. Etwa anderthalb Kilometer in südlicher Richtung und bezogen dann Stellung in einem ehemaligen Wohngebiet. Ein stabil aussehendes Wohnhaus wurde unser erster Anlaufpunkt. Von hier waren es noch gute zwei Kilometer bis zur letzten bekannten Position Lehtonens. Eine Stunde bis zur einsetzenden Dämmerung.
»Kano, wir setzen die Drohnen aus. Sechs Stück. Fünf auf Infrarot und eine für sichtbares Licht. Max, verbinde dein Tablet mit den Drohnen …«, ich deutete auf eine gräuliche Wand uns gegenüber, »… und gib die Karte auf diese Wand da aus. Die Neulinge bleiben alle hier.«
Kano und die anderen verließen das Haus. Mir fielen die Geräusche auf, Schritte zwischen Gerümpel, aufgewirbelter Dreck. Kurz erinnerte ich mich an die Wohnung, in der mein Stiefvater mich aufzog. Dort war immer alles peinlich sauber.
»Können die Drohnen nicht gesehen werden?«, wollte Nung wissen.
»Unwahrscheinlich«, antwortete Max. »Wir verwenden Handdrohnen. Viel zu klein. In fünfzig Meter Höhe siehst du sie kaum, geschweige denn hörst etwas.« Das Bild erschien. Nach und nach die Einblendungen der Drohnenkameras, gelbe Punkte zur Positionsangabe, Höhe und Geschwindigkeit …
»Sehr gut, Max.«
Er hörte es nicht. Ich setzte mich auf die Reste eines Tischs, dessen Beine abgebrochen waren und lauschte Max‘ Kommandos zur Triangulation. Nung sah ihm über die Schulter. Die anderen drei Neulinge machten nicht den Eindruck, als fühlten sie sich wohl in ihrer Haut. Aus einer Beintasche holte ich einen Algenriegel, zog die Maske hoch, aß ihn auf, trank einen Schluck vom Elektrolyt und wartete. Lehtonen und Khatri … vielleicht nicht mal zwei Kilometer entfernt – oder schon tot. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass all das, was wir jetzt erlebten, an Neuem versuchten umzusetzen, die Polizeiausbildung von Grund auf verändern würde … Jelenas Bild vor meinem Auge unterbrach jäh diesen Einfall. Takuno und Jelena auf einem Boot …
»Dort ist es«, hörte ich Max‘ Stimme wie aus der Ferne. »Der Störsender!« Er ging zur Wand und deutete auf ein einzelnes Gebäude, keine hundert Meter von der eingestürzten Sporthalle entfernt. Ich sprang auf, stellte mich hinter ihn, eine Hand auf seiner Schulter.
»Gute Arbeit, Max. Teil die Fläche von uns bis zu Lehtonens vermutetem Standpunkt in parallele Linien und lass die Infrarot-Drohnen so hoch fliegen, dass man sie nicht hört. Einmal hin und zurück. So viel Fläche wie möglich abdecken. Dort wo es Signaturen gibt, schickst du die sechste Drohne hin.«
»Geht in Ordnung, Chatrina, ähm … deine Maske.« Für einen Moment war ich sprachlos, griff an die Stirn und setzte sie auf.
»Danke.« Ich setzte mich wieder, ließ aber den Blick nicht von der Karte. Das zerbröselnde Grau der Wand verschwand unter den bräunlichen Bildeindrücken der Infrarotkameras. Meter um Meter näherten sie sich einer gemeinsamen Linie westlich der Halle. Nichts war mehr übrig vom Leben in dieser Stadt. Lediglich tote Gebäude, halb verfallen, Sand und Buschwerk zwischen ihnen.
»Signatur«, kam Hilarios Stimme aus dem Kopfhörer. Eine rötliche Fläche erschien auf der Wand. An den Rändern orange, die Spitze lila.
»Körpertemperatur, knapp 37 Grad«, bestätigte Max.
»Ist das ein Mensch?«, fragte Nung erstaunt.
»Ein Mensch, der auf dem Boden liegt. Der Kopf ist immer am wärmsten. Stünde er, läge die heißere Farbe im Zentrum«, erklärte Max.
»Bild kommt«, sagte Kazumi. Max hob die Hand, streckte zwei Finger in die Höhe. Auf der Karte tauchten zwei weitere Signaturen auf. Kazumis Drohne stand über dem Gebäude des Störsenders.
»Vergrößere das bitte, Kazumi«, bat ich. Das Dach sprang uns förmlich entgegen.
»Da liegt jemand«, deutete Nung auf einen Schatten.
»Neben diesem Schatten, das kann der Störsender sein …«, vermutete Max.
»Kazumi, hol uns die beiden anderen Signaturen auf den Schirm.«
Das Bild minimierte, sechzig Meter Höhe zeigte die Kamerainfo, es ging nordwärts, knappe 240 Meter. Ein dreischenkliges Gebäude, zwei große Löcher im Dach. Auf einem Stück zwei Menschen, identische Positionen, liegend.
»Scharfschützen«, kommentierte Aljona knapp. Drei Scharfschützen. Einer davon neben dem Störsender …
»Max, zwei Infrarotdrohnen bleiben bei den Signaturen. Die anderen drei zur Halle. Dort müssten unsere Leute sein. Kazumi, such nach den abgestürzten Coptern. Steig höher. Die müssen ja irgendwo hier liegen.«
»Ist gut.«
Ich kniete mich neben Nung. »Dein erster Auftrag: Geh auf das linke Gebäude. Setze den Scharfschützen außer Gefecht, schalte den Störsender ab.«
»Ist so gut wie erledigt …«
»Das hoffe ich doch, aber hast du nicht was vergessen?« Er sah mich verwundert an und schüttelte den Kopf. »Du schaltest ihn aus … in diesem Moment wollen seine Kollegen mit ihm sprechen. Sehr schlecht. Was machst du?«
»Wir müssen sie gleichzeitig ausschalten«, antwortete er sofort.
»Aljona und Kano werden aufs andere Gebäude gehen. Wir warten, bis es dunkel ist.«
Nung stand auf und setzte sich an die gegenüberliegende Wand, nahm zwei Riegel aus der Tasche. »Ich esse noch was …«
»Niemand im Gebäude, keine Signaturen, Chatrina, verdammt … wo sind die?« Kanos Stimme. »Was machen wir?«
»Ich will verdammt sein, wenn das hier mit rechten Dingen zugeht …«, kommentierte Aljona die Situation. Ich ertappte mich dabei, ihr zuzustimmen.
»Max, wenn eine Infrarotdrohne höher steigt, kann sie dann alle drei Wärmesignaturen empfangen?«
»Schwach, aber es wird ja zunehmend dunkler und kühler.«
»Gut. Kazumi, du suchst visuell nach den Absturzstellen. Hilarios Drohne bleibt über den Gebäuden. Der Rest fliegt auf den vorbezeichneten Kursen bis auf Höhe des U-Boot-Bunkers und versetzt wieder zurück.« Die Bestätigungen kamen und ich setzte mich neben Nung. Er trank einen Schluck Elektrolyt und drehte dann den Kopf zu mir.
»Müssten wir nicht so schnell wie möglich diesen Störsender ausschalten?«
»Das sollten wir in der Tat, Nung. Da gebe ich dir recht. Aber der Gegner weiß, dass wir kommen und genau das tun müssen, denn wir wollen ja Kontakt zu Lehtonen und Khatri herstellen – und auch unsere Extraktion organisieren. Was liegt also näher, als eine Falle aufzubauen? Zumal wir ihm dazwischen gefunkt haben durch Zhangs vorzeitiges Erscheinen.«
»Aber es sind nur drei?«
»Ja, vielleicht …«
Er lehnte sich an und schwieg. Seine Ungeduld konnte ich ihm nicht verübeln.

»Darf ich dich etwas fragen, Nung?«
»Natürlich.«
»Woher stammen deine Ambitionen?«
»Mein Vater hat mich das gelehrt. Es ist wohl eine alte Tradition meines Volkes.«
»Er hat dich das auf einer Insel gelehrt?«, wunderte ich mich.
»Nein, ich bin auf Hawaii geboren. Dort war ich oft mit meinem Vater unterwegs. Er brachte mir bei, mich anzuschleichen an das, was er vorher dort versteckte.« Ich dachte nach. Es machte wenig Sinn, sich an ein nicht lebendes Objekt anzuschleichen. Aber Nung ahnte, welchen Zweifel ich hegte an solch einem Tun.
»Er hat natürlich nicht irgendwas versteckt, sondern einen Annäherungsdetektor. Ich habe sehr lange gebraucht, bis ich so gut war, dass der Alarm nicht mehr auslöste.«
Ich war beeindruckt. »Er war wohl nicht bei der Polizei, sonst wüsste ich von so einem Verfahren …«
»Nein, er war Ingenieur auf einer der Inselwerften.«
»Hm, Nung, ich werde mal mit Jonna Anderson reden. Mir scheint, diese ‚Nung-Methode‘ ist es wert, als Ausbildungsmethodik integriert zu werden.«
»Wirklich?!«
»Signaturen …« Kanos Stimme klang angespannt. Ich suchte an der Wand das entsprechende Bild.
»Eine Absturzstelle«, informierte Kazumi. »Sieht aus wie zwei Leichen. Hunde fressen an ihren Körpern …« Nung drehte den Kopf auf die Seite.
»Geh ein bisschen tiefer, Kazumi. Vergrößern …« Sie verringerte die Höhe auf zwanzig Meter. Zwei der Hunde sahen nach oben, erschraken und begannen zu bellen. Sie liefen davon, die anderen ließen von den Leichen ab und folgten.
»Trümmerteile im Umkreis von zehn Metern, aber viel zu wenig für einen Copter«, merkte Kazumi an.
»Max, wo ist die Stelle genau?«
Er markierte die Absturzstelle. »Luftlinie eintausend Meter westlich des Bunkers. Mehrere Hochhäuser. Ein idealer Standpunkt für Scharfschützen …«
»… aber wo ist der Copter?«, fragte Kazumi.
»Weg, Kazumi. Und wir werden auch die anderen drei nicht finden. Sie haben, was sie wollten.« Atemgeräusche im Kopfhörer. Jemand trank ein Schluck Elektrolyt, räusperte sich. »Bleibt nur eine Frage …«, ich erhob mich und trat hinter Max. »Wieso warten sie mit nur drei Leuten auf unser Eintreffen? Ich würde mit mehr Gegnern rechnen und dementsprechend vorsorgen.«
Die Stille war unangenehm. Dann Aljonas Stimme im Ohr.
»Gegenfrage: Wieso sind sie nicht einfach weg? Copter eingesteckt und ab. Viel einfacher.«
Es gab nur eine logische Antwort. »Sie tun dasselbe wie mit Gruppe 25: Zeigen, was sie können. Es ist eine Falle. Holt die Drohnen zurück. Kazumi?«
»Ja?«
»Flieg deine Drohne über das Haus mit dem Störsender. Kano, du bringst deine über die beiden anderen Signaturen.« Ich ging aus dem Raum, hinaus in die Abenddämmerung. Kano und die anderen saßen im Kreis auf dem aufgebrochenen Betonvorplatz, die Holobrillen aufgesetzt. Ich bemerkte, wie der Schweiß an mir klebte und riss die Maske vom Kopf. Es war immer noch warm, windstill und wolkenlos. Die Luft roch schlecht. Nicht so wie auf dem Meer. Takuno fiel mir ein … und Jelena. Was mag da draußen wohl alles vorgefallen sein? Es drängte mich zum sofortigen Aufbruch. Meine Traumbilder durchstachen die Wand der Realität. Der Mann mit dem Messer näherte sich, gleich um die Ecke wartete er auf mein Versagen, darauf, dass ich die Angst nicht mehr kontrollieren konnte …
»Bin vor Ort«, teilte Kazumi mit.
»Ich auch«, bestätigte Kano.
»Was ist dein Plan, Chatrina?« Aljonas Stimme zog mich wieder aus dieser Zwischenwelt. Ich stand auf und ging zu Max ins Haus, stellte mich hinter ihn.
»Kazumi, lass deine Drohne runter, direkt neben die Person.«
»Bist du dir sicher?«
»Ich bin sicher. Aljona, wenn deine Drohne hier ist, tausch sie gegen Nachtsicht und platzier das Dinge neben Kanos Drohne.«
»Kein Problem, Chatrina …« Nung stellte sich neben mich. Wir beobachteten gespannt das Absinken von Kazumis Drohne. Die Person lag unter einem Tarnnetz. Nicht ungewöhnlich. Nur die Stiefel waren sichtbar.
»Wo ist die Waffe?«, fragte Nung. »Müsste nicht der Lauf einer Waffe vorne herausragen?« Niemand antwortete.
»Setz die Drohne vor den Kopf, Kazumi.« Das Bild veränderte sich langsam. Entlang des Tarnnetzes, über die Brüstung, der Stützrahmen des Tarnnetzes schwenkte herein, dann der Kopf selbst, im Halbdunkel nicht zu erkennen. Nur Umrisse.
»Lampe an, Kazumi.« Es wurde schlagartig grell und die Kamera regelte die Empfindlichkeit runter.
»Das ist …« Kazumi verstummte.
Ich erkannte das Gesicht. »Lehtonen …« Ein dunkel umrandetes Loch an der rechten Schläfe.
»Aber … die Wärmesignatur«, flüsterte Nung.
»Heizzellen. Standardausrüstung. Eine unter dem Körper, eine als Stütze für den Kopf. Auf die exakten Temperaturen eingestellt«, kommentierte Aljona. »Ich wette, das ganze Haus ist eine Sprengfalle. Wir gehen rein und das war’s für uns.« Ein Lichtblitz. Das Bild verschwand. Draußen wurde es kurz hell. Donner rollte über unsere Köpfe weg. Ich packte Nung, zog ihn an die Wand.
»Druckwelle kommt«, sagte Max. Ein Fauchen. Das Haus schüttelte sich. Es knirschte. Kleine Brocken und Staub rieselten von der Decke. Dann kehrte wieder Ruhe ein. Kanos Kamerabild zeigte ein Rauschen. Die Drohne wurde vom Himmel gefegt.
»Aljona, bring deine Kamera über die beiden anderen. Wir wollen sehen, wer das ist.«
»Schon auf dem Weg, Chatrina.« Sie umflog das Haus und näherte sich von vorne, bremste kurz vor dem Dach. Im grünlichen Licht der Nachtsichtkamera entdeckten wir zwei Köpfe. Khatri und noch eine zweite Person. Beide tot.
»Flieg unters Tarnnetz.« Als sie es erreichte, sahen wir wieder den Blitz und das Bild verschwand. Der Donner folgte, die zweite Druckwelle. Wieder Staub und Brocken. Ich setzte mich auf die Tischplatte und trank einen Schluck. »Max, was macht die Kommunikation?«
»Ich habe volle Signalstärke. Soll ich Zhang oder Takuno rufen?«
»Nein. Macht euch abmarschbereit.«

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